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Christopher Germer, Ronald Siegel (Hrsg.): Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

Rezensiert von Dipl.-Psych. Tobias Eisenmann, 04.03.2015

Cover Christopher Germer, Ronald Siegel (Hrsg.): Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie ISBN 978-3-86781-069-2

Christopher Germer, Ronald Siegel (Hrsg.): Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Achtsame Wege zur Vertiefung der therapeutischen Praxis. Arbor Verlag (Freiburg) 2014. 599 Seiten. ISBN 978-3-86781-069-2. D: 49,90 EUR, A: 51,30 EUR, CH: 66,90 sFr.

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Thema

Bei der Durchsicht der neueren Therapieliteratur könnte man den Gedanken fassen, dass die Psychotherapie menschlicher wird, den basalen Grundbedürfnissen und Fähigkeiten des Menschseins näher kommt. Natürlich sind tiefergehende menschliche Berührungen seit jeher Gegenstand der therapeutischen Interaktion und mitnichten stellen Kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Ansätze, systemische Familientherapie und in besonderem Maße die Personzentrierte Gesprächspsychotherapie nebst etlichen anderen psychotherapeutischen Verfahren technokratische, steife und insbesondere unmenschliche Behandlungsmöglichkeiten dar. Dennoch ist es gerade neueren Ansätzen hoch anzurechnen, die Wichtigkeit der therapeutischen Beziehung stärker in den Fokus zu rücken. Sei es die Betonung eigener Erfahrungen mit emotionalem Schmerz, das disziplinierte Sich-Einbringen mit eigenen Sorgen und Wünschen, oder die couragierte Wertschätzung im direkten Kontakt. Ausgehend von der immer stärkeren Hinwendung zu achtsamkeitsbasierten Ansätzen und einer damit einhergehenden Beschäftigung mit fernöstlichen, hauptsächlich buddhistischen Philosophien und Betrachtunsgweisen geraten zunehmend Fähigkeiten, Kompetenzen, Geisteshaltungen und Grundbedürfnisse wie Sympathie, Empathie sowie von Mitgefühl und Weisheit in den Fokus der psychotherapeutischen und wissenschaftlichen Praxis. Auch wenn bereits erste systematisch evaluierte und implementierte Behandlungsansätze publiziert und verbreitet sind, stellt das Vorliegende Buch die erste umfangreiche Sammlung von Arbeiten zu den Themenbereichen Mitgefühl und Weisheit dar. Die Herausgeber versprechen darin nicht nur eine umfassende Erläuterung des Wesens beider Kompetenzen, darüber hinaus soll das Buch als Fundgrube für Therapeuten dienen, egal ob diese erfahren in achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Ansätzen sind, oder am Beginn der Auseinandersetzung stehen.

Herausgeber und AutorInnen

Christopher Germer gilt als Experte für Achtsamkeits- und Mitgefühlsbasierte Ansätze in der Psychotherapie. Er ist klinischer Psychologe in privater Praxis sowie Clinical Instructor an der Harvard Medical School. Als Gründungsmitglied des Institute for Meditation and Psychotherapy beschäftigt er sich wissenschaftlich mit dem Einsatz achtsamkeitsbasierter Verfahren in der empirischen Psychotherapie. Er hält internationale Vorträge und ist Autor und Herausgeber einer Vielzahl von Fach- und Sachbüchern.

Ronald Siegel ist Assistant Clinical Professor für Psychologie an der Harvard Medical School und praktiziert und lehrt seit langem Achtsamkeitsmeditationen. Seine Interessen liegen im Bereich der Integration von Geist und Körper in die psychotherapeutische Behandlung. Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten praktiziert er in freier psychotherapeutischer Praxis und publiziert Bücher zu den Themen Achtsamkeit und Psychotherapie.

Unterstützt werden die Herausgeber von insgesamt 32 international renommierten Experten auf den Gebieten Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl, so z.B. durch Tara Brach, Paul Gilbert, Marsha Linehan oder Kristin Neff.

Entstehungshintergrund

Das Buch begründet sich zum Einen auf der ungebrochenen Entdeckung und Anwendung von buddhistischen Prinzipien und Praktiken und insbesondere der Achtsamkeit in der westlichen Welt sowie deren Einbezug in traditionelle psychotherapeutische Behandlungen. Zum anderen geht der Entstehung eine Fachtagung an der Harvard Medical School zu den Themen Mitgefühl und Weisheit voraus. Das Buch ist als Ergebnis und Vertiefung dieser Tagung zu verstehen, ergänzt durch weitere, thematisch passende Beiträge.

Aufbau

Nach den Eröffnungskapiteln, die aus einem Vorwort (von seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama), einer Danksagung und einer hinführenden Einleitung bestehen, präsentieren sich dem Leser die folgenden fünf größeren Buchabschnitte:

  1. Was sind Weisheit und Mitgefühl? Warum sollten wir uns um sie kümmern?
  2. Die Bedeutung von Mitgefühl
  3. Die Bedeutung von Weisheit
  4. Therapeutische Anwendungen
  5. Bemerkungen zur therapeutischen Praxis

Abgerundet wird das Buch durch ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie durch Hinweise zu den Herausgebern und Autoren. Ein Stichwortverzeichnis ist nicht vorhanden.

Die einzelnen Kapitel folgen einer jeweils eigenen Logik, d.h. es ist keine übergreifende Struktur zu erkennen, nach denen die Kapitel aufgebaut worden wären. Je nach Inhalt sind zweifarbige Grafiken und Tabellen sowie (Achtsamkeits-)übungen enthalten. Letztere sind gesondert gekennzeichnet und können zum Einsatz in der Praxis kopiert werden.

Inhalt

In einer kurzen thematischen Einleitung weisen die Herausgeber auf verschiedene Schwierigkeiten hin, die mit dem Begriff der Achtsamkeit nach wie vor verbunden sind, stellen allerdings fest, dass mittlerweile ein gewisses Grundverständnis bei therapeutisch tätigen Personen vorhanden ist. Von der Achtsamkeit ausgehend, gelangen Germer und Siegel schnell zu den verwandten und thematisch naheliegenden Begriffen der Weisheit und des Mitgefühls. Auch diese scheinen zumindest auf den ersten Blick klar und verständlich, auf einen zweiten Blick mag dieses Verständnis jedoch eher oberflächlich sein. Im ersten Teil des Buches gehen die Autoren daher zentralen Fragen der Bedeutung von Weisheit und Mitgefühl in Ost und West nach und diskutieren erste Möglichkeiten einer praktischen Anwendung.

I. Was sind Weisheit und Mitgefühl? Warum sollten wir uns um sie kümmern?

Im ersten Kapitel setzen sich Germer und Siegel mit Weisheit und Mitgefühl auseinander, in dem sie beide Konstrukte als zwei Flügel eines Vogels beschreiben. Anhand eines Patientenbeispiels illustrieren sie den Einfluss, den Weisheit und Mitgefühl auf den psychotherapeutischen Prozess haben können. Zur inhaltlich-begrifflichen Klärung bedienen sich die Autoren wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Achtsamkeit, erläutern nahe Begriffe wie Empathie und Sympathie, Liebe, Mitleid, oder auch Altruismus und referieren biologische Grundlagen. Auch etymologische und geschichtliche Betrachtung finden einen Niederschlag. Über rein definitorische Aspekte hinaus gehen die Autoren auch der Frage nach, wie sich Weisheit und Mitgefühl umsetzen und kultivieren lassen.

Eine Möglichkeit zur Entwicklung von Weisheit und Mitgefühl sieht Tara Brach in der Achtsamen Präsenz, die sie im zweiten Kapitel erläutert. Mit eigenen Beispielen versehen, definiert auch Brach Achtsamkeit als Grundlage und Boden, die insbesondere in schwierigen Zeiten von besonderer Wichtigkeit ist. So zeigt Brach beispielhaft mehrere Schritte auf, die zu voller Achtsamkeit und damit zu liebevoller Präsenz führen können. Ziel ist das Vertrauen auf das Herz und die eigene Bewusstheit.

Ein ähnliches Thema, Leben mit Weisheit und Mitgefühl aufbauen, hat Barbara Fredrickson für ihr Kapitel gewählt. Darin beschäftigt sie sich primär mit dem Einfluss und der Rolle von positiven Emotionen. Diese sind nach Fredrickson wichtig für persönliches Wachstum und Resilienz, was sie anhand der von ihr aufgestellten Broaden-and-build-Theorie verdeutlicht. So führt sie zuerst in die Grundannahmen dieser Theorie ein, bevor Bezüge zu Weisheit und Mitgefühl hergestellt werden. Unterstützend gibt Fredrickson Übungsmöglichkeiten zur Entwicklung positiver Emotionen.

II. Die Bedeutung von Mitgefühl

John Makransky schreibt im vierten Kapitel über Mitgefühl in der buddhistischen Psychologie. Darin entspricht Mitgefühl einer Form der Empathie, in der das Leid von anderen Menschen wie das eigene gespürt wird. Gleichzeitig ist der Wunsch beinhaltet, dass die andere Person frei von Leid sein möge, ein Kerngedanke, der sich auch in therapeutischen Anwendungen wiederfindet. Kenntnisreich führt Makransky den Leser durch unterschiedliche Verwurzelungen des Mitgefühls in verschiedenen buddhistischen Traditionen und streift dabei inhaltlich naheliegende Facetten, so z.B. die vier unermesslich inneren Haltungen Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut des Theravada-Buddhismus.

Das nächste Kapitel, überschrieben mit Der mitfühlende Therapeut beginnt mit einer Anmerkung der Herausgeber, dass es auch für erfahrene Therapeuten mitunter sehr schwer ist, mitfühlend zu bleiben. Grundlage bildet eine reale Geschichte von Elissa Ely in der es vereinfacht um die abwärtsgerichtete Entwicklung eines Menschen geht, an deren Ende die Moral steht, dass Mitgefühl eine kostbare Gabe ist, die es auch unter widrigen Umständen nicht zu verlieren gilt.

Die Wissenschaft vom Selbstmitgefühl stellt Kristin Neff vor, indem sie den Kerngedanken von Mitgefühl wiederholt, um diesen in drei wichtige Aspekte – der achtsamen Wahrnehmung des emotionalen Schmerzes, einer damit einhergehenden freundlichen Haltung sich selbst gegenüber und der Bewusstmachung der Verbundenheit mit allen anderen Menschen – zu untergliedern. Außerdem liefert Neff wichtige Abgrenzungen zu Selbstmitleid, Selbstverwöhnung und dem Selbstwert und rekapituliert empirische Daten zur Wirkung des Trainings von Selbstmitgefühl, z.B. zur Steigerung des emotionalen Wohlbefindens.

Etwas direkter, als in den vorherigen Kapiteln geht Christopher Germer auf die Bedeutung von Mitgefühl in der Psychotherapie ein. Dabei geht es ihm um jene Faktoren, die nützlich und wirksam bei der Vermittlung von Mitgefühl im therapeutischen Prozess sind und wie Therapeuten dabei modellhaft wirken können. Neben etlichen Übungen und einer kurzen Einführung in die von Paul Gilbert entwickelte Compassion Focused Psychotherapy (CFT; s. Kapitel 18) gibt Germer eigene Erfahrungen wieder, diskutiert Einflussfaktoren auf eine mitfühlende Haltung während der Therapiegespräche weist auf den Umstand der Erschöpfung des Mitgefühls hin.

Richard Davidson diskutiert in seinem Beitrag Neurobiologische Grundlagen von Mitgefühl. Neben einer allgemeinen thematischen Einführung legt er den Fokus auf hirnphysiologische Prozesse und wie sich diese mit modernen bildgebenden Verfahren aufdecken lassen.

III. Die Bedeutung von Weisheit.

Analog zu den vorherigen Kapiteln gerät im dritten Abschnitt des Buches Weisheit in den Fokus. Andrew Olendzki begibt sich auf Spurensuche zur Weisheit in der buddhistischen Psychologie. Im Kern eher philosophisch ausgerichtet, dabei mit empirischen Erkenntnissen vernetzt, setzt der Autor bei Bewusstheit und subjektiver Erfahrung an, bevor er das Prinzip der Achtsamkeit als eine Möglichkeit der Hinwendung nach innen beschreibt. Einsichtsmeditationen können aus seiner Sicht dazu beitragen, Weisheit zu kultivieren. Dazu gehört u.a. eine Auseinandersetzung mit Aspekten der Vergänglichkeit und des Leidens.

Ausgehend von einer vorherigen Befragung erfahrener Psychotherapeuten, stellt Ronald Siegel die Frage, welche Kompetenzen und Eigenschaften der weise Psychotherapeut aufweist. In einer Annäherung diskutiert er die Bedeutung unterschiedlicher Konzepte, so z.B. von Intelligenz, Empathie, Einsicht, die aus seiner Sicht eine deutliche Überschneidung oder Ähnlichkeit mit Weisheit ausmachen. Dabei bedient er sich vor allem seiner praktischen Erfahrung, aber auch der Erkenntnisse buddhistischer Philosophien und westlicher Forschung.

Mit einer empirischen Sichtweise beschreibt Robert Sternberg anschließend die Wissenschaft von der Weisheit. Hier geht es primär um die Natur der Weisheit, u.a. als Fähigkeit, richtige und gerechte Urteile zu fällen, aber auch als Wissen um innere Qualitäten und Beziehungen. Auch die persönliche Weisheit bedeutender Persönlichkeiten steht im Mittelpunkt des Kapitels und inwiefern persönliche Weisheit als ein Ziel von Psychotherapie beschrieben werden kann. Sternberg stellt vor allem verschiedene kognitive Fehlschlüsse vor. So stellen z.B. unrealistischer Optimismus oder eingebildete Unverletzlichkeit solche Fehlschlüsse dar, die der Weisheit entgegenwirken und im Rahmen einer Psychotherapie bearbeitet werden können.

Mit dem Zitat „Leben bedeutet in Beziehung sein.“ von Vimala Thakar eröffnen Janet Surrey und Judith Jordan ihr Kapitel zu Weisheit in Beziehung. Ausgangspunkt sind Forschungsergebnisse, die den Einfluss des Selbst (z.B. im Sinne des Selbstkonzepts) auf Prozesse des Leidens bis hin zur Ausbildung psychischer Störungen untersuchen. Eine Überbetonung des Selbst gilt als entsprechend relevant für irrationale eigene Ansprüche und zum Scheitern verurteilte Erwartungen. Surrey und Jordan möchten in ihrem Beitrag einen alternativen psychotherapeutischen Rahmen vorstellen, indem Bezogenheit, Verbundenheit und Beziehung im Mittelpunkt stehen. Dabei gehen sie besonders auf neurobiologische Grundlagen von Beziehung ein, diskutieren den Stellenwert der Beziehung in buddhistischen Ansätzen und stellen letztlich die relational-kulturelle Therapie (RCT) vor, in der die Wichtigkeit des Umgangs mit Getrenntsein und falscher Autonomie betont wird. Grundlegend ist der Gedanke, dass sich Menschen zeit ihres Lebens in Beziehungen befinden und gerade in westlich geprägten Kulturen gegensätzliche Gebote und Normen vorherrschen, die auf besondere Art Autonomie betonen.

Selbst und Nicht-Selbst in der Psychotherapie ist die Überschrift des Beitrags von Jack Engler und Paul Fulton. Mit Bezug auf die buddhistische Psychologie schärfen beide Autoren zu Beginn den Begriff des Selbst und besonders des Nicht-Selbst als fundamentale Realität. Hauptsächlich geht es jedoch um die Einordnung in die therapeutische Praxis. Ausgehend von einem Kontinuum, an dessen einen Ende das Nicht-Selbst steht, werden am anderen Ende narzisstische Störungen postuliert. Im Rückgriff auf vor allem objektbeziehungstheoretische Konzepte erläutern Engler und Fulton die Entwicklung von Egozentrik hin zum Nicht-Selbst und beschreiben therapeutische Möglichkeiten und Übungen des darauf einwirkenden Internal family systems (IFS).

Ähnlich wie in Kapitel 8 liefern Thomas Meeks, Rael Cahn und Dilip Jeste neurobiologische Grundlagen von Weisheit. Dabei unterteilen sie Weisheit in sechs Subkomponenten und referieren, zuweilen bildlich unterstützt, zentrale Hirnareale und hirnphysiologische Vorgänge. Im letzten Abschnitt geschieht außerdem eine Verknüpfung zu aktuellen Ansätzen in der Psychotherapie, z.B. der interpersonellen Therapie (IPT).

IV. Therapeutische Anwendungen

Im vorletzten, vierten Abschnitt werden konkrete therapeutische Interventionen und Anwendungen vorgestellt. Marsha Linehan und Anita Lungu schreiben zum Thema Mitgefühl, Weisheit und suizidale Klienten. Dabei werden immer wieder theoretische und praktische Brücken zur Dialektisch-behavioralen Therapie geschlagen und die Bedeutung von radikaler Akzeptanz hervorgehoben. Im nachfolgenden Kapitel beschäftigen sich Alan Marlatt, Sarah Bowen und Kathleen Lustyk mit Drogenabhängigkeit und Rückfallprävention. Neben einer kurzen historischen Hinführung wird vor allem die achtsamkeitsbasierte Behandlung von Suchtstörungen vorgestellt, die z.B. auf dem Erlernen des Surfens auf dem Suchtdruck beruht. Die Behandlung von Angststörungen durch Akzeptanz, Mitgefühl und Weisheit ist der Gegenstand der Arbeit von Lizabeth Roemer und Susan Orsillo. Hier geht es vor allem um die Vermeidung innerer Erfahrungen und damit einhergehenden verhaltensbezogenen Einschränkungen. Achtsamkeitsübungen werden als Mittel zur Erhöhung der Selbstbeobachtung vorgestellt sowie als Ausgangspunkt, um eigene Erfahrungen integrieren und akzeptieren zu können. Einen gut evaluierten mitgefühlsbasierten Behandlungsansatz für Depression stellt Paul Gilbert vor. Gemäß der CFT spielen unterschiedliche Emotionsregulationssysteme eine wichtige Rolle sowie der Befund, dass depressive Personen häufig in selbstkritischer Art und Weise mit sich umgehen. Die Kultivierung von Selbst-Mitgefühl wird als darauf ausgerichtete Intervention gewürdigt. Auch in der Arbeit mit Trauma kann Mitgefühl sehr wirksam sein, wie John Briere berichtet. Er beschreibt, wie Mitgefühl und Weisheit dazu beitragen können, traumatisierte Menschen professionell zu begleiten. Im abschließenden Kapitel zeigen Richard und Antra Borofsky anhand von Beispieltherapien auf, wie Paartherapeuten Menschen dabei helfen können, Verletzungen anzusprechen und das Geben und Empfangen von Gefühlen kultivieren können. Sie beschreiben das Herz der Paartherapie.

V. Bemerkungen zur therapeutischen Praxis

Im letzten Buchteil sind drei Kapitel zu Themen enthalten, die den vorherigen Teilen nicht zugeordnet werden konnten. Trudy Goodman, Susan Kaiser Greenland und Ronald Siegel empfehlen eine achtsame Kindererziehung als ein Weg zu Weisheit und Mitgefühl auf. Kenneth Pargament und Caroll Ann Faigin beschreiben Quellen der Weisheit religiöser Traditionen in der Psychotherapie und Stephanie Morgan summiert die Erkenntnisse des Buches zu Mitgefühl und Weisheit und deren Bedeutung für eine moralische Entwicklung und daraus entstehender Wachstumsprozesse.

Das Buch schließt mit einem ausführlichen Literatur- und Autorenverzeichnis.

Diskussion

Therapieliteratur kann gleichermaßen trocken oder spannend sein. Einen wichtigen Einfluss darauf hat sicherlich der Inhalt. Handelt es sich um ein Grundlagenbuch zu bestimmten psychischen Störungen? Geht es um die praktische Veranschaulichung von therapeutischen Interventionen? Oder gilt es, neue Erkenntnisse auf ansprechende Art und Weise zu vermitteln? Letztlich ist der vorliegende Band eine gelungene Mischung aus allem und erreicht dabei so manches mehr. Natürlich ist vor allem Mitgefühl eine Qualität, ohne die eine therapeutische Begegnung nicht denkbar wäre. Umso erstaunlicher ist es daher, dass Mitgefühl bisher nur wenig Beachtung gefunden hat und erst in den letzten Jahren systematisch in Form von therapeutischen Angeboten und Trainings (weiter-)entwickelt wurde. Auch Weisheit als schwer zu fassende Kompetenz hat bisher jenseits der akademischen Psychologie (man denke an die wertvollen Forschungen von Paul Baltes und Ursula Staudinger) nur wenig Widerhall gefunden. Den Herausgebern des Bandes ist daher zu danken, sich auf äußert um- und weitsichtige Weise beider Themen anzunähern. Herausgekommen ist dabei ein Buch, dessen Wirkung nur schwer zu erfassen und zu beschreiben ist, vor allem, da es stark mit der Auseinandersetzung des Lesers zusammenhängt. Natürlich entsteht über die Kapitel hinweg ein tiefes Verständnis von Mitgefühl und Weisheit. (Nicht über-)Fordernd sind dabei vor allem die Ausflüge in fernöstliche Betrachtungsweisen und deren Verknüpfung mit empirischen Forschungsergebnissen. Als Leser, und gerade das macht eine der Wirkungen aus, weiß man jederzeit um die Bedeutung dessen, was gerade thematisiert wird, auch wenn man sich mit bestimmten Sichtweisen und Hintergründen bisher nicht konfrontiert sah. So wecken jene kulturgeschichtlichen und spirituellen Abschnitte das Interesse, ohne dabei aus den Augen zu lassen, dass Mitgefühl und Weisheit auch ohne spirituell-religiösen Unterbau funktionieren können. Neben bekannteren psychologisch-therapeutischen Erkenntnissen erhält man so einen spannenden wie lehrreichen Einblick in ein reiches und umfassendes Kulturgut, aus dem sich vieles speist, was in westlichen Psychotherapien immer mehr zum Standard zählt.

Den Herausgebern ist es hoch anzurechnen, für eine stringente, sinnvolle Struktur des Buches zu sorgen, ohne dabei in die Freiheiten der einzelnen Autoren einzugreifen. So macht es durchaus Sinn, Mitgefühl und Weisheit als zwei miteinander verflochtene Konzepte jeweils getrennt zu behandeln, um sie dann im Abschnitt zur therapeutischen Anwendung wieder zusammenzuführen. Gleichwohl ist es nicht möglich, sich nur für „einen Flügel des Vogels“ zu entscheiden, da – um im Bild zu bleiben – der Vogel damit nicht fliegen könnte. Entsprechend ist es möglich, je nach Interesse, einzelne Kapitel herauszugreifen, allerdings käme dies dem Befahren einer Abkürzung gleich, auf der man ein größeres Panorama verpasst. Sämtliche Kapitel sind verständlich, ohne dabei oberflächlich zu sein. Ohne Ausnahmen beinhaltet jedes Kapitel praktische Übungen, oder zumindest anschauliche, nutzbare Hintergrundinformationen. So ruft das Buch über das Lesen hinaus auch zum damit Arbeiten und einem wirklichen Befassen mit den Inhalten auf. Dabei kann der Leser auf anschauliche Weise selbst erfahren, welche Bedeutung dem Mitgefühl im eigenen Leben zukommt und welche Übungen sich für den Einsatz in der eigenen Praxis anbieten. Damit gelingt dem Buch die Verzahnung von Theorie und Praxis in höchstem Maße eindrucksvoll und nachhaltig. Schon während des Lesens habe ich damit begonnen, Fähnchen und Reiter in das Buch einzukleben, um damit besondere Stellen zu kennzeichnen. Mittlerweile gleicht es einem immer wieder zu Rate gezogenen Lexikon, nur mit dem Unterschied, dass hier praktische Hilfestellungen und Ideen markiert worden sind. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass das Buch zu mehr taugt, als zu einem reinen Lesebuch. Es ist ein in höchstem Maße anspruchsvolles, anwendbares und bereicherndes Arbeitsbuch ohne Schwächen, das nicht nur Psychotherapeuten, sondern allen an der Materie interessierten Menschen (Sozialpädagogen; Menschen in Lehrberufen; Eltern) empfohlen werden kann. Nicht nur die therapeutische Praxis kann durch die Lektüre bereichert werden, auch für eine vermehrte Selbstzuwendung werden wichtige Impulse gegeben.

Fazit

Das Buch ist ein äußerst vielschichtiges, wichtiges Buch, das neben einem Fokus auf Mitgefühl und Weisheit mehr bereit hält. Die hohe Praxistauglichkeit, die übersichtliche und immer verständliche Darstellung empirischer wie philosophisch-spiritueller Grundlagen und die sämtlichen Kapiteln innewohnende Menschlichkeit sorgen gleichermaßen für spannenden Lesestoff und tiefergehende Berührung. Nicht zuletzt aufgrund der unzähligen Übungen und Handlungsanweisungen vermag das Buch tatsächlich zu einer wertvollen Vertiefung der (achtsamkeits-)therapeutischen Praxis beizutragen. Grundlegende Kompetenzen finden in diesem Buch ihre höchstwillkommene und qualitativ hochwertige Rezeption.

Rezension von
Dipl.-Psych. Tobias Eisenmann
Psychologischer Psychotherapeut (VT);Dipl.-Soz.päd.
Ehem. Wissenschaftlicher Mitarbeiter - Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik, Universität Erlangen-Nürnberg
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Es gibt 52 Rezensionen von Tobias Eisenmann.

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Zitiervorschlag
Tobias Eisenmann. Rezension vom 04.03.2015 zu: Christopher Germer, Ronald Siegel (Hrsg.): Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Achtsame Wege zur Vertiefung der therapeutischen Praxis. Arbor Verlag (Freiburg) 2014. ISBN 978-3-86781-069-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16855.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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