Insa Fooken, Jana Mikota (Hrsg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 12.12.2014
Insa Fooken, Jana Mikota (Hrsg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2014. 343 Seiten. ISBN 978-3-525-40242-9. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 44,90 sFr.
Thema
Der von Insa Fooken und Jana Mikota herausgegebene Sammelband behandelt in 23 Einzelbeiträgen eine weitgespannte Thematik im Bereich Puppen. wobei „die zahlreichen, dabei durchaus unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Beiträge einen disziplinären Schwerpunkt bilden“ (Fooken / Mikota) in den „Vorbemerkungen“ S. 17).
Autorinnen/Herausgeberinnen
Insa Fooken ist Professorin für Psychologie an der Universität Siegen; Jana Mikota lehrt dort im Fach Germanistik mit dem Schwerpunkt Kinder-/Jugendliteratur.
Entstehungshintergrund
„Der Call for Papers, der anlässlich der im Rahmen dieses Buches dokumentierten Puppentagung verschickt wurde,“ so Fooken/Mikota in „Einführende Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Tagung“, „sollte interessierte Forscherinnen und Forscher nach Siegen ‚locken‘, um das Thema aus verschiedenen sozial-gesellschaftlich-kulturellen Perspektiven kritisch-reflexiv zu betrachten und innovative Forschungs- und Praxiszusammenhänge auszuloten“ (15).
Aufbau
Nach einführenden „Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Tagung“ (15 ff) ordnen die Herausgeberinnen das reichhaltige, aber disparate Material in sieben Rubriken:
- „Die bedingte und bedingende Puppe: Eine besondere Mensch-Ding-Beziehung“ (27 ff – mit Grundsatzartikeln von Gundel Mattenklott und Insa Fooken und einer „literarischen Annäherung“ von Susanne Kieselstein, die unter dem Titel „Spuren von Puppenspielen in Kindern und Heranwachsenden“ elf knapp umrissene Szenen skizziert – ein anregendes Denk- und Fantasiematerial);
- „Die abgebildete und literarisierte Puppe: Protagonistin und Identifikationsfigur in Kinderkultur und Kinderwelten“ (63 ff – dabei geht es einmal um „Darstellungen von Puppen und Spielzeug in Schweizer Kinder- und Jugendzeichnungen“, fünfmal um Literatur – von „Puppen in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur“ über die „Erfolgsgeschichte der ‚Puppe Wunderhold‘ – die Referenzfolie der deutschsprachigen Puppengeschichten“ (111) und „Puppenerzählungen von Emma Biller und Else Ury“ bis hin zur „Gruselliteratur für junge Leser“ und zu „Fitzebutze“, dem bemerkenswerten Kinderbuch von Paula und Richard Dehmel aus dem Jahr 1900);
- „Die behauste und verortende Puppe: Puppenwelten als Miniatur menschlicher Lebenswelten“ (147 ff – mit Arbeiten über „Das Puppenhaus in der Kinderliteratur“ und „Puppenhäuser des Barock“);
- „Die lebensbegleitende und spiegelnde Puppe: Selbstreflexion und biografische Aneignung“ (175 ff – zum einen ein spannender Einblick in einen Workshop des Museums Folkwang: „Mein heimlicher Begleiter: Jugendliche gestalten ihr zweites Ich“; zum anderen ein Einblick in Kinderuni und Seniorenstudium: „Die Puppe im Beziehungsnetz des Lebens. Erfahrungen mit Lieblingsdingen“);
- „Die verstörende und vernichtete Puppe: Abgründige Seiten der Puppenkontexte“ (201 ff – eine Auseinandersetzung mit Rilkes „Puppenessay“, eine Untersuchung zur „Objektivierung des Weiblichen in Marie von Ebner-Eschenbachs ‚Das Gemeindekind‘“ und ein bewegender Bericht „Puppen, Alltag, Deportation: Fotos von in Frankreich lebenden jüdischen Kindern aus den 1940er Jahren“ von Anne D. Peiter: “Da jedoch das Wissen um den Mord an diesen Kindern vom Blick auf ihre Portraits nicht zu trennen ist, ist das anrührend Schöne, das von ihren Körpern und Gesichtern sowie vom Verhältnis zu ihrem Spielzeug ausgeht, in Wirklichkeit von größter Furchtbarkeit“ (233);
- „Die irritierende und provozierende Puppe: Ambiguität, Ambivalenz und Entlarvung“ (247 ff – wie Künstler mit Puppen umgehen: Auseinandersetzungen mit Jamie Diamond und ihrer Fotoserie „I promise to be a good mother“, mit Tony Oursler, Jean-Pierre Khazem; dazu Barbie und ein öffentlich wirksames Medienspiel mit einem kalkulierten „popfeministischen“ (23) Einsatz der von Francoise Cactus gefertigten „Häkelpuppe Wollita“ und ihrer „Aura“).
- Schließlich „Die inszenierte und medialisierte Puppe: Puppen im Film – Komödie, künstliche Menschen, Horror“ (es geht um den Stummfilm von Ernst Lubitsch aus dem Jahr 1919, um „Puppe, Roboter und Avatar“, um die seltsame Filmform des „Giallo“, eine Art „thrilling all italiana“ (322) und zum Schluss um „Bloody Dolls: Die Puppe als unheimliche Figur im Erwachsenengenre des Horror“, 332 ff). „Die letzten vier Beiträge“, so die Herausgeberinnen, „greifen noch einmal die Verbindung der Puppe zum Unheimlichen auf, wobei hier insbesondere deutlich wird, dass die verschiedenen Puppenwesen ein ‚besonders faszinierendes Eigenleben im Medium Film‘ entfalten (vergl. Müller-Thamm u. Sykora)“ (24).
Als „Resümee“ ihrer „Übersicht“ formulieren Fooken/Mikota: „Es scheint offenkundig, dass Puppen und die mit ihnen verbundenen Themen eine ähnliche Vielfalt aufweisen wie Menschen und ihre Themen“ (25) – ein Hinweis auf die simple Tatsache, dass Mensch und Bild oder Skulptur des Menschen nicht sehr weit voneinander entfernt sind.
Inhalte
Zur Geschichte der Puppenforschung gibt es in den „Vorbemerkungen“ von Fooken/Mikota wichtige Hinweise: zunächst auf die „Study of Dolls“ der amerikanischen Psychologen Ellis und Hall (1887), dann auf Max von Boehn und seine zweibändige Darstellung „Puppen und Puppenspiel“ von 1929. Besonders hervorgehoben werden „zwei fulminante ‚Puppen‘-Ausstellungen, die nicht zuletzt durch opulent ausgestattete Ausstellungskataloge beeindruckten“ (16); sie werden in den Beiträgen mehrfach zitiert: „Traumwelt der Puppen“ (1991, Katalog B. Krafft) und „Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne“ (1999, Publikation hg. von P. Müller-Tamm und K. Sykora).
Dass es um den Dingcharakter der Puppe geht, macht Gundel Mattenklott schon im Titel ihres Beitrags „Heimlich-unheimliche Puppe: Ein Kapitel zur Beseelung der Dinge“ (29 ff) deutlich. Sie charakterisiert „vier Modelle der Belebung und Beseelung von Dingen“: das Übergangsobjekt (Freud, Winnicott), als zweites die Magie, die „zwischen Mensch und Ding einen irrationalen Bogen der Hoffnung oder – als feindsinnige – der Rache und Zerstörung“ spannt. „Das dritte Modell finden wir in berühmen Mythen … Diesen Mythen zufolge können nur höchste Gottheiten Menschen erschaffen“ (32). Auch die „Verlebendigungen von dinghaften Ebenbildern des Menschen, die wir als Puppen bezeichnen können, verdanken sich der Kreativität göttlicher Mächte. … Das vierte Modell bietet der schöpferischen, künstlerischen Lust des Menschen den größten Spielraum. Dinge, und unter ihnen in besonderem Maße die Puppen, werden zu Figuren, zu Protagonisten und Akteuren von Erzählungen. In der Erzählung tauschen sie ihren starren unveränderlichen Ding-Charakter gegen eine flexible, mehr oder weniger differenzierte Lebensgeschichte, die mit der des Menschen, der sie erzählt, in näherer oder weiterer Beziehung stehen mag“ (33). Mattenklott beschließt ihren präzise argumentierenden Artikel mit einer klaren Unterscheidung: „Nicht die Puppen bringen die Geschichten hervor, sondern die Geschichten die Puppen. In ihnen treten die Puppen aus der Latenz hervor, ohne notwendig ins Zwielicht des Unheimlichen zu geraten“ (40). Das ist grundsätzlich richtig; Dinge sind in Latenz, im Wartezustand; sie werden erst durch Betrachten und Benutzen faktisch und emotional ‚besetzt‘, manchmal sogar determiniert. – Allerdings: nicht von allen AutorInnen wird Mattenklotts Merksatz beachtet; es ist halt zu verlockend, aus einer Puppe etwas ‚herauszulesen‘. -
Eine schöne Bestätigung dagegen findet sich im Puppenessay von Rainer Maria Rilke, den Barbara di Noi unter dem Titel „Puppenseele und Puppending“ (203 ff) interpretiert: „Das heißt, auch das erfanden wir wieder, sie war so bodenlos ohne Phantasie, dass unsere Einbildung an ihr unerschöpflich wurde“, so Rilke – es geht also um „unsere Einbildung“ (207). Barbara di Noi kommentiert: „Da die Puppe so vollkommen ohne Phantasie ist, saugt sie als abgründiges Gefäß alle Einfälle vom Kind auf, das vergeblich von ihr eine Erwiderung erwartet“ (209) – sie aber mit Lust, könnte man fortsetzen, selbst erfindet. -
Ähnlich Claudia Peppel in ihrem Beitrag „Entlarvung der Puppe“: „Die Puppe ist eine defizitäre Figur, wie es Altner treffend beschreibt, der gegenüber man sich verhalten muss (Altner, 2005, 167). Von ihr geht ein stummer Appell nach Dynamisierung aus und ihre unresponsiveness vermag heftigste Liebes- und Hassgefühle auszulösen (Simms, 1969)“ (293). -
Auch Insa Fooken formuliert in ihrem grundlegenden Beitrag „Mehr als ein Ding: Vom seelischen Mehrwert der Puppen“ (43 ff) sehr klar: „Die Puppe hat ein Antlitz und einen Körper – beides stellt eine gute Voraussetzung dar, um sie zu animieren, sie projektiv mit seelischer Dynamik, mit Leben und Bewegung auszustatten“ (44) – projektiv also! – Dazu erläutert Fooken wichtige Erfahrungen der Entwicklungspsychologie: „Ohnehin interessieren sich Kinder praktisch von Geburt an besonders für das soziale Gegenüber, für das Gesicht und darin vor allem für die Augen, und sie sind in der Lage, auf den emotionalen Ausdruck des sie Anschauenden zu reagieren. … In diesem frühen Alter bevorzugen Kinder Gesichter deutlich vor Objekten (Auto, Herd) und zwar Jungen und Mädchen in gleicher Weise. Vier bis fünf Monate alte Babys scheinen dabei im Übrigen (noch) keinen Unterschied zwischen Menschen- und Puppengesichtern zu machen – beide werden gleichermaßen präferiert“ (46). -
Eine faszinierende Balance zwischen Pädagogik und Kunst gelingt Angela Weber mit dem Projekt „Jugendliche gestalten ihr zweites Ich“, wobei noch einmal der Ding-Charakter der Puppe thematisiert wird. Es geht um ein “museumspädagogisches Vermittlungskonzept im Museum Folkwang“, das von Puppen der Künstlerin Wiebke Bartsch ausgeht und Jugendlichen in einem Workshop die Möglichkeit gibt, von sich selbst ein „zweites Ich“, eine „Doppelgänger-Puppe“ herzustellen und sich dazu (per Foto und Film) in Beziehung zu setzen; sicherlich eine vorzügliche Möglichkeit, selbstreflexive Prozesse anzustoßen. Angela Weber kommentiert: „Die fortdauernde Faszination der Puppe, die ihren Dingcharakter zugleich ausstellt und negiert, liegt sicher zu einem großen Teil in diesem wiederholt thematisierten Charakter eines Vexierbildes“, in der „Doppelcodierung der Puppe, die zugleich auf ‚das Naturvorbild des Menschen anspielt‘ und als Artefakt ihr Gemachtsein zur Schau stellt. Dieses Changieren zwischen Natur und Kunst, Schein und Sein, Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Simulation lässt die Puppe zu einem ‚Paradigma des Künstlerischen‘ werden“ (179; die Zitate im Zitat: Müller-Tamm, Sykora 1999, S. 75). „Die gerade in künstlerischer Hinsicht bis zur Gegenwart andauernde ungebrochene Faszination für das Sujet Puppe gilt es eben auch vor dem Hintergrund der historischen Bedeutung der Puppe als Kunstobjekt der Moderne zu betrachten.“ Dabei ist für Wiebke Bartsch „der Schauplatz der künstlerischen Arbeit … der Alltag mit seinen Abgründen, der sich uns in den Spuren von (sexueller) Gewalt und Verletzungen aufdrängt“ (180). „Bartsch formuliert hier eine grundsätzliche Kritik an unserer neoliberalen Gesellschaft, in der alles einem Zweck zu folgen hat und in der“ der „Wert von Arbeit und Zeit absolut gesetzt wird. In der verschärften globalisierten Form des Kapitalismus werden die biologisch-psychologischen Bedingungen menschlicher Existenz zu beliebig manipulierbaren Faktoren. Hierauf sowie auf die alles umfassende und reglementierende Funktion von Arbeit, die jede Form von Müßiggang bereits unter Verdacht stellt, spielt Bartsch in ihrer Arbeit an“ (182).
„Ziel des Workshops ‚Mein heimlicher Begleiter‘ war es, Jugendliche zu animieren, ihren eigenen Doppelgänger zu entwerfen. Jemanden, den sie gern in ihrer Nähe haben, vor dem sie sich vielleicht aber auch fürchten, eine Art Alter Ego, jemand, der ihnen auf Schritt und Tritt folgt. Dabei sollten den Teilnehmenden des Workshops in der Gestaltung ihres Doubles keine Grenzen gesetzt sein. Ausdrücklich erwünscht waren skurrile, groteske und schrille Entwürfe des eigenen Selbst. … Bereits die Titel der ‚heimlichen Begleiter‘ zeugen von einem sehr kreativen und auch humorvollen Umgang der Jugendlichen mit ihrem zweiten Ich“ (184 f). Wenn sich die Jugendlichen dann „mit ihrem Doppelgänger als Paar vor der Kamera in Szene … setzen“, fungieren die Puppen „einerseits als Projektionsfläche und andererseits als Gegen-Ich“. „Selbst- und Fremdbild im von der Kamera dokumentierten Spiel mit der Puppe“ verschwimmen, „Sehnsüchten, Hoffnungen, aber auch Ängsten“ wird „Ausdruck“ verliehen (186). -
Pädagogisches auch bei „Fitzebutze“, dem gereimten und von E. Kreidolf illustrierten Kinderbuch von Richard und Paula Dehmel. James Krüss nannte es „in pädagogischer Hinsicht unorthodox“ (135); Roland Stark wird in seinem Beitrag „Der Hampelmann als Fanal“ deutlicher: „1900 im … Insel-Verlag erschienen, war dieses Kinderbuch ein Aufbruchssignal für eine neue Kinderliteratur – und wurde von den damaligen Medien entweder hoch gefeiert oder total zerrissen …“ (136), ist es doch „ein für das Jahr 1900 … völlig unübliches Kinderbuch, das zugleich im Eingangs- und Schlussgedicht in vielfacher Hinsicht mit einem Affront aufwartet … Der Text ist in kindlicher Altersmundart geschrieben, verzichtet also bewusst auf die Hochsprache als das üblicherweise vorgeschriebene Belehrungsinstrument und präsentiert sich gewollt kindlich, wie es Dehmel bei seiner kleinen Tochter Vera bei einem Vater-Tochter-Ausflug erlebt hatte“ (137); er setzte sich damit „bewusst der Verbalpädagogik mit Strafandrohung im Kinderbuch entgegen“ (so Marie Luise Linn im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur I, 293). Deshalb also „Fanal“ – „Dehmel wusste, wie man Bürger reizt, Obrigkeit herausfordert und Konservative wütend macht“ (137).
Dargestellt wird im Eingangsgedicht die unzensierte Auseinandersetzung des kleinen Mädchens Detta mit Gottesvorstellungen – einerseits einer aztekischen Götterfigur, vom Vater eingebracht und erklärt, im Buch als Vitzliputzli oder Witzilopochtli bezeichnet, von Detta Fitzebutze genannt – andererseits der „liebe Gott“, von dem die Mutter erzählte. Der Hampelmann ist Rollenspieler und Dialogpartner; Detta trägt ihm die Rolle an: „willst du Fitzebutze sein?“, situiert ihn „Tomm auf Haterns dhoßen Tuhl“ (‚auf Vaters großen Stuhl‘) (138). Es wird also „ein Rollenspiel eröffnet …, in dem ein kindliches Individuum einer Puppe“ (besser: einem Hampelmann) „in verschiedenen vorgestellten Gestalten begegnet“ (140). Nicht eigentlich die Beobachtung eines Rollenspiels also, sondern eine – deutlich auf Beobachtungen beruhende – Gestaltung eines Rollenspiels aus dem familiären Umfeld (Vater und Mutter von Detta sind beide an der Gestaltung beteiligt; der Text ist auf Publikation berechnet und auf Provokation – er erscheint trotzdem ‚lebensecht‘). „Das Kind bleibt nicht nur das eigenwillig handelnde Wesen, das in keine der um 1900 üblichen Beispiele von Gartenlaubenlyrik passt, auch von Strafe für den Eigenwillen, den Ungehorsam ist nirgends die Rede. Das Mädchen ist mit aller Eigenständigkeit handelnde Zentralfigur geblieben, der Hampelmann ihr untergeordnetes Gegenüber“ (143) – also auch ein Beitrag zur Genderproblematik!
Genderfragen behandelt Jana Mikota in ihrem Beitrag „Puppentexte im Dialog“ (110 ff); sie zeigt zunächst, wie Puppengeschichten einander beeinflussen, Texte also mit anderen Texten in Beziehung stehen. Ausgehend von der „Puppe Wunderhold“ behandelt sie ausführlicher die Autorinnen Emma Biller [1] und Else Ury und kommt damit notwendig zum Genderthema, behandelt doch Emma Biller „in ihren Puppengeschichten zeitgenössische Diskurse über Mädchenbildung, Lesesucht, Mädchenkindheit sowie die Rollenverständnisse von Mädchen und Jungen“ (114). Biller „fokussiert … die jeweils geschlechtsspezifischen Aufgaben und Eigenschaften von Puppenfrauen und -männern“, wertet dabei „die Rolle der Frau in der Gesellschaft auf … Frauen dienen den Leserinnen als positive Vorbilder. Puppenmänner sind dagegen eher negativ bzw. sehr einseitig besetzt. Deutlich wird hier, dass die Mädchen wenig über die Aufgaben ihrer Väter wissen und kaum in der Lage sind, sich in eine (konstruktive) männliche Rolle einzufühlen“ (116 f – nur die Mädchen? Oder auch die Verfasserin Emma Biller?). -
Ähnlich bei den „Puppen in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur“, die Susanne Blumesberger behandelt (81 ff). Blumesberger gibt zunächst wichtige Hinweise auf die „Vielfalt der kinderliterarischen Gefährten – Puppe, Stoffpuppe, (Teddy-)Bär und Wurstel“ (85), auf „die zahlreichen Kinderzeitschriften, in denen oft Puppen, Teddys oder andere Kuscheltiere eine wichtige Rolle einnehmen“ (91). Im Buch von Mira Lobe gibt es sogar die weggeworfene „Stoffpuppe Lollo“, die auf dem Müllplatz mit anderem Spielzeug zusammen aus „alten Kartons … eine Schachtelstadt“ baut, „in der sie wohnen“ (85) – Tiere, ein „Maxerl“, aber, wenn ich richtig sehe, weder Zinn- noch Bleisoldaten, weder Ritter noch Indianer, weder Renn- noch Traktorfahrer. Die ‚Puppe‘ verbleibt in der Mädchenwelt; ‚männliche‘, durch Beruf und Tätigkeit definierte Puppen scheint es nicht zu geben [2]. -
Anders die kinderlose Fürstin Auguste Dorothea von Schwarzenberg (1666-1751); „sie erschuf ihre Puppenhaus-Sammlung ‚Mon Plaisir‘“, die „auf insgesamt 14 Puppenhäuser und mehrere Außenszenen mit insgesamt 400 Figurinen in 82 Szenen“ anwuchs, nicht nur „weitgehend selbst“ (165); sie „dokumentierte mit ‚Mon Plaisir‘ nicht nur Stationen, Ereignisse und das Alltägliche ihres Lebens, sondern sie fixierte mithilfe der Puppen das vollständige Sozialtableau ihres Fürstentums, vom Bettler bis zum Metzger, vom Ratsherren bis zur Hofdame“ (169) – eigentlich also, müsste man sagen, eine Sozialforscherin. Annette Cremer, von der der Beitrag über „Puppenhäuser des Barock“ (160 ff) stammt, weist überdies hin auf die heutige virtuelle Entsprechung „in Form des populären Computerspiels ‚Sims‘“ (160) und auf interessante Überschneidungen von Bild und Realität, gab doch Auguste Dorothea ihren „Figurinen … portraithafte Gesichtszüge“ und auch von ihr „selbst gibt es mehrere Portraitfigurinen … in unterschiedlichen Rollen (Audienz, Salon, Kirche) und unterschiedlichen Graden an Öffentlichkeit“ sowie „unterschiedlichen Lebensaltern“ (169). Auguste Dorothea befand sich also „formal als lebendige Person in einem medialen Wettbewerb, das heißt, in Konkurrenz mit ihrem mehrfach vorhandenen Selbst en miniature. … Damit entwickelte Auguste eine Frühform des medialen Erlebens und der medialen Inszenierung, wie wir es als moderne Menschen möglicherweise aus unseren Fotoalben kennen“ (172). -
Inzwischen gibt es weitere Medien: „Zwischen Puppe, Roboter und Avatar – der Mensch“ (310 ff) nennt Andreas Schöffmann seinen Beitrag; dabei „kann man der Illusion erliegen oder sich der Illusion hingeben – im Sinne des ‚willing suspension of disbelief‘ (Coleridge 1871) – es handle sich um lebendige Wesen, vielleicht sogar um menschliche Wesen in Miniaturform“ (310) – wiederum also der Unterschied zwischen dem, was etwas IST und wie jemand etwas ANSIEHT – wir ‚begaben‘ die Welt und ihre Erscheinungen, wir lassen sie aber auch ‚schrumpfen‘, sprechen ihnen ihre Wirklichkeit ab! Sicherlich haben „Avatare etwas Puppen- oder Marionetten-haftes an sich“, sind allerdings nur „Simulationen …, die wir nicht (an-)fassen können“ (313). Dabei wechselt in „vielen Computerspielen … die Steuerung des Avatars durch den Spieler mit der durch Programme (scripts). Beide Instanzen sind verantwortlich für die Bewegung und Handlung eines puppenhaft simulierten Körpers. … Damit werden virtuelle Räume zu Tummelplätzen für eine neue Form von Puppen, Marionetten oder Automaten. … Allerdings ist das Phänomen simulierter Parallelwelten nicht neu, wie Annette Cremer … anhand der barocken Puppenstadt ‚Mon Plaisir‘ herausstellt“ (314). „Roboter und Avatare reihen sich … ein in eine Entwicklungslinie der Spiegelbilder des Menschen von den kultischen Miniaturen und Figuren der Antike bis zu den künstlerischen Ausdrücken heutiger Zeit“ (315). Mit einer philosophisch-anthropologischen Frage beendet Schöffmann seinen Artikel: „Was ist der Mensch? Zugriff auf diese Frage erarbeitet sich der Mensch durch die Schaffung künstlicher Repliken oder anderer medialer Produkte. Im Verhältnis der Replik oder des Mediums zum Menschen erkennt der Mensch sich selbst“ (317), formt und gestaltet er sich! [3]
Diskussion
Eigentlich geht es in dem Sammelband „Puppen“ von Fooken/Mikota um die anthropologische Fragestellung: Was ist der Mensch? Was wird aus einem Menschen, wenn er sich ein ‚Ebenbild‘ schafft – ein Kontrastbild, ein Vergleichsbild, Spiegelbild, Zerrbild - letztlich ein SPIELBILD für Bilderspiele: frei zur Bildung (in Worten, Gedanken, Werken, Tätigkeiten)?
Ein Bild ist beweglich, es protestiert nicht, es ist bequem, handhabbar, variabel, es ist offen und zugleich geheimnisvoll: weil wir uns selbst nicht kennen, ist auch unser Bild, effigies (das Gemachte, Gebildete), dunkel-verschlossen, voller Überraschungen. Was ich darin sehe, ist nicht DIE Realität, sondern MEINE Realität, meine Schöpfung; ich bin, könnte man sagen, meine Interpretation. Weil das Bild nicht spricht, müssen wir die Antworten selbst geben. Weil wir aber nur allzu gern auch Antworten erhalten, sind wir immer wieder in der Gefahr, dass Bild und Puppe „sprechen“, „Antworten“ geben, „sich“ ausdrücken.
Wie ein wirkliches Mädchen ‚zur Puppe‘ gemacht wird, beschreibt Daniela Richter in ihrer bemerkenswert dichten Interpretation der „Figur der Mileda“, herausgegriffen aus dem sozialkritischen Roman „Das Gemeindekind“ von Marie von Ebner-Eschenbach (erschienen 1887). Also noch einmal das Gender-Thema [4]. Mileda ist Halbwaise, wird aufgenommen von der Gutsherrin (Baronin) des Dorfes, auf eine Klosterschule geschickt und dann ins Kloster. „Ich sehe sie“, so Daniela Richter, „vor allem als ein Spielzeug der Baronin, ein Spielzeug, das am Ende des Geschehens zu einer Votivgabe für die Kirche wird. Hier soll Mileda vor allem für das Seelenheil ihrer Patronin und ihrer Eltern einstehen und das soziale Prestige der Baronin symbolisieren“ (223). „Die Handlungsorte für Mileda, das Schloss und das Kloster, werden so dargestellt, dass sie einem Puppenhaus ähneln“ (225). „Durch ihr exzessives Fasten erteilt Mileda letztendlich ihrer Umwelt eine Art ultimative Absage. Sie, die sowohl für ihre Gönnerin als auch ihre eigene Familie die Rolle der erfolgreichen Klosterfrau spielen soll, verweigert sich diesem Rollenspiel und zerstört das Idealbild, in das sie fortwährend gezwungen wurde und wird“ (227). „Insbesondere die Darstellung von Miledas Leiden als einem zunehmenden Verschwinden von verbalem Text deutet auf geradezu moderne Weise weiblichen Sprachverlust und den Verlust von Handlungsspielräumen an“ (228).
Nun ist Mileda im Roman freilich nur eine Nebenfigur. Das eigentliche „Gemeindekind“ ist ihr Bruder Pavel. Ebner-Eschenbachs Roman erzählt also „das Schicksal zweier Kinder …, deren Vater wegen Mordes gehenkt worden und deren Mutter eine zehnjährige Haft im Zuchthaus verbüßen muss. Während das hübsche Mädchen Mileda das Mitleid einer Gutsbesitzerin erregt … fällt ihr Bruder Pavel der Gemeinde … zur Last, die nur widerwillig ihrer Pflicht nachkommt. Den schlechten Ruf seiner Eltern lässt man ihn so spürbar fühlen, dass er immer mehr verstockt und schließlich das Musterbeispiel eines schwer erziehbaren Jungen wird …“. Miledas Einfluss „ist es zu danken, dass sich … in Pavel langsam ein Wandel vollzieht. Unbeirrsame Rechtschaffenheit … ist der Sinn seines Lebens geworden. … er hat seinen Platz im Dorfe und im Leben gefunden, an der Seite seiner Mutter, die er nach der Verbüßung ihrer Zuchthausstrafe trotz aller bösen Nachrede bei sich aufnimmt“ (B.B., Kindlers Literatur Lexikon 3834). Daniela Richter hat sich also auf eine Neben- oder besser Kontrastfigur beschränkt; dabei macht der Gesamtzusammenhang des Romans die Gender-Problematik noch schärfer: das Mädchen als leidende Helferin, der Junge als tätig die Widrigkeiten des Lebens besiegender Held.
Miledas „Verwandlung zur Puppe“ wird von Daniela Richter sorgfältig nachgezeichnet, dabei vielfach und so auch in der Überschrift ihres Beitrags als „Verpuppung“ bezeichnet; Fooken/Mikuta übernehmen diese doppelte Begrifflichkeit: „es geht um die Verpuppung als Metapher für den Prozess des Verkümmerns und Absterbens … um das ‚Zur-Puppe-Werden‘ eines ursprünglich vitalen und lebendigen Mädchens … Somit handelt es sich bei dieser Erzählung um eine als puppenhaft stilisierte Darstellung weiblicher Sozialisation“ (22). Das ist sicherlich richtig – nur scheint mir der Begriff ‚Verpuppung‘ auch als Metapher in diesem Fall nicht brauchbar, sondern irreführend: Verpuppung bezeichnet doch einen natürlichen Entwicklungsvorgang bei Insekten, also einen lebendigen, einen nicht gewaltsam herbeigeführten Prozess des Rückzugs und Neuanfangs im Gestaltwandel – mit durchweg positiver (bei Jean Paul auch ironischer) Konnotation.
Für mich ist dieses (großzügige? rücksichtslose?) Umgehen mit Begriffen signifikativ [5]; es hängt für mich zusammen mit dem liebevoll-begeisterten Blick auf die Puppe, der Herausgeberinnen und AutorInnen des Sammelbandes auszeichnet und wohl auch die TagungsteilnehmerInnen auszeichnete, aber die Gefahr birgt, die übrige Welt auszublenden oder zur Puppe hin zurechtzubiegen - getragen nicht nur von Engagement, sondern einer auch in der Publikation immer wieder spürbaren Begeisterung am Thema und der eigenen Beschäftigung mit dem Thema. So Foken/Mikota schon im Vorwort: „… eine dichte Atmosphäre, gut 20 Beiträge, jeder eine originäre Kostbarkeit, eine kleine Sternstunde, zwar nicht der Menschheit, aber der Puppenforschung“ (10) – und in „Einführende Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Tagung“: „Puppen … gelten als wichtiges Kinderspielzeug … sind mediale Performer, Kunstobjekte und nicht zuletzt kongeniale Begleiter und Doppelgänger, ausgestattet sowohl mit therapeutischen Qualitäten als auch mit bedrohlichen, den Menschen infrage stellenden Eigenschaften.“ Sie SIND, meine ich, nicht „kongenial“, sind nicht „ausgestattet“, sondern WERDEN ausgestattet von ihren Besitzern und Betrachterinnen. Deshalb attestiert auch Ariès der Puppe eine „ambivalente Verwendung“ (so zitiert auf S.15) - eine „Verwendung“! Begeisterung kann auch eine Falle sein.
Gespräche mit einer Puppe sind also eigentlich Selbstgespräche und damit gute Möglichkeiten der Selbstvergewisserung, erleichtert durch die Anwesenheit einer Gesprächs-‚Teilnehmerin‘ und damit eines Gegenübers, das kaum Widerstand leistet. Puppen sind einfacher als Menschen; man kann sie zum Menschen (zum vertrauten Partner) machen, aber auch wieder weglegen. Fooken/Mikota: „Eine der leitenden Ideen dieser Tagung war, dass Puppen in ihrer faszinierenden Doppelgängerfunktion sowie in der paradoxen Wirkung ihrer miniaturisierten Form wie in einem Vergrößerungsglas viel über Menschen und Menschen-Bilder vermitteln können“ (17). Nicht eher umgekehrt? Was einer vom Menschen weiß, sieht er auch wieder in der Puppe. Freilich „vermittelt“ die Puppe – ist nicht nur Ding, sondern Medium. – Verabschieden wir uns vom Puppenbuch mit einem Goethe-Zitat: „Glücklich ist der, dem sein Geschäft auch zur Puppe wird, der mit demselbigen zuletzt noch spielt und sich an dem ergötzt, was ihm sein Zustand zur Pflicht macht.“ (Wanderjahre I, 11)
Fazit
Fooken/Mikota haben eine von Begeisterung getragene, weitgespannte Sammlung zusammengebracht: mit 23 qualitätvollen und anregenden Beiträgen gleichsam ein Puppen-Universum eröffnend, in dem das Thema Puppe in vielfältigen Zusammenhängen aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt wird.
[1] Leider gibt es auch hier keine nähere inhaltliche Information zu der Abbildung auf dem Buchumschlag „nach einem Aquarell … aus dem 1894 erschienenen Buch ‚Im Puppenparadies‘ von Emma Biller“ (S. 4).
[2] Auch im Buch von Fooken/Mikota gibt es für die männlichen Figuren keinen eigenen Artikel - erstaunlich bei der Vielfalt der behandelten Themen!
[3] Schöffmann spricht von der „Schaffung künstlicher Repliken“ – bei dem umfassenden Ansatz des Puppenbuches überrascht es, dass es keinen Beitrag zur Darstellung von Menschen in Portrait und Selbstbildnis, als Büste oder Skulptur gibt und dass Puppen anderer Kulturen nicht einmal erwähnt werden.
[4] Ein weiteres, historisches Beispiel findet sich im Lubitsch-Stummfilm „Die Puppe“ von 1919. Die „fiktive Darstellung künstlicher Menschen nimmt … Bezug auf die sich damals bereits wandelnden Geschlechterrollen und inszeniert in Gestalt der Puppe unterschiedliche Modelle von Weiblichkeit. Auf der einen Seite die ‚natürliche Normalfrau‘, die sich zunehmend eigene Werte und Normen schafft, und auf der anderen Seite die künstlich geschaffene Idealfrau, die vom Mann als bestimmendem Akteur abhängig ist“, so Romina Seefried in ihrem Beitrag: „Angst vor einer Maus haben nur echte Mädchen“ (308).
[5] Noch ein weiteres Beispiel für diese Tendenz: In dem Beitrag von Kümmerling-Meibauer „Das Puppenhaus in der Kinderliteratur“ verblüfft ein Hinweis auf „Henrik Ibsens Drama ‚Ett Dukkehjem‘ (‚Nora oder das Puppenhaus‘, 1879)„; er wird von Fooken/Mikota aufgenommen in „Einführende Anmerkungen„: „Dabei dürfte Ibsens Drama ‚Nora oder das Puppenhaus‘ das bekannteste Beispiel für das Puppenhaus als Bild der Unterdrückung und Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse sein“ (20). Das ist verblüffend deshalb, weil als deutscher Titel nur „Nora“ oder „Nora, ein Puppenheim“ gebräuchlich ist – dem Norwegischen ‚Et dukkehjem‘ genau entsprechend. Also auch hier die Transposition einer Bezeichnung in die Puppenterminologie.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 12.12.2014 zu:
Insa Fooken, Jana Mikota (Hrsg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2014.
ISBN 978-3-525-40242-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16898.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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