Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert u.a. (Hrsg.): Handbuch materielle Kultur
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 22.05.2015

Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert, Hans Peter Hahn (Hrsg.): Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2014. 378 Seiten. ISBN 978-3-476-02464-0. D: 69,95 EUR, A: 72,00 EUR, CH: 94,00 sFr.
Handbuch
Ein „Handbuch“ ist kein Fachlexikon. Im Unterschied zum alphabetischen Fachwörter-Verzeichnis enthält das wissenschaftliche Handbuch eine geordnete Zusammenstellung des Wissens über ein Fachgebiet oder einen Forschungsgegenstand. Im vorliegenden Fall ist es die „materielle Kultur“, die von allen Seiten ausgeleuchtet wird, um den „state oft the art“ wiederzugeben. Wegen der wissenschaftlichen Multiperspekivität ist es schwer vorstellbar, dass ein Handbuch von einem einzelnen Autor verfasst wird. Beim vorliegenden Buch sind es drei Herausgeber und weitere 57 Beiträgerinnen und Beiträger. Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt.
Herausgeber
Stefanie Samida hat Vor- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Mittelalterliche Geschichte in Tübingen und Kiel studiert. 2005 wurde sie in Tübingen promoviert. Heute arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung „Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Manfred K. H. Eggert ist Professor i. R. für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Tübingen. Er ist Verfasser zahlreicher Werke zur prähistorischen Archäologie.
Hans Peter Hahn ist Professor für Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main. Er hat intensiv über Handwerk, materielle Kultur und Globalisierung gearbeitet. Sein Interesse gilt einer gegenwartsbezogenen Ethnologie.
Fragen
Wir sind von Dingen umzingelt. Jeder Europäer besitzt heute zwischen 2000 und 5000 Dinge. Inwiefern „beherrschen“ uns die Dinge durch ihre schiere Anwesenheit und üben eine „Sachdominanz“ aus? Inwiefern „beseelen“ wir die Dinge durch unseren Umgang mit ihnen? In der Umgebung von Dingen „orientieren“ wir uns, aber sie vermögen uns auch zu „desorientieren“. Was bedeutet es, wenn Karin Knorr-Cetina Technik als „Sozialität mit Objekten“ definiert? Inwiefern legen Dinge „Zeugnis“ ab – für Lebensweisen, Kulturen, Gesellschaftsformen? Können funktionale Zweckbauten, Brücken zum Beispiel, „politisch“ sein? Worin besteht die sprichwörtliche „Tücke des Objekts“? Lässt sich in einem Ensemble von Dingen lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch?
Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften
Gelegentlich wird die „materielle Kultur“ der „intellektuellen Kultur“ entgegengestellt. Hier ist die „Welt des Gegenständlichen“ das Objekt der Forschung, dort ist es die „Welt des Geistes“. Hier ist es das Physische, dort ist es das Mentale. Hier sind es Sachen, Dinge, Objekte, dort sind es Schrift- und Sprachzeugnisse (die in ihrer „Materialität“ natürlich auch Dinge sind).
Das vorliegende Handbuch widmet sich also den (Natur-)Dingen und den menschengemachten Objekten. Sie bilden die materielle Grundlage menschlicher Kultur. Für Ethnologie, Prähistorie und Archäologie ist das kein neuer Ansatz; wohl aber für die „schriftlastigen“ Gesellschaftswissenschaften im weitesten Sinne. Somit erklärt sich auch der Titel des Einleitungs-Kapitels: „Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften“ (S. 1)
Beziehungen und Bedeutungen
Der kurz gehaltenen „Einleitung“ folgt das zweite Hauptkapitel, „Beziehungen und Bedeutungen“.
Durchweg wird ein „semiotischer Kulturbegriff“ vertreten, für den Kultur aus einem vom Menschen selbst gesponnenen Gewebe von Bedeutungen besteht. Aufgabe des Buches ist, die „Dinge“ gewissermaßen „zum Sprechen zu bringen“ (S. 26) und ins Bedeutungsnetz einzuweben. Das „Lied“, das laut Joseph von Eichendorff „in allen Dingen schläft“, soll zum Vortrag gebracht werden. (vgl. S. 42)
Auch Dinge haben eine Biografie, das heißt Herkunft und Werdegang. Sie nehmen die Lebensspuren ihrer menschlichen Benutzer auf und – angesichts ihrer oft längeren „Lebensdauer“ – tradieren diese als Erinnerungs- und Erbstücke.
Eine wegen des Vorgangs der fast restlosen Nutzung anrührend zu nennende „biografische Notiz“ eines Stückes Holz lesen wir auf S. 234. Aus dem bäuerlichen Ungarn der 1950er Jahre wird berichtet, dass der Werdegang eines „Hackenstiels“ damit beginnt, dass man einen ausgesuchten Buchenast so an den Stamm bindet, dass er möglichst gleichmäßig und gerade wächst. Dann abgesägt und zum Hackenstiel geformt, erhält er im Laufe seines Lebens mehrmals neue Eisenhacken, die auf dem immer wieder verkürzten Stiel aufgesetzt und verkeilt werden. Nachdem der Stiel zu kurz geworden ist, dient er dazu, einen wackligen Tisch zu stabilisieren. Danach wird er zusammen mit dem Tisch als Trennwand im Stall aufgestellt. Schließlich dient er als Brennholz, und in der (alkalischen) Lauge seiner Asche wäscht man zuletzt den Leinenkittel der Bäuerin.
Instrumente, Symbole, Akteure
Dinge haben Eigenschaften und Funktionen und sind mehr oder weniger nützlich; aber sie können auch als Zeichen und Symbole gelesen werden, die etwas über die Gesellschaften aussagen, in denen sie im Gebrauch waren oder sind. Im Unterschied zu Texten, die eine Syntax besitzen und im „Kontext“ verstanden werden, besitzen Dinge diese Syntax nicht und können nur in der „Ko-Präsenz“ mit anderen Dingen verstanden werden. Den Dingen wächst neben dem Gebrauchswert also auch ein Symbolwert zu. Das Schwert eines Herrschers ist nicht nur ein Instrument physischer Gewalt, sondern so, wie es geschmiedet und kunstvoll geschmückt ist, symbolisiert es zugleich diese Herrschergewalt.
Bei Bruno Latour sind Dinge noch weitaus mehr als „nur“ Instrumente und symbolische Repräsentanten; er nennt sie „nicht-menschliche Akteure“, die mit menschlichen Akteuren interagieren. „Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist in deiner Hand nicht mehr dieselbe. Du bist ein anderes Subjekt, weil du die Waffe hältst; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung zu dir unterhält.“ (S. 9)
Wie wir an den Dingen hängen
Die Verlässlichkeit der Welt zeigt sich auch in der Beständigkeit der Dinge. Dass das Haus, der Tisch und das Bett am Morgen genau da stehen wie am Abend, gleich aussehen und sich gleich anfühlen, ist für das Weltvertrauen des Kindes von enormer Bedeutung. Das wissen auch Organisationen, die nicht immer das menschenmöglich Beste wollen. In einigen Ländern nutzt der Geheimdienst zur Einschüchterung von Oppositionellen folgende subtile Methode: „Persönliche Gegenstände in der Wohnung des Observierten werden vom Geheimdienst in Abwesenheit des Wohnungsbesitzers verschoben, mit dem Zweck, das Vertrauen des Menschen in sich selbst zu erschüttern und in ihm ein Klima der Angst und Unsicherheit zu erzeugen. Da steht abends plötzlich ein Stuhl ein wenig anders als am Morgen, ein Buch liegt an einem anderen Platz … – und schon stellen sich dem Besitzer der Gegenstände viele Fragen…“ (S. 70)
Praktiken und Transformationen
Der Umgang mit den Dingen, den wir „Konsum“ nennen, wird zu Beginn des dritten Hauptkapitels „Praktiken und Transformationen“ verhandelt. Unter Konsum wird nicht allein Erwerb und Verbrauch von Gütern verstanden, sondern – die Begriffe „Konsumkultur“ und „Konsumgesellschaft“ legen es nahe – auch der Einfluss der Güter auf etwa den Status einer Person oder die Gesellschaftsstruktur im Ganzen. Neben dem Konsum werden weitere Aneignungspraktiken thematisiert, mit denen wir uns der Dinge zu bemächtigen versuchen, zum Beispiel das „Sammeln“ (oder der Mensch als Homo Collector); zum Beispiel das „Tauschen und Geben“ (oder die gesellschaftsbildende Kraft reziproker Beziehungen).
Begriffe und Konzepte
Das vierte Kapitel, „Begriffe und Konzepte“, enthält ein alphabetisches Verzeichnis relevanter Begriffe aus der Dingwelt (von „Abfall“ über „Erinnerungsstücke“ (Souvenirs) bis „Substanzen“) und relevanter Konzepte zur Kultur der Dinge (von „Aura“ über „Kitsch“ bis „Warenfetischismus“). Insgesamt 27 Positionen werden aufgeführt.
Gleich am ersten Stichwort „Abfall“ verrät das Handbuch seine generelle Denkungsart: Eine Gesellschaft erkennt man auch daran, wie sie sich der Dinge entledigt, die sie nicht mehr braucht. Vom achtlosen Wegwerfen über reflektiertes Entsorgen bis hin zum ehrgeizigen Rezyklieren spielt der „Abfall“ die Rolle zwischen wertlosem Müll und reichhaltiger Ressource. (vgl. S. 157 ff)
Kein Ding ist zu banal und unbedeutend, um nicht kulturell kodiert und mit Bedeutungen aufgeladen zu sein. Das Buch erzählt unter dem Stichwort „Alltagsdinge“ vom Anteil der Tupperdose an der Emanzipation der Frau in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Der bahnbrechend neue Vertrieb der Tupperdosen durch Direktverkauf auf Tupperware-Partys erlaubte es vor allem amerikanischen Frauen aus der unteren Mittelschicht „ihre Rolle und Stellung in der Familie durch ihren Zuverdienst als Handelsvertreterinnen neu zu definieren – ohne offen gegen normative Geschlechterideale zu rebellieren, die eine weibliche finanzielle Unabhängigkeit nicht vorsahen.“ (S. 163) In besonderem Maße half dies Frauen mexikanischer Abstammung, in deren ethnischer Gemeinschaft aushäusige Erwerbsarbeit nicht geduldet wurde; den Tupperware-Vertrieb wusste man aber nicht zuzuordnen.
Disziplinen und Perspektiven
Im fünften und letzten Hauptkapitel, „Disziplinen und Perspektiven“, werden von der Ethnologie über die Philosophie, Psychologie und Soziologie insgesamt 15 wissenschaftliche Zugänge zur Erforschung der „materiellen Kultur“ skizzenhaft vorgestellt. Gemäß dem Motto, dass Wissenschaft keine Augen macht, sondern Brillen, werden uns also über ein Dutzend „Brillenmodelle“ präsentiert, durch die man mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen die Welt der Dinge und Objekte ins Visier nimmt.
Eine Disziplin scheint besonders hervorhebenswert, weil sie, mehr als alle anderen, das Ganze der materiellen Kultur im Blick hat. Es ist die additive Meta- oder Inter-Disziplin der „Material Culture Studies“. Im Zentrum ihres Erkenntnisinteresses steht „ein angemessenes Verständnis“ für die Bedeutung der Dinge im Zusammenleben der Menschen.
Menschsein bedeutet zu sprechen, und Menschsein bedeutet, Gegenstände zu fertigen und zu verwenden. Die Berücksichtigung der Sprachfähigkeit hat die Sprachwissenschaften hervorgerufen. Die Erforschung des Gebrauchs und der Bedeutung von Dingen und Objekten ist in keiner spezifischen Disziplin zu Hause. (vgl. S. 311) Die Material Culture Studies möchten keine eigene Spezialdisziplin sein, sondern einen interdisziplinären Dialog organisieren und integrieren, um Archäologie und Ethnologie, Historiker und Anthropologen, Psychologen und Soziologen (um nur einige zu nennen) unter den begrifflichen Zentralgestirnen von „Materialität“ und „Materialismus“ zu versammeln und neue Perspektiven für die „materielle Kultur“ zu erschließen.
Fazit
Ein Handbuch ist immer ein Kaleidoskop von Informationen und Interpretationen. Wenn insgesamt 60 Autorinnen und Autoren 53 Beiträge zu Stich- und Hauptwörtern verfassen, lassen sich Wiederholungen und Redundanzen nicht ausschließen. Gleichwohl ist für alle, die sich über Bedeutungen, Konzepte und Disziplinen des Forschungsgegenstandes „materielle Kultur“ einen Überblick verschaffen möchten, das vorliegende Buch ein unverzichtbares Standardwerk.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 22.05.2015 zu:
Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert, Hans Peter Hahn (Hrsg.): Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
(Stuttgart, Weimar) 2014.
ISBN 978-3-476-02464-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16887.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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