Leben in Nischen
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Grundl, 20.02.2015

Leben in Nischen.
Paranus Verlag
(Neumünster) 2014.
200 Seiten.
ISBN 978-3-940636-29-4.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR,
CH: 25,90 sFr.
Reihe: Brückenschlag. Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst - 30/2014.
Leben in Nischen?
Das Leben, je mehr es ein Überleben ist, kann auf Nischen angewiesen sein. Nur der Ratte und dem Menschen ist es gelungen, ubiquitär auf dem Planeten Erde Fuß zu fassen. Dereinst werden auch diese beiden Säugetierarten – weitab von allen Diskussionen um einen vorgeblichen Klimawandel – von dort verschwunden sein. Mikroorganismen werden sie verdrängt haben – und umso mehr ihr Heil im Überleben in Nischen suchen müssen.
Mit Krankheit werden die Nischen kleiner – im Extremfall zu einer „Matratzengruft“. Denk“ ich an Deutschland – so denk“ ich auch an eine Nische. Möchte niemand wissen, was diese Nische ausmacht. Die Weigerung, die Nische zu definieren, mag weit verbreitet sein. Ein Symptom des nahen Untergangs? – Also denken wir doch lieber nach über Nischen und Geistes-Krankheit in Deutschland.
Aufbau und Inhalt
„Wer also die Nische nutzt, um auf dem Gesamtmarkt, im Mainstream zu prosperieren, verliert an Freiheit und gerät unter Zwang.“ - Möglicherweise ist das so – solange man gesund ist – und kein Automobilhersteller: deren Strategie in den vergangenen Jahrzehnten war die Schaffung einer möglichst großen Zahl von „Nischenprodukten„: das Leben im Auto ist – so oder so - ein Leben in Nischen: und wer das zu spät verstanden hat, ist tot (hat – wie alle Sportwagenhersteller – seine Selbständigkeit verloren).
Neben der „Ego-Nische“, die sich im Zuge der als „Individualisierung“ beschriebener Prozesse zunehmender Beliebtheit erfreut (und automobilistisch seinen Ausdruck u. a. in einer unübersehbaren Zahl an Accessoires bis hin zur „Signierung“ mit den Initialbuchstaben des steuernden Individuums findet), stellen uns die Autoren die „öffentliche“ (der Gefahr der Ausgrenzung – „Diskriminierung“!! – entgegen gerichteten), die „inkludierte“ (nichts darf ausgegrenzt, diskriminiert werden: alle Schüler sollen das Gymnasium besuchen, selbst wenn sie schwachsinnig sein sollten!) und übergreifend die „Nische als Möglichkeitsraum“ vor.
Die dem Ansatz inne wohnende Widersprüchlichkeit (wirklich nur „in der spätmodernen Gesellschaft“?, S 20) bemerken die Autoren sehr wohl. Mit der Gleichsetzung (? Aneinanderreihung) der Fluchten in Nischen wie „Drogen, psychische Erkrankung und Subkultur“ (S 17) naht doch die Gefahr, das Leben auf Königsthronen, Gefängniszellen und dem klammernden Griff Schiffbrüchiger im Wirbelsturm nach einem Stück Treibholz nicht mehr auseinanderhalten zu können. Oder zu wollen? Wer kann in eine schizophrene oder manische Psychose fliehen? Und wer kann das wollen?
Wir wenden uns also der Krankheit zu: Andreas Manteufels Beitrag tut dies zunächst im Blick auf eine psychiatrische Klinik. Verweise auf Stigmatisierung, Exklusion und Nationalsozialismus dürfen da nicht fehlen.
Ebenso wenig der Blick auf den vermeintlichen (?) „Schonraum“ Psychiatrische Klinik aus der Sicht einer „Psychiatrie-Erfahrenen“ (Sybille Prins). Die Klinik wird dabei allzu oft zur „Bremse“ für gute Ideen und die Pläne Psychiatrie-Betroffener (S 29). Wer keine Krankheiten (an-)erkennt, der muss an der Zweckmäßigkeit von Krankenhäusern (Kliniken) (ver-)zweifeln. Da treffen sich die Einschätzungen von Psychiatrie-Erfahrenen mit vielen Menschen in Sierra Leone, Liberia etc.: Ebola ist keine (Infektions-) Krankheit, und Quarantäne-Stationen keine Schutzräume sondern Gefängnisse. Freiheit ist dagegen das Gebot der Stunde – und zwar meine Freiheit. War das nicht die Ausgangsthese, aus der heraus sich die Tendenzen entwickelt haben, die im Obigen schon einmal kurz als „Individualismus“ gestreift worden waren?
Diesem Einwand trägt der Beitrag von Dr. med. Arnhild Köpcke (Psychiatrie-Erfahrene und Medizinerin) Rechnung, deren Forderung nach einer „Gleichstellung (der Geisteskranken, d. Ref.) mit körperlich Erkrankten“ (S 33) tatsächlich ein Gebot der Stunde - die seit Jahrhunderten andauert – darstellt. Das Defizit der Psychiatrie ist ihr fehlendes Wissen!
Nicht zuletzt die Psychopharmaka haben einen Weg aus der Klinik heraus ermöglicht. Wer wüsste das besser als Luc Ciompi, der langjährige Leiter der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern und Begründer der Therapeutischen Wohngemeinschaft Soteria in Bern. Ob schizophrene Psychosen jedoch mit Träumen verglichen werden können? (S36) Liegt zwischen Tagträumen und den Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis nicht noch mehr als das Krankhafte?
Sodann fragt Dr. Doortje Kal, könnte Xenophobie eine Krankheit sein. Sind also die Gesunden gastfreundlich? Gibt es da eine Grenze? Darf überhaupt eine Grenze bestehen? Gibt es ergo eine Grenze der Inklusion (s. ob., S 49)? Deren Befürworter verweigern weithin eine Antwort auf die Frage: weil es keine Grenzen geben darf und weil man Fragen danach nicht stellen sollte. Denn alleine Fragen kann ausgrenzen, diskriminieren. Es gibt zumindest eine Grenze, die beim Fragen nicht übertreten werden darf.
Das Feld ist abgesteckt – es folgen viele weitere Schlaglichter - fragmentarisch, oszillierend, kreativ bis irrlichternd, leise bis unüberhörbar, nichts- und vielsagend: Ein Kaleidoskop psychischer (psychopathologischer?) Phänomenologie (im Sinne Karl Jaspers) - unpräzise-schillernd aber stets (politisch) korrekt. Unweigerlich die Hinwendung des Suchscheinwerfers der Autorenschaft auf die Inhumanität der Leistungsgesellschaft (Mensch statt Leistung / Dr. Michael Herrmann, S 118 ff.), die Notwendigkeit ökologischer Lebensorientierung (Katja Marzahn, S 113 ff) und öffentlicher Akzeptanz von künstlerischen Außenseitern (Dr. med. Turhan Demirel, S 149 ff.).
Fazit
Mit dem vorliegenden Sammelband ist den Herausgebern und Autoren erneut gelungen, Bruchstücke eines Mosaiks vorzulegen, das bislang kein geschlossenes Bild vermittelt. Die Wissensdefizite der Neurowissenschaften im Allgemeinen und der Psychiatrie im Besonderen ermöglichen die Flucht ins Bildhafte, Malerische und Phantatische. Das damit spätestens auch zur Realität wird – einer „eigenen“ neben „der anderen“? Puzzlestücke (S. Peters, S 158 ff.) eben, unentbehrlich, unvollständig – in der Reihe des Paranus Verlags in schon bestbekannter Einzigartigkeit komponiert: als Kunstwerk unverzichtbar!
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Grundl
Hochschule Niederrhein, Fachbereich Sozialwesen
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