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Werner Früh, Felix Frey: Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.06.2014

Cover Werner Früh, Felix Frey: Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde ISBN 978-3-86962-083-1

Werner Früh, Felix Frey: Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2014. 412 Seiten. ISBN 978-3-86962-083-1. 36,00 EUR.

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Erzählen ist eine funktionale Kulturtechnik

Narratologie, also Erählforschung, ist eine bestimmte Art der Verständigung, die auf Regeln und Techniken beruht. Die uralte Erkenntnis, dass sich durch das Erzählen „nicht nur beliebige Sachverhalte benennen und damit auch mental repräsentieren und kommunizieren, sondern auch Probleme erklären, Emotionen evozieren, andere beeinflussen und somit eigene Interessen durchsetzen (lassen)“, hat seit den 1960er Jahren dazu geführt, den Wirkunsfaktoren bei der Narration eine systematische Aufmerksamkeit zu widmen. Dabei wird deutlich, dass bei der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Betrachtung der Narrativierung von Storytelling, Informations- und Erzählvermittlung keine eindeutigen Definitionen von narrativen Darstellungen vorhanden sind. Angesichts dieser Situation stellt sich die Herausforderung, „die tatsächlich wirksamen Narrationskomponenten und Wirkungsmechanismen aufzudecken, unter denen die erwarteten Effekte eintreten, um damit gleichzeitig auch das generelle Dominanzpostulat der Narrativen zu widerlegen“.

Autorenteam

Dieser Anspruch ist es, der die Unterhaltungsforscher, Kommunikations- und Medienwissenschaftler von der Universität Leipzig, Werner Früh und Felix Frey, veranlasst, die Ergebnisse von mehreren Forschungsprojekten und Reflexionen zur Narration vorzulegen. Die theoretische Grundlegung als konzeptionelle Analyse des Narrativen, wie als praktische, journalistische und alltagskommunikative Wirksamkeit des Storytelling bedürfen – weil dahinter immer auch machtpolitische und manipulative Kräfte lauern – einer Bestandsaufnahme der narrativen Darstellungsformen, um die in der sich immer interdependenter, entgrenzender (und unverbindlicher?) entwickelnden Globalisierung Wahrhaftigkeit und Wirkmächtigkeit der Narration erkennen zu können.

Aufbau und Inhalt

Die Autoren Früh und Frey legen, neben den einleitenden Bemerkungen, sechs Forschungsprojekte vor, aus denen die umfangreichen und expliziten Möglichkeiten von Narration und Storytelling erkennbar werden.

Im ersten Text – „Die Vielfalt der Erzählung: Eine Inhaltsanalyse zur Definition von ‚Narration‘, ‚Geschichte‘ und ‚Narrativität‘ in wissenschaftlichen Fachzeitschriften“ – diskutieren Früh und Frey die Ergebnisse eines Forschungsvorhabens, bei dem im Zeitraum von 1997 bis 2006 insgesamt 349 ausgewählte Fachbeiträge in deutsch- und englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften aller Disziplinen die Relevanz, Bedeutungsgebung und Handhabung der Begriffe ‚Erzählen‘, ‚Erzählung‘, ‚Geschichte‘, ‚Story‘, ‚Narration‘ oder ‚Storytelling‘ analysiert wurden. Die Forschungsergebnisse und die reflexiven und methodischen Zugangsweisen der Studie unterscheiden sich dabei von den traditionellen Literaturanalysen und fokussieren die Fragebereiche stärker auf die Bedeutung von Narration in (sozial-)wissenschaftlichen Theoriezusammenhängen. Sie zeigen eine Reihe von Lücken bei der Untersuchung der Rezeption und Wirkung narrativer Kommunikate auf, und sie plädieren für „ein höheres Maß an terminologischer Transparenz“. Nicht zuletzt für den theoretischen und praktischen Journalismus und die gesellschaftspolitische Benutzung von Formen des Narrativen dürften die ausgewiesenen Definitionsmerkmale von Bedeutung sein.

Werner Früh diskutiert in seinem Beitrag „Narration und Storytelling“ die theoretischen Pfadfindungen und praktischen Wegemarken, wie sie sich im Nachrichtenjournalismus und in der journalistischen Narration entwickelt haben und wirksam werden. Er setzt sich mit den verschiedenen Narrationsdefinitionen auseinander und fragt danach, ob es überhaupt ein einheitliches, wissenschaftliches Konzept von „Narration“ geben kann, oder ob es überhaupt wünschenswert ist, ein solches anzustreben. Ebenso der Begriff des „Storytelling“ als journalistische Narrationsvariante bedarf der Nachfrage nach Relevanz, Authentizität, Wahrhaftigkeit und Informationsgehalt. Anhand einer Reihe von konkreten journalistischen Beispielen zeigt er die Diskrepanz von Möglichkeiten und Wirklichkeiten auf. Daraus entwickelt er Ansätze für eine „Theorie der journalistischen Narration und des Storytelling“ und bringt Bausteine und Stolpersteine in den Denk- und Konstruktprozess ein, die ohne Zweifel Zeigefinger für eine realistische und funktionale Handhabung sein können, wie beim „Konflikt zwischen wahrheitsgemäßer und vollständiger Berichterstattung einerseits und Verständlichkeit andererseits zu verfahren ist“.

Felix Frey vermittelt mit seinem Beitrag „Wirkungen des Narrativen“ einen systematischen Forschungsüberblick zu Effekten narrativer Kommunikationsformen. Er bietet eine Synopse des aktuellen empirischen Forschungsstandes zu den Wirkungen narrativer Kommunikate an, indem er die Zielsetzungen, Gehalt und Wirkungsweisen von insgesamt 70 Studien zur Narration analysiert. Dabei identifiziert er eine Reihe von Imponderabilien, bei denen inhaltliche, motivationale, emotionale und manipulative Entwicklungen deutlich werden, die nach definitorischer, theoretisch-konzeptioneller und fundierter Narrationsforschung verlangen: „Ohne eine Vorstellung davon, was Narrativität sein soll, wovon narrative Kommunikation abzugrenzen und womit sie folglich empirisch zu vergleichen wären, kann auch nicht entschieden werden, ob es sich bei einem beobachteten systematischen Unterschied zwischen zwei Kommunikaten um eine Konfundierung oder vielmehr um eine definitionskonform sogar gerde ‚wesentliche‘ Differenz handelt“.

Werner Früh und Felix Frey berichten im vierten Beitrag „Narration und Storytelling im politischen Journalismus“ über eine inhaltsanalytische Untersuchung zur Verwendung erzählender Darstellungsweisen. Ihre Forschungsfragen orientieren sich dabei daran, „in welchem Umfang ( ) Storytelling im informierenden Journalismus ausgewählter Fernsehprogramme und Tageszeitungen (vorkommt)“; „welche Narrations- und Storytelling-Varianten ( ) am häufigsten eingesetzt (werden)“; „in welchen Fernsehprogrammen und Zeitungen ( ) Storytelling am häufigsten verwendet (wird)“, und „in welchen journalistischen Darstellungsformaten ( ) Storytelling am häufigsten eingesetzt (wird)“. Der – insbesondere in der journalistischen Praxis der USA – euphorisch um sich greifenden, wie katastrophal ausgewiesenen Entwicklungen im politischen Journalismus werden durch die Forschungsergebnisse relativiert: „Nicht jede narrative Darstellung führt zu einer Verfälschung der dargestellten Tatsachen“; vielmehr kommt es darauf an, den partiellen Narrations- und Storytellung-Verwendungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Hilfreich hierbei dürfte die im Anhang des Beitrags beigefügte Kurzform eines „Codebuchs“ mit Codierregeln für den praktischen Journalismus sein.

Früh und Frey steuern mit dem fünften Text – „Positive Effekte von Narration und Storytelling“ – die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Stärke und zum Geltungsbereich bei Attraktivität, Verständlichkeit und Unterhaltung. Sie fragen anhand von verschiedenen Personen-, Themen- und Text-/Filmmerkmalen nach dem (behaupteten) Dominanzpostulat bei der Narration. Es zeigt sich einerseits, dass „das Dominanzpostulat in seiner starken Form nicht haltbar ist“; andererseits wird jedoch auch verdeutlicht, dass Narration durchaus besondere Wirkungspotentiale aufweist; vielmehr zeigt sich, „dass sich die gewünschten Effekte unter bestimmten Bedingungen bei einer narrativen, aber auch bei einer analytisch-argumentativen Darstellungsweise optimieren lassen“.

Im sechsten Forschungsbericht informieren Früh und Frey über das „Narrative und seine Attraktivitäts- und Wirkungspotentiale“, indem sie nach den Wirkungen der Definitionskomponenten ‚Zielgerichtetheit‘ und ‚menschlicher Handlungsträger‘ bei der Filmrezeption fragen. Das Dilemma (oder Faktum?), dass die Forschungsergebnisse über das Narrative sich disparat zeigen, wollen die Autoren mit Annahme glätten, „dass das Definitionsproblem nicht einfach darin begründet ist, dass völlig unterschiedliche Sachverhalte mit demselben Label ‘Narration“ versehen werden, sondern dass ‚Narration‘ in der Vielfalt der Erscheinungsformen zumindest im Prinzip etwas Gemeinsames denotiert“. Die verschiedenen, personalen und sachlichen Wirkungsweisen bei Filmanalysen verdeutlichen eine erhöhte Narrativität, also die Präsenz menschlicher Handlungsträger und deren Zielgerichtetheit in den dargestellten Prozessen; was bedeutet, „dass die Narrativität von Kommunikaten tatsächlich Effekte v.a. im emotionalen und evaluativen Bereich hervorbringt“; gleichzeitig aber zeigen die Forschungsergebnisse auch den enthuastischen Optimismus, dass bei allen Darstellungsformen narrative Wirkungen zu empfehlen seien.

Den sechs Forschungsberichten fügt die Leipziger Filmemacherin und Medientheoretikerin Jette Blümler ihren Beitrag über „Re-enactments – eine experimentelle Untersuchung zur Wahrnehmung und Bewertung nachgestellter Szenen in Dokumentationen“ hinzu. Bei der medialen Vermittlung von Geschichte und Geschichten gewinnen Darstellungsformen des Nachinszenierens an Bedeutung; gleichzeitig unterliegen sie dem Verdacht einer „Verzerrung des Geschichtsbildes“. Es sind die Fragen nach der Authentizität und nach den Wirkungsweisen des Dokumentarischen, die in der Studie über zeithistorische Fernsehdokumentationen neu gestellt und analysiert werden. „Nachgestellte Szenen … können aus der Perspektive der Rezeption nicht als dokumentarische Mittel gewertet werden“; dieser überraschende Befund wird konkretisiert durch die Erkenntnis, dass Reenactments „nicht als Beweis für Realität gelten“, sondern „lediglich als eine Interpretation desselben“.

Fazit

Die uralte Kulturtechnik des Erzählens unterliegt in der theoretischen Reflexion wie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Diskrepanz zwischen dem Dominanzpostulat und Transparenzanspruch, Manipulationsgefahr und Wahrhaftigkeitsimplikationen. Die (erst junge) Erzählforschung unternimmt vielfältige Anstrengungen, um die kommunizierenden wie konträren Formen der Kommunikation funktional zu ergründen und definitorisch festzulegen. Die im Band „Narration und Storytellung“ vorgestellten Forschungsergebnisse verdeutlichen die wissenschaftlichen Anstrengungen und vermitteln mit der Bestandsaufnahme der Forschungs-Initiativen ein aussagekräftiges Bild vom Sachstand und Innovationsbedarf der Erzähl- und Unterhaltungsforschung.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.06.2014 zu: Werner Früh, Felix Frey: Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2014. ISBN 978-3-86962-083-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16883.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.


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