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Sabine Völkl-Kernstock, Christian Kienbacher (Hrsg.): Forensische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 05.09.2016

Cover Sabine Völkl-Kernstock, Christian Kienbacher (Hrsg.): Forensische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ISBN 978-3-7091-1607-4

Sabine Völkl-Kernstock, Christian Kienbacher (Hrsg.): Forensische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Praxishandbuch für die interdisziplinäre Zusammenarbeit: Psychologie-Psychiatrie-Gerichtsmedizin-Sozialarbeit. Springer (Berlin) 2015. 300 Seiten. ISBN 978-3-7091-1607-4. D: 77,81 EUR, A: 79,95 EUR, CH: 97,00 sFr.

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Thema

Forensische Psychologie sowie Forensische Psychiatrie im Kindes- und Jugendalter stellen Spezialgebiete dar und bedingen zumeist die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen aus dem psychosozialen, medizinischen und juristischen Umfeld. Damit die forensische Tätigkeit entsprechend wissenschaftlicher Standards geleistet werden kann, ist ein regelmäßiger Wissensaustausch der einzelnen Fachdisziplinen notwendig, wozu dieses Buch einen Beitrag leisten möchte.

HerausgeberInnen

Die HerausgeberInnen arbeiten als Psychologin, Psychotherapeutin und Gutachterin (Völkl-Kernstock) als Ass. Professorin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Wien und als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Leitung der Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie des SOS-Kinderdorfs Wien (Kienbacher).

AutorInnen

Die Einzelbeiträge des Herausgeberbandes wurden von forensisch erfahrenen Fachspezialisten aus dem gesamten deutschsprachigen, schwerpunktmäßig dem österreichischen Raum verfasst.

Aufbau

Das Praxishandbuch ist in fünf Abschnitte unterteilt, welche folgende Themen behandeln:

  1. (Allgemeiner Teil) Aspekte der Gewalt- und Opfererfahrung bei Kindern
  2. Diagnostik und therapeutische Maßnahmen
  3. Kinder und Jugendliche als Opfer in einem Strafverfahren
  4. Kinder und Jugendliche als Beteiligte in einem strittigen Pflegschaftsverfahren
  5. Jugendliche als Beschuldigte in einem Strafverfahren

Den oben genannten fünf Abschnitten ist ein Kapitel zur Arbeit der „Forensischen Kinder- und Jugenduntersuchungsstelle an der Medizinischen Universität Wien“ vorangestellt, dessen Aufgabe die Sicherung gerichtstauglicher Beweise im Zusammenhang mit Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist. Schwerpunkt dieser Untersuchungsstelle ist die Zusammenarbeit mit Kinderschutzgruppen in Krankenanstalten, welche als Erstkontaktstelle den initialen Zugang zu Kindern haben, deren Behandlungsanlass einen forensischen Hintergrund haben können. Die hier generierten Gefährdungsmeldungen bedürfen einer sensiblen Einschätzung, welche zwischen Verschwiegenheitspflicht und Fürsorge (für das möglicherweise geschädigte Kind) differenziert, welche einen multiperspektivischen Blick auf den jeweiligen Fall unabdingbar macht. Der Beitrag plädiert für die Einrichtung dauerhafter forensischer Spezialambulanzen, um der Bedeutung dieses Aufgabengebietes gerecht zu werden.

Inhalt

1. Allgemeiner Teil. Im allgemeinen Teil gehen vier Beiträge auf Kinder und Jugendliche als Opfer von Gewalt, die Auswirkungen von Gewalterfahrungen auf die Wahrnehmung und das Handeln betroffener Kinder, neuropsychologische und neurobiologische Erkenntnisse im Kontext von Gewalt und Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen und die Behandlung von Gewaltopfern als Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein.

2. Diagnostik und therapeutische Maßnahmen. Der hinsichtlich Anzahl und inhaltlicher Breite der Beiträge umfangreichste zweite Abschnitt beschreibt zunächst den state of the art hinsichtlich diagnostischer Aspekte: psychologische Diagnostik von kindlichen Gewaltopfern, pädiatrische Befunderstellung und Begutachtung, traumatologische Befunderstellung und Begutachtung, gynäkologische Befunderstellung und Begutachtung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch, ärztliche Untersuchung, Spurensicherung und gerichtsverwertbare Verletzungsdokumentation. Die Einzelbeiträge gehen auf Untersuchungsmethoden und -techniken ein, bieten einen tabellarischen Überblick der Diagnoseebenen und beziehen z. T. fotografische Abbildungen zur Darstellung missbrauchstypischer Verletzungen und Spuren ein. Darauf aufbauend werden dann verschiedene Interventionsformen bei Kindern und Jugendlichen mit Missbrauchs- bzw. Gewalterfahrung vorgestellt: die Arbeit von Kinderschutzgruppen in Österreich, Aspekte der Beratung, Krisenintervention und Behandlung von Bindungs- und Gewalttraumata im Kinderschutzkontext, die psychopharmakologische Behandlung jugendlicher Straftäter, psychologische Arbeit im Kontext der Jugendhilfe bei Gewalt an und von Kindern und Jugendlichen, Maßnahmen und Interventionsformen im Rahmen des Kinderschutzes/Gefährdung des Kindeswohls, polizeiliche Tätigkeit im Kontext von Gewalt an bzw. von Kindern und Jugendlichen und Rahmenbedingungen und Methodik der Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen.

3. Kinder und Jugendliche als Opfer im Strafverfahren. Der besonderen Situation von Kindern in einem gerichtlichen Strafverfahren ist der nächste Abschnitt gewidmet. In drei Beiträgen wird auf Kinder und Jugendliche als Zeugen in einem Strafverfahren aus juristischer Sicht (Zeugenschonungs- und Schutzmaßnahmen, Vernehmungsmethodik), auf Fragen der Befragung und Begutachtung von Kindern als Zeugen (Gestaltung der Befragung, kindliches Gedächtnis, Interviewtechniken) und auf die Möglichkeiten der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung in Österreich für Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt erlebt haben eingegangen.

4. Strittige Pflegschaftsverfahren. Schwerpunkt des vierten Abschnitts sind familienrechtliche Themen mit forensischem Hintergrund. Fragen der Inobhutnahme, verpflichtende Elternberatung, Besuchsregelungen, Gefährdung des Kindeswohls (im Zusammenhang mit Vernachlässigung, Gewalt, bzw. sexuellem Missbrauch), Erziehungsfähigkeit, Fremdunterbringung bis hin zur Gestaltung und Ausformulierung von familienrechtlichen Sachverständigengutachten zur Einschätzung dieser Situationen, oder der Erziehungsfähigkeit der Eltern werden in zwei Kapiteln behandelt.

5. Jugendliche als Beschuldigte. Dem letzten Themenschwerpunkt ist der abschließende Abschnitt zur Situation von Jugendlichen als Beschuldigte in einem Strafverfahren gewidmet. In fünf Kapiteln gehen die Autoren auf die Rechtsgrundlagen, Schuldfähigkeit (Verantwortungsreife, krankheitsbedingte Schuldminderung), psychische Störungen und Delinquenz bei Jugendlichen, Kriminalprognose und Risikoeinschätzung bei straffällig gewordenen Jugendlichen und die besonderen Herausforderungen der forensisch-psychiatrischen Begutachtung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein.

Zielgruppe

Die Herausgeber wenden sich in interdisziplinärer Perspektive an Ärzte, Psychologen und Psychotherapeuten, Juristen, Sozialarbeiter und Pädagogen, welche mit forensischen Fragestellungen bei Kindern und Jugendlichen konfrontiert werden, oder einen Einblick in forensisch relevante Fragestellungen suchen. Der Fokus des Sammelbandes liegt auf den Verhältnissen in Österreich, teilweise werden Zusammenhänge aus dem weiteren deutschsprachigen Raum aufgegriffen. Die Schwerpunkte der Ausführungen liegen bei den psychischen und neurobiologischen Aspekten der Traumatisierung, auch der Psychopathologie von Traumafolgestörungen im Kindesalter.

Diskussion

Die Beiträge des Praxishandbuchs greifen eine beindruckende Vielzahl relevanter Themen forensischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auf. Der Fokus liegt sowohl auf Opfern und Tätern, wodurch die in der forensischen Psychiatrie sonst übliche Trennung zwischen den beiden Gruppen überwunden wird. Die Schwerpunkte der einzelnen Kapitel liegen bei strafrechtlichen, psychiatrischen, psychologischen und psychotraumatologischen Themen, welche den aktuellen Wissensstand aufgreifen. Das geht allerdings zu Lasten sozialpädagogischer und pädagogischer Fragestellungen, z. B. fehlen Beiträge zur sozialen und psycho-sozialen Diagnostik, oder Traumapädagogik vollständig. Damit wird der Anspruch ein interdisziplinäres Praxishandbuch für alle beteiligten Berufsgruppen zu verfassen nicht ganz erfüllt.

Formal erscheint das Praxishandbuch in sehr guter Qualität: das Gesamtwerk und die Einzelbeiträge sind klar gegliedert, die Sprache ist durchweg verständlich, was auch für komplexe Inhalte gilt. Damit eignet sich das Buch auf für BerufseinsteigerInnen und StudentInnen der beteiligten Fachdisziplinen. Die Inhalte werden in einzelnen Kapitel durch Fallbeispiele expliziert. Der Konzeption eines Praxishandbuchs hätte es gut getan, dieses Prinzip für alle Beiträge zu übernehmen. Neben der Verwendung des Handbuchs in den einschlägigen forensischen Arbeitsfeldern liegt der Wert dieser Publikation besonders in dessen klarer und systematischer Darstellung grundlegender Fakten und Zusammenhänge, wodurch Praktiker in allen Feldern des Gesundheits- und Sozialwesens für die Thematik sensibilisiert werden. Dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen, sind die VertreterInnen dieser Tätigkeitsbereiche, z. B. KinderärztInnnen, Erzieher in Kindertagesstätten, PädagogInnen in Bildungseinrichtungen etc. erste Kontaktstelle für Kinder und Jugendliche, welche Opfer von Vernachlässigung, Gewalt- oder Missbrauchshandlungen wurden, bzw. die mit entsprechendem strafbaren Verhalten auffällig geworden sind.

Fazit

Das Praxishandbuch definiert den Standard forensischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Es greift allgemeine Aspekte zum Ausmaß und den Auswirkungen von Gewalt- und Missbrauchserfahrung auf, führt in die diagnostischen und therapeutischen Zusammenhänge ein, sensibilisiert für die besonderen Belastungen von Kindern und Jugendlichen als Opfer bzw. Beschuldigter in einem Strafverfahren und gibt einen Überblick zur Situation von Kindern und Jugendlichen als Beteiligte in familienrechtlichen Verfahren. Damit wird die fachliche Breite des Fachs dokumentiert und für die Praxis in forensischen Zusammenhängen, darüber hinaus auch für den gesamten Gesundheits- und Sozialbereich erschlossen. Entsprechend ist dem Praxishandbuch eine weite Verbreitung, über die einschlägigen forensischen Arbeitsfelder hinaus, zu wünschen.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 170 Rezensionen von Gernot Hahn.

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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 05.09.2016 zu: Sabine Völkl-Kernstock, Christian Kienbacher (Hrsg.): Forensische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Praxishandbuch für die interdisziplinäre Zusammenarbeit: Psychologie-Psychiatrie-Gerichtsmedizin-Sozialarbeit. Springer (Berlin) 2015. ISBN 978-3-7091-1607-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16869.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.


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