Kersten Reich: Inklusive Didaktik
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 07.07.2014

Kersten Reich: Inklusive Didaktik. Bausteine für eine inklusive Schule.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2014.
392 Seiten.
ISBN 978-3-407-25710-9.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 40,10 sFr.
Reihe: Pädagogik.
Thema
Kersten Reich entwickelt in diesem Buch die Leitlinien einer inklusiven Schulentwicklung und eines gemeinsamen Unterrichts. Auf Grundlage der Inklusionsstandards richtet es sich an alle Lernenden, Lehrenden und Lehramtstudierende, die sich ein fundiertes Bild über Inklusion machen wollen. Es eignet sich aber für Personen, die vertiefend am Thema interessiert sind. Eine inklusive Didaktik reicht vom Kindergarten über die Primarstufe bis in die Sekundarstufen I und II und in hochschuldidaktische Konzepte.
Autor
Kersten Reich (Jg. 1948) ist ein deutscher Pädagoge und Professor für Internationale Lehr- und Lernforschung am Institut für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität Köln. Er ist durch seine konstruktivistischen Theorien in den Bereichen Didaktik und Pädagogik bekannt.
Entstehungshintergrund
Kersten Reich gibt das Buch gemeinsam mit der Montag Stiftung beim Beltz Verlag in der Reihe „Inklusive Didaktik“ heraus.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat 392 Seiten. Darin findet man acht Kapitel und 50 Schaubilder sowie einen Link zur dazu gehörigen Internetseite, die Ergänzungen bereit hält.
- Voraussetzungen und Standards einer inklusiven Schule
- Eine Schule macht sich auf den Weg: erste Schritte
- Inklusive Didaktik ist konstruktive Didaktik
- Bausteine einer inklusiven Didaktik
- Methoden der inklusiven Didaktik
- Unterrichtsplanung in der inklusiven Didaktik
- Unterrichtsqualität in der inklusiven Didaktik
- Sisyphos und die Grenzen der Inklusion?
Das erste Kapitel beschreibt Voraussetzungen und Standards einer inklusiven Schule. Es gibt zahlreiche Mythen, die es zu überwinden gilt. Demokratie und Inklusion bedingen sich einander (Inklusion und Familie, Inklusion und Kommune). Reich arbeitet heraus, dass es auf die Haltung ankommt. Das Kapitel schließt mit Standards und Verpflichtungen der Inklusion ab.
Das zweite Kapitel trägt den Titel “Eine Schule macht sich auf den Weg: erste Schritte“. Erläutert wird, wie man von außen erkennt, das eine Schule inklusiv ist oder nicht. Angerissen werden Erklärungen zur Arbeit mit dem Index für Inklusion, zur Arbeit mit dem kommunalen Index für Inklusion und zur Arbeit mit den Verpflichtungen und Standards von Inklusion.
Das dritte Kapitel trägt den Titel Inklusive Didaktik ist konstruktive Didaktik. Im englischen Sprachgebrauch werden die Begriffe Lernen, Unterrichten und Erziehen genutzt, die dem deutschen Begriff Didaktik vorzuziehen sind. In diesem Kapitel erläutert Reich eindrücklich, dass eine allgemeine Didaktik, wie sie in der Lehramtsausbildung gelehrt wird, als Begründungstheorie viel zu kurz greift. „Einer solchen Argumentation stehen Theorien und Praktiken aus bereits erfolgreichen inklusiven Schulsystemen deutlich entgegen.“ (S. 51). Er benennt „drei wichtige Argumente dafür, eine inklusive Didaktik anstelle einer wie bisher üblich allgemeine Didaktik oder – wie es in Deutschland üblich geworden ist – didaktische Stückwerkstechnologien zu entwickeln: (1) Inklusion ist ein komplexer Prozess, der nur in einer Verzahnung von Maßnahmen in der Schule und im Unterricht hinreichend gelingen kann. Hierbei müssen Prozesse der Schulentwicklung und didaktische Prozesse grundlegend miteinander verzahnt werden…“. „(2) Bisherige didaktische Ansätze enthalten zwar wichtige Elemente, die auch bei Inklusion gelten, aber die neuen umfassenden Standards der Inklusion zwingen dazu, das notwendige Feld theoretischer Begründungen und praktischer Ausarbeitungen deutlich weiter zu erfassen als herkömmliche didaktische Ansätze das vermögen.“ „(3) …Inklusive Didaktik muss neuen inklusiven Fachdidaktiken helfen, eine ganzheitliche Sicht wahrzunehmen und hinreichend Vorkehrungen und Grundsätze zur Verfügung zu stellen, die dann in der fachlichen Umsetzung beachtet und fortgeführt werden.“ (S.51).
Im vierten Kapitel werden Bausteine einer inklusiven Didaktik vorgestellt. Es sind dies 1. Beziehungen und Teams, 2. Eine demokratische und chancengerechte Schule, die sich mit Themen wie Heterogenität, Geschlechtergerechtigkeit, Migration und Mehrsprachigkeit und Mobbing und Homophobie beschäftigt. Zu diesem Punkt gehört auch die Elternmitarbeit. 3. Eine qualifizierende Schule, 4. Ganztag mit Rhythmisierung, 5. Förderliche Lernumgebung. 6. Lernende mit Förderbedarf, 7. Differenzierte Beurteilung, 8. Eine geeignete Schularchitektur, 9. Eine Schule in der Lebenswelt und 10. Beratung, Supervision und Evaluation.
Das fünfte Kapitel Methoden der inklusiven Didaktik schließt die Arbeit in Lernkontexten und Methoden der Vielfalt (Methodenpool) ein.
Im sechsten Kapitel Unterrichtsplanung in der inklusiven Didaktik geht es um elementare Planungen bei Instruktion und Konstruktion, um die inklusive Planung einer Lernlandschaft, um eine ganzheitliche Planung bei handlungsorientierten Themenlinien und Projekten, der Werkstatt- und fachübergreifende Planung und der inklusive Planungen im Zusammenhang.
Das siebte Kapitel Unterrichtsqualität in der inklusiven Didaktik stellt drei Fragen.1.Was beobachten wir, um uns zu verbessern? 2. Was tun wir bei ungünstigen Ergebnissen und wie verändert sich die Ausbildung der Lehrer/innen?
Das Buch schließt mit dem achten Kapitel Sisyphos und die Grenzen der Inklusion, dem Verzeichnis der Schaubilder und einem umfangreichen Literaturverzeichnis.
Diskussion
Auf 392 Seiten findet man 8 Kapitel und 50 Schaubilder, die am Ende des Buches aufgelistet sind. Die Kapitel sind gut strukturiert, es gibt zahlreiche Zwischenüberschriften, Einschübe und Aufzählungen. In der oberen Ecke jeder Seite ist die Kapitelüberschrift abgedruckt, was die Orientierung erleichtert.
Was im internationalen Vergleich schon Alltag ist beginnt sich in Deutschland langsam zu entwickeln, begleitet von Widerständen und zähen Diskussionen. Wir haben in Deutschland kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit, das auszublenden scheint, dass Inklusion ein grundlegendes Menschenrecht ist. Leider werden anstehende Entwicklungen z.B. in der Schulentwicklung nicht beherzt angepackt. Natürlich gibt es in Deutschland schon zahlreiche Schulen, in denen Integration kein Fremdwort mehr ist, aber Inklusion geht viel weiter. In der öffentlichen Diskussion hat es zudem den Anschein, es gehe nur vornehmlich um Kinder mit Behinderungen. Das ist viel zu kurz gegriffen. Es geht darum, eine Schule zu gestalten, deren Merkmale Chancengleichheit und Demokratie sind und Heterogenität, Geschlechtergerechtigkeit, sexuelle Orientierung, Migration und Mehrsprachigkeit einschließen. Alle diese Themen hat Reich in dem hier vorgelegten Buch bearbeitet. Bemerkenswert ist, dass schon allein die Kapitelüberschriften und die Titel der Unterkapitel seine Haltung und Perspektive deutlich machen: es geht ums Gelingen einer inklusiven Schulentwicklung!
Reich ist derjenige, der für konstruktivistische Theorien in den Bereichen Didaktik und Pädagogik bekannt ist. Der Autor vertritt ein systemisches Verständnis von Schule und Unterricht. Es geht nicht um einen Methodenwechsel beim Unterrichten, ein inklusives Handeln braucht strukturelle Voraussetzungen, die nur im Zusammenhang mit der Schulentwicklung insgesamt einhergehen. Eine inklusive Schule ist eine Teamschule. Den Kern des Buches bildet auf 260 Seiten das 4. Kapitel, in dem Reich 10 Bausteine benennt. Der Terminus „Bausteine“ unterstreicht, dass mit ihnen das Fundament einer inklusiven Schule gelegt wird. Bemerkenswert sind die zahlreichen Schaubilder, die im Buch zu finden sind. Ich greife einfach mal zufällig einige Schaubilder heraus: Schaubild 6 ergänzt die konstruktivistische Didaktik um die inklusive Didaktik, das Schaubild 22 macht deutlich, welche Wirkmechanismen auf Lernziele wirken, je nachdem ob man vom „traditionell selektiven Ansatz“, vom „standardisiert testbasierten Ansatz“ oder vom „inklusiv fördernden Ansatz“ ausgeht, Schaubild 27 gibt eine Übersicht der Merkmale der Differenzierung und Differenzierungsaspekte wie Lernvoraussetzungen, Lernprozess, Inhalte, Methoden, Aktionsformen, Sozialformen und Beurteilung. Es geht ums Gelingen, darum die Haltung zu ändern, sich auf den Weg zu machen und die eigenen Ressourcen zu nutzen. Leider wenden sich Diskussionen sehr schnell dahin, dass darüber lamentiert wird, warum etwas nicht geht. Solche Diskussionen münden darin, über Grenzen, statt Möglichkeiten nachzudenken. Das Schaubild 46 (S. 345) leitet einen konstruktiven Umgang ein, indem es Ressourcenaspekte benennt. Bei der Beurteilung der Unterrichtsqualität haben sich drei Schritte bewährt: Ressourcen – Lösungsanalyse, Lösungskompetenz und der Schlussfolgerung für Ressourcen und Lösungen. „Inklusion erfordert ein Umdenken: Die Voraussetzungen sind zu ändern, wenn sie der Inklusion im Wege stehen!„(S. 369)
Im letzten Kapitel Sisyphos und die Grenzen der Inklusion hinterfragt den alten Mythos, Sisyphos sei ein unglücklicher Mensch gewesen. Könnte es nicht auch so sein, dass der alltägliche Kampf den Menschen mit Zufriedenheit erfüllt? Dieser Blickwinkel wirft die Frage auf, welche Einstellung dazu hilft, den Menschen glücklich zu machen. Reich schließt sich Howard Gardner an: Es sind Engagement, Exzellenz und Ethik.
Eine inklusive Schule steht im Spannungsfeld gesellschaftlicher Veränderungen und individueller Anstrengung und nur ein positives Zusammenwirken beider Seiten wird helfen, Inklusion zu realisieren, so wie es in vielen Ländern schon vollzogen ist. An dieser Stelle kann ich mit Reich aus eigener Anschauung resümieren, dass Reisen bildet. „Inklusion ist keine Utopie, sondern weltweit in vielen Ländern längst Realität, und wenn auch jene Länder, die weiter als wir den inklusiven Weg gegangen sind, dabei bis heute keine Wunder vollbringen und es keine perfekten Systeme gibt, so scheint es in Deutschland heute noch des viel größeren Wunders zu bedürfen, dass wir uns mit vereinten Kräften überhaupt hinreichend auf den Weg machen. Viele lernen erst zu verstehen, dass Inklusion eine Frage der Rechte aller Menschen ist, eine Frage der Menschenwürde, des würdevollen Umgangs miteinander.„(S.364)
Auf die Haltung kommt es an, aus der gedacht und gehandelt wird. Es gibt einen praktikablen pädagogischen Weg, der sich in den Mindestansprüchen an Inklusion wiederfindet. Das Schaubild 49 „Ausgangspunkte und Mindeststandards“ inklusiver Didaktik besteht aus drei Spalten: „Inklusive Normen und Werte, pädagogische Haltungen/inklusive Standards und Kommentar“, die sich mit 10 Punkten befassen: „Diversität ist gut, Unterschiede werden in einer Gemeinschaft gelebt, Inklusion basiert auf Menschenrechten, jede/r ist anders, es darf keine doppelten Standards geben, Sprache schafft Wirklichkeit, gute Lernumgebungen sind für das Lernen wichtig, Lehrende sind die wichtigste Lernumgebung für Lernende, Förderung ist ein Angebot, aber keine Strafe und Lernen lässt sich nicht immer weiter beschleunigen“ (S. 366-367).
Es ist Reich in diesem Buch gelungen, sein umfangreiches Wissen prägnant und verständlich aufzubereiten. Zugleich fließen Erfahrungen aus Schulen mit ein wie z.B. die Max-Brauer-Schule in Hamburg. Das Buch kann auf verschiedene Weise genutzt werden: man kann Kapitel für Kapitel lesen, aber auch gezielt nach Themen suchen z.B. in dem man die 50 Schaubilder studiert, die Sachverhalte zusammenfassen, kritisch vergleichen, gegenüberstellen und auf den Punkt bringen. Schon allein diese Schaubilder sind für eine inhaltliche Auseinandersetzung äußerst ergiebig und schon allein deswegen würde es sich lohnen, das Buch anzuschaffen! Seit Jahren baut Reich einen Pool an Methoden auf (www. methodenpool.de) und auch dieses Buch wird durch eine Material- und Linkseite im Internet ergänzt, die entsprechend der Kapitel im Buch aufgebaut ist. Dort findet man Beispiele, weiterführende Anregungen und vertiefende Texte.
Fazit
Inklusion ist ein Menschenrecht, nicht nur eine verordnete Maßnahme! Kersten Reich fasst in diesem Buch die Leitlinien einer inklusiven Schulentwicklung und eines gemeinsamen Unterrichts zusammen. Auf Grundlage der Inklusionsstandards richtet er sich an alle Lernende, Lehrende und Lehramtsstudenten, aber auch Personen, die sich ein fundiertes Bild über Inklusion machen wollen, profitieren vom Buch. Eine inklusive Didaktik reicht vom Kindergarten über die Primarstufe bis in die Sekundarstufen I und II und bis in hochschuldidaktische Konzepte. Reich macht deutlich, dass es nicht allein um den Einsatz anderer Methoden oder Unterrichtsstile geht, sondern dass es eine systemische Aufgabe ist, die über die Inklusion von Kindern mit Behinderung weit hinausgeht und allen zugute kommt.
Das Buch ist ein Standardwerk inklusiver Schulentwicklung!
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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