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Claus Baumann, Jan Müller et al. (Hrsg.): Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.06.2014

Cover Claus Baumann, Jan Müller et al. (Hrsg.): Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie ISBN 978-3-89691-954-0

Claus Baumann, Jan Müller, Ruwen Stricker (Hrsg.): Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2014. 350 Seiten. ISBN 978-3-89691-954-0. D: 36,90 EUR, A: 38,00 EUR, CH: 49,90 sFr.

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Sprache ist kein neutrales Instrument – Denken erst recht nicht!

Philosophie als „Überlebenswissenschaft“ (Jorge Semprún) und „Freiheitsdenken“ enthält immer auch, in der Absetzung zum „l´art pour l´art“, die Herausforderung zum kritischen Denken (vgl. dazu auch: www.socialnet.de/materialien/174.php). Philosophie als „kritische Theorie“ postuliert deshalb die Aufforderung, Denk- und Lebenshilfe zu leisten, Imponderabilien zu bedenken und Widersprüche aufzudecken, „weil die Widersprüche aus der Form unseres menschlichen Zusammenlebens resultieren“. Dabei geht es immer auch darum, sich bewusst zu machen, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt (Adorno). Die Rede ist von der „Praxisphilosophie“ und der „Tätigkeitstheorie“, die sich der Herausforderung stellen, „einen eigenen Horizont der Kritik hegemonialer Strömungen in der Wissenschaftstheorie, den Gesellschaftswissenschaften, der politischen Philosophie, der Sprachphilosophie und der Ästhetik, mit Blick auf den emanzipatorischen Gehalt dieser wissenschaftlichen und philosophischen Traditionsbestände (zu) eröffnen“.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Festschriften und Ehrengaben zu Lebensanlässen vermitteln nicht selten einen Beigeschmack von „Lobhudelei“ und „Lobpreisungen“. Der zu besprechende Sammelband ist zwar auch eine Festgabe, aber gleichzeitig eine Bestandsaufnahme und Präsentation des neueren Diskurses in der kritischen Philosophie. Anlass der Herausgabe ist der 60. Geburtstag des Marburger Philosophen Michael Weingarten. Weil Name manchmal als Glücksfall auch Programm ist, widmen SchülerInnen und KollegInnen dem 1954 Geborenem und seinem Wirken als Wissenschaftstheoretiker; Wissenschaftshistoriker, Biowissenschaftler, Hermeneutiker, Sozialphilosophen – und nicht zuletzt als zôon politikon – den Sammelband mit der Titelung im Vorwort: „Im Weingarten der Philosophie“.

Der Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart und an der Fakultät für Sozialwesen an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Claus Baumann, der Philosoph von der TU Darmstadt, Jan Müller, und Ruwen Stricker von der Universität Stuttgart, geben den Sammelband heraus. Diktum und damit Marker und Motiv der 18 AutorInnen, die am Sammelband mitschreiben, könnte der Anspruch sein, dass nur eine „Reflexion der wirklichen Praxis“ (Friedrich Engels) eine „Kritik an methodisch-individualistischen Ansätzen der Handlungstheorie und der Philosophie des Geistes mit der Kritik an gemeinschaftstheoretischen oder kollektivistischen Modellen der politischen Philosophie, der Rechtsphilosophie sowie der Ethik verknüpft und in den Horizont eines vernünftigen Verständnisses der gesellschaftlichen Reproduktion und ihrer Naturverhältnisse“ gestellt werden kann.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband wird in drei Kapitel gegliedert.

  1. Im ersten Teil geht es um „Lebensweise, Sprache, Wissenschaft“ als Koordinaten einer dialektischen Philosophie der Praxis.
  2. Das zweite Kapitel ist überschrieben mit: „Die politische Bewegungsform der Praxis“.
  3. Und im dritten Kapitel werden „unterscheidende Eingriffe“ im Sinne einer kritischen Reflexion vorgenommen.

Der Philosoph von der Deutschen Sporthochschule in Köln, Volker Schürmann, markiert in seinem Beitrag „Bürgerschaftlichkeit statt Intersubjektivität“ die (marxistische) Erkenntnis, dass man bei der Suche nach dem wirklich Sozialen nicht nicht ideologisch reden (und nachdenken) könne. Er plädiert dafür, im gesellschaftlichen Diskurs „das Soziale kategorial von dem Gesellschaftlichen zu unterscheiden (nicht zu trennen)“. Damit stellt er fest, dass „kategoriale Bestimmungen ( ), bezogen auf einen bestimmten empirischen Gehalt, nicht nicht sein (können)“; um es anders auszudrücken: „Wer der Vermutung des ‚praktisch wahr‘ Werdens der Kategorien eine Chance geben will – also der Vermutung, dass sich soziale Wesen historisch und kulturell qualitativ anders traktieren – der muss zwischen den gesellschaftstheoretischen Kategorien und den sozialtheoretischen Begriffen unterschieden haben“. Die gesellschaftskritische Konsequenz? Citoyen sein!

Der Stuttgarter Philosoph Andreas Luckner thematisiert mit den Metaphern „Mortalität, Natalität, Pluralität“ die fundamentalontologische Erschließung des Politischen bei Hannah Arendt. Dabei spürt er den Arendtschen Begriff der „Fundamentalontologie“ in ihren Schriften und Zeitläuften nach; und er kommt zu dem Ergebnis, dass die Philosophin, die sich selbst nicht so nennen und genannt werden wollte, sondern sich als politische Theoretikerin oder Denkerin sah, die radikalen, von der Denkströmung ausgehenden politischen Optionen mit der Darstellung der Endlichkeitsformen korrigiert, erweitert und damit als fundamentalontologisches Projekt gerettet hat: „Indem die Neulinge auf der Welt handelnd und sprechend in sie hineinwirken, bilden sie das Politische“.

Jan Müller stellt die Frage: „Was ist praktisch an ‚praktischen Sätzen‘?“ Seinen Reflexionen über das verbalisierende Denken liegt die These zugrunde, dass „der Gehalt und Sinn von Sätzen nicht ohne Bezug auf menschliche Praxis zu verstehen ist“, also mit der sprechakttheoretischen Deutung des Begründens und der Absicht immanent verbunden sind: „Es ergibt nur Sinn, von ‚Gründen‘ zu sprechen, wenn diese zugleich auch objektiv und ‚intern‘, d. h. als wesentlich gehabte Gründe verstanden werden“. Die Logik ergibt sich daraus: „Es geht darum, dass die Rede vom Sein und So-Sein … begrifflich bezogen bleibt auf die Wirklichkeit menschlichen Tätigseins“.

Malte Dreyer, Mag.Art., der an der Universität Marburg Philosophie der Literatur, Wissenschaftstheorie und Anthropologie lehrt, referiert in seinem Beitrag „Die narrative Konstruktion der Wirklichkeit“ über das Verhältnis des evokativen und erzählenden Sprechens. Am Beispiel der Erzählung „Der Hutmacher“, von Thomas Bernhard. Es ist die „hingestellte Realität“ (Georg Misch, 1994), die entweder ein Verstehen und einen Dialog ermöglicht oder nicht; und es ist die Erkenntnis, „dass wir über die Möglichkeit und das Gelingen der je eigenen Erzählung nie allein entscheiden“ (vgl. dazu auch: Werner Früh / Felix Frey, Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16883.php). Anzumerken bleibt, dass beim Layouten und Redigieren versäumt wurde, Malte Dreyer in die Liste der Autorinnen und Autoren (S.344ff) aufzunehmen!

Der Philosoph von der Universität Girona/Spanien, Jörg Zimmer, setzt sich in seinem Beitrag mit „Josef Königs Begriff der ästhetischen Wirkung als Ästhetikkonzept“ auseinander. Im philosophischen, theoretischen Denken und praktischen Tun erfährt die Ästhetische Theorie als Marker für ästhetische Erfahrung von jeher eine besondere Aufmerksamkeit. Wenn nun Zimmer bedauert, dass (scheinbar) diese Denkqualität, auch welchen Gründen auch immer abhanden gekommen ist, muss die Frage nach den Ursachen gestellt werden; zumindest aber ist es angebracht, sich auf die Suche nach dem Ästhetischen zu begeben. Im Werk des Göttinger Philosophen Josef König (1893 – 1974) wird er fündig. Mit dem Begriff der „ästhetischen Wirkung“ rekurriert er auf das aufregende und existentiell wirksame Phänomen, „wie Wirkliches in uns anwesend ist, in uns sich zum Sprechen bringt und derart sich Sein und Denken zusammenschließen“. Die Ausprägung dieser Erkenntnis fokussiert in der Forderung, dass Kunst Tätigkeit am Anderen zu sein habe, „also nicht reine Tätigkeit oder Spontanität (ist), sondern ein Tun, das sich unter gegenständlichen Bedingungen vollzieht, an die es als Tätigkeit gebunden ist“.

Mathias Gutmann, der an der Universität Karlsruhe Technikphilosophie lehrt, und der Karlsruher Wissenschaftliche Angestellte Tareq Syed reflektieren „Warum sich ‚Form‘ nicht sehen lässt“. Sie knüpfen an die Arbeiten von Weingarten zu biologietheoretischen und -historischen Überlegungen an und thematisieren den (biologischen) Form-Begriff, indem sie den wissenschaftlichen, philosophischen und ontologischen Diskurs nacherzählen. Es sind die seit der Antike formulierten Unterscheidungsmerkmale zu belebten und unbelebten Gegenständen (Aristoteles), die die Autoren veranlassen, nach konstruktivistischen Alternativen Ausschau zu halten und die „Entstehung der Form als modelltheoretisches Problem“ zu kennzeichnen. Dabei gelangen sie zu der aufregenden Erkenntnis, dass Dinge ihre Form nicht an sich haben, sondern „als Resultat der Reflexion der Gegenstandskonstitution … zu verstehen“ sind.

Das zweite Kapitel beginnt die Berliner Dozentin und Lektorin Alexandra Popp mit dem Beitrag „Die Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht – Wie Hannah Arendt zu ihrer berühmten These kam“. Diese, mittlerweile in unzähligen, unterschiedlichen Varianten nachgesprochene, ge- und verdrehte Analyse, macht es notwendig, an den ursprünglichen, aus den Arendtschen Arbeiten und Denkprozessen entstandenen Leitgedanken anzuknüpfen, originäre Anknüpfungspunkte zu identifizieren und Auslegungs- und Anwendungsperspektiven für das Hier und Heute zu finden. Die bis heute unbeantwortete Diktion, „ob Arbeit als die Tätigkeit angesehen wird, mit der Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen oder als die Tätigkeit, auf der eine Gesellschaft aufbaut“, bleibt als lebenswirkliche und gesellschaftspolitische Herausforderung, bei der uns der Arendtsche Arbeitsbegriff Motivation anbietet.

Ruwen Stricker und die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen, Kaja Tulatz, titeln ihren Beitrag mit der Verve „Immer Ärger mit der Multitude“. Sie weisen darauf hin, dass die im kapitalismus-kritischen Diskurs übliche Fingerzeig-Taktik, einzelne Personen oder Kollektivsubjekte für ökonomische Fehlentwicklung verantwortlich zu machen, der Marxschen Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse fremd sei. In den neomarxistischen Aufbruchstimmungen hat das Buch „Empire“ von Michael Hardt und Antonio Negri (2003) neue Richtungen in der Kapitalismuskritik aufgewiesen. Die Gegenwartsdiagnose, die Perspektiven für eine neue Weltordnung aufzeigt, wird mit der Begriffs-Trilogie „Empire, Multitude und Commonwealth“ charakterisiert. Stricker und Tulatz nehmen diese Wegweisungen auf und lesen sie kritisch gegen den Strich. Es ist insbesondere der Vorwurf, dass Hardt und Negri die Reflexionsbegriffe ontologisieren, während es notwendig sei, eine formanalytische Unterscheidung der Begriffe vorzunehmen.

Der Politikwissenschaftler von der Universität Siegen, David Salomon, testiert mit seinem Beitrag „Wahrzeichen und Hypothese“ dem Freund Weingarten: „Der Feind des Gesprächs ist ein Übermaß an Konsens“. Es sind Gedanken, die Salomon als Erinnerung an einen konsensuellen und konträren Diskurs über den demokratischen Antidemokratismus des französischen Philosophen Alain Badious. Seine Auseinandersetzungen mit den Badiou´schen Paradigmen und kompromisslosen Diktionen gelingt in dem Maße, wie die Manifestation, dass sich „Würde … erst im Licht einer Emanzipation behaupten kann, die nicht Zustandsbeschreibung, sondern Überschreitung ist“.

Der Stuttgarter Doktorand Daniel Hackbarth stellt mit seinem Beitrag „Bemerkungen zu der Entwicklung des Materialismus-Begriffs bei Louis Alhusser im Vergleich mit Max Horkheimer“ an. Das Werk des heute eher vergessenen französischen Philosophen und marxistischen Theoretikers Louis Althusser (1918 – 1990), das auf philosophische Denker wie Alain Badiou, Michel Foucault, Jacques Derrida, Maurice Godelier, Nicos Poulantzas, Jacques Rancière, Étienne Balibar und Bernard-Henri Lévy Einfluss ausübte und den philosophischen und lebensweltlichen Diskurs um den „Materialismus“ befeuerte. In der Rezeption und Nachfolgediskussion, z. B. bei Horkheimer, wird sein Konzept der „Autonomie der Theorie“ bestätigt, wie auch relativiert, aber nicht widerlegt.

Die Herausgabe des Sammelbandes wurde auch ermöglicht durch ein Sponsoring der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der Leiter des Regionalbüros Stuttgart, der Politikwissenschaftler Alexander Schlager, setzt sich mit den Fragen auseinander, wie „linkes Denken“ tickt und welche Ursachen auszumachen sind, weshalb im Demokratiediskurs die Zusammenhänge von freiheitlichem und sozialistischem Denken so wenig Relevanz zeigen. In seinem Beitrag „Zur Begründung und Begründbarkeit einer radikalen Demokratietheorie“ weist er darauf hin, „dass Demokratie und Sozialismus sich gegenseitig bedingen, dass Freiheit und Gleichheit in einem Verhältnis wechselseitiger Steigerung stehen“. Die derzeitigen, theoretischen Richtungsweisungen hin zu einem postfundamentalistischen Verständnis von radikaler Demokratie verdeutlichen zwar Perspektiven, die „linke Politik“ glaubhafter und durchsetzungsfähiger machen könnte; ihre Widersprüche und Unzulänglichkeiten jedoch führten eher zu einer Zersplitterung denn zu einer Bündelung der sozialistischen Kräfte. Er diskutiert „ein universalistisches Verständnis von radikaler Demokratie“, die „die demokratischen Verfahren und Institutionen begründungspflichtig und dadurch kritisierbar (macht), nicht die Individuen in ihrer demokratischen Praxis“.

Lisa Neher, die Politische Theorie an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. studiert, stellt in ihrem Beitrag „Antagonismus und Agon“ das Konzept der belgischen, an der University of Westminster in London lehrende Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und ihre kritische Aneignung des Denkens von Carl Schmitt vor. Als „Denkerin der politischen Differenz“ formuliert Chantal Mouffe die Notwendigkeit, zwischen „Politischem“ und „der Politik“ zu unterscheiden. Sie weist darauf hin, dass ein Verständnis von Politik und Demokratie, das auf Konsens und dem naiven Vertrauen auf eine friedliche und kosmopolitische Zukunft beruht, nicht dazu beitragen könne, demokratisches Denken und Handeln zu verwirklichen; vielmehr plädiert sie für „einen Stellungskrieg, der auf die politische Unterscheidung zwischen rechts und links nicht verzichten kann“. Lisa Neher gelangt durch den Vergleich mit Schmitts Positionen, seinem homogenen Gemeinschaftsverständnis und seinen Überlegungen zur Freund-Feind-Unterscheidung zu der Erkenntnis, dass die scheinbaren politischen Verwandtschaften von Mouffe und Schmitt sich eher als radikale Gegensätzlichkeiten erweisen.

Wenn, mit Hegel, sich „das Begreifen eines Etwas als zweckhaft erst ex post aus einer Erfahrung heraus einstellt, in welcher sich uns ein Tun als mehr oder weniger erfolgreich oder gescheitert darstellt, und zwar im Vergleich mit dem Tun Anderer“, stellt sich (vor allem) in der Technikphilosophie die Frage nach der „Eigendynamik der Technik“. Der Philosoph Christoph Hubig von der TU Darmstadt beginnt das dritte Kapitel mit den spannenden Fragen nach Sachzwang und Modellierung. Die Frage nach den „Tatbeständen“ wird virulent. Und damit auch die Kritik am (scheinbar naturgegebenen, unverzichtbaren und selbstverständlich) „logischen Machbaren“. Hubig bringt in seinem Beitrag einen „evolutionistischen Theoriebaukasten für die Technikphilosophie“ in den Diskurs: „Dasjenige, was die Prozesse unseres Gestaltens auf der jeweiligen Stufe indisponibel erscheinen lässt – als Antrieb, vorgefundene Mittel oder Selektion, die uns scheitern lässt –, kann relativ zu uns als Prozessieren einer Evolution modelliert werden“.

Claus Baumann macht mit seinem Beitrag „Recht und Unrecht“ Anmerkungen zu Walter Benjamins Studie „Zur Kritik der Gewalt“. Das üblicherweise praktizierte und akzeptierte Verständnis, dass als „Recht“ ein Verhältnis zwischen Handlungen oder Verhaltensweisen und einem geltenden Regelsystem verstanden wird, provoziert im theoretischen Denken wie in der Wirklichkeit Begründungsprobleme. Es sind nicht nur Fragen nach der Legitimität, sondern auch, worauf Hannah Arendt und Walter Benjamin eindringlich hingewiesen haben, dass Gewalt einen „instrumentellen Charakter hat“, und immer auch „Manifestation“ ist. Die Diskrepanzen – gleichzeitig als Anspruch zum Denken und als Herausforderung zu einem gerechten Leben – diskutiert Claus Baumann an unterschiedlichen Begründungszusammenhängen: „Während … Hans Filbinger sich im NS-Faschismus nicht nur einzurichten wusste, sondern sich 1940 freiwillig für den Vernichtungskrieg bei der Kriegsmarine meldete und zwischen 1943 und 1945 etliche Todesurteile fällte, wurde der exilierte Walter Benjamin auf der Flucht vor den deutschen Okkupanten und Schergen interniert und, an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, am 26. September 1940 in den Tod getrieben“.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie an der Universität Stuttgart, Ulrike Ramming, bezieht Stellung zu der Habermas´schen Position, dass die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eingeleitete „Dialektik der Aufklärung“ heute nur noch historisch lesbar sei. Die Rezeption des ab den 1960er Jahren bahnbrechenden, nach den aktuellen Forschungen im wesentlichen und überwiegend von Adorno verfassten Werks, verdeutlicht, dass die „Dialektik der Aufklärung“ in den zwei Phasen der Entstehung und Entwicklung gelesen werden muss: Dem Anfangsdiskurs, der bereits in den 1940er Jahren begann, und dem Spätwerk mit den ausdifferenzierten und ergänzten Theoriebildungen. Dabei zeigt sich die bereits bei Adorno grundgelegte Position, dass beim Denken „kein einfacher Ausgangspunkt einzunehmen sei“.

Die Stuttgarter Lehrbeauftragte Annette Ohme-Reinicke titelt ihren Beitrag mit „Ich weiß auch etwas“; es geht um „Motive männlicher Philosophen für die Gleichberechtigung der Geschlechter“. Ihre Spurensuche bei diesem heiklen, emanzipatorischen (feministischem?) Thema gründet die Autorin auf einen Mythos und auf eine Machtreflexion. Sie beginnt mit der aristotelischen Überzeugung, dass „das Männliche von Natur das Bessere, das Weibliche das Geringwertige, und das eine herrscht, das andere wird beherrscht“; und es zeigt sich bei ihrem Lauf durch die Geschichte des philosophischen (männlichen) Denkens, dass sich in den Grundpositionen wenig geändert hat. Zwar hat es immer wieder in der Philosophiegeschichte kritische Nachfragen nach dem scheinbar „Natürlichen“ gegeben; doch eine ernsthafte und wirksame Diskussion in der Geschlechterdebatte wurde erst wirksam, als der männliche Machtanspruch durch das „männliche Leiden“ (Pierre Bourdieu) konterkariert wurde: „Ohne die Problematisierung seiner eigenen Befürchtungen, so scheint es, bleibt der philosophierende Mann, zumindest was das Geschlechterverhältnis angeht, in seinen eigenen Affekten gefangen“.

Der Hamburger Gymnasiallehrer und Promovend Sebastian Schreull beschließt den Sammelband mit dem Beitrag „Ewige Wiederkehr des Lumpenintellektuellen“, indem er über das Verhältnis von Erbe, Parteilichkeit und Praxis nachdenkt. Die in Ansätzen autobiografisch daher kommende Reflexion über den „allgemeinen Geist“, die „Traditionen“ und das „Handgemenge“ ankern in der Überzeugung, dass Ererbtes, Überkommenes und Traditionalistisches im Sinne einer kritischen Theorie nur ist, indem es auf Anderes bezogen ist: „Das Erbe, der einer kritischen Theorie gerecht werden kann, muss den Traditionen kritischer Theorie als Lumpenintellektuelles gelten können“.

Dem Sammelband ist ein Verzeichnis der Schriften von Michael Weingarten beigefügt.

Fazit

Die Festschrift zum Geburtstag von Michael Weingarten hat sich zu einem Diskurs über die Imponderabilien praktischen, gesellschaftlichen, menschlichen Handelns entwickelt. Die differenzierten Grundpositionen ankern dabei in den Auffassungen, „dass Philosophie als kritische Theorie formbestimmt ist“; und zwar in der zweifachen, gleichberechtigten Bedeutung, „dass Beschreibungs- und Lösungsvorschläge einerseits plausibel, relevant und naheliegend scheinen… – und dass sie zugleich in Widersprüche sowie zu theoretischen Folgeproblemen führen können müssen“. Es ist eine eindeutige Absage an Pragmatismus und falsch verstandenem (allzu leicht genommenem) Kompromiss.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1667 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 24.06.2014 zu: Claus Baumann, Jan Müller, Ruwen Stricker (Hrsg.): Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2014. ISBN 978-3-89691-954-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16849.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.


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