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Christoph Hoeft, Johanna Klatt et al.: Wer organisiert die "Entbehrlichen"?

Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 03.07.2014

Cover Christoph Hoeft, Johanna Klatt et al.: Wer organisiert die "Entbehrlichen"? ISBN 978-3-8376-2731-2

Christoph Hoeft, Johanna Klatt, Annike Klimmeck, Julia Kopp, Sören Messinger: Wer organisiert die "Entbehrlichen"? Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtquartieren. transcript (Bielefeld) 2014. 86 Seiten. ISBN 978-3-8376-2731-2. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 34,70 sFr.
Weitere AutorInnen: Jonas Rugenstein, Franz Walter.

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Thema

Auch in benachteiligten Quartieren gibt es Menschen, die Akteure sind, sich als Teil einer res publica verstehen und sich verantwortlich fühlen für ihr Quartier. Dass Menschen sich als Teil eines Gemeinwesens verstehen können, setzt voraus, dass sie sich sozial verortet und zugehörig fühlen und das Gefühl und Bewusstsein entwickeln, gebraucht zu werden, relevant zu sein für andere.

Angesichts ihrer sozialen Lage als Verletzte, als Nutzlose, nicht wieder Verwertbare, eben als Entbehrliche, die weder ökonomisch verwertbar sind, noch als sozial kompetent oder kulturell inspirierend gelten, mag man nicht glauben, dass sie Mitgestalter und Mitgestalterinnen des Sozialen in ihrem Quartier sind.

Und sie leben auch mit dem Gefühl, dass die Gesellschaft sie nicht mehr braucht. Sichtbares Zeichen ist ihre sozialräumliche Segregation in besonderen Quartieren, die unattraktiv sind, in denen sich soziale Problemlagen verdichten und die in der Regel von der ökonomischen, kulturellen und sozialen Kerndynamik der Stadt abgekoppelt sind. Auch wissen sie ganz genau, dass sie außerhalb ihres Quartiers diskreditierbar sind – und sie werden ja auch außerhalb ihres Quartiers stigmatisiert und diskreditiert.

Autorinnen und Autoren

Christoph Hoeft, Johanna Klatt, Julia Kopp, Annike Limmeck, Sören Messinger, Jonas Rugenstein sind alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Prof. Dr. Franz Walter ist Direktor des gleichnamigen Instituts.

Aufbau

Nach einem längeren Prolog gliedert sich das Buch zunächst in drei große Abschnitte, die wiederum unterteilt sind in einzelne Kapitel:

Abschnitt A: Absicht und Ziel

  1. Problembeschreibung und Zielsetzung
  2. Forschungsstand
  3. Vorgehen und Anlage der Studie

Abschnitt B enthält nach einer Einleitung sieben Portraits von engagierten Personen, jeweils mit einer Kurzbiographie und den Motivlagen ihres Engagements.

Abschnitt C Fazit

  1. Zentrale Erkenntnisse
  2. Handlungsempfehlungen

Im Anhang findet man ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie Angaben zu den Autorinnen und Autoren.

Zum Prolog

Franz Walter setzt sich im Prolog mit dem Wahlverhalten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen auseinander und beobachtet eine zunehmende Entpolitisierung vor allem der sozial Schwächsten der Gesellschaft. Wahlenthaltung ist ein Indiz für die Spaltung der Gesellschaft (11) und der Autor macht dies fest an den französischen Verhältnissen der Bewohnerschaft der Banlieus, geht auch auf andere Länder und Studien ein. Dabei zeigt sich, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Gefühl sozialer Verortung und Zugehörigkeit einerseits und sozialem Engagement und politischer Partizipation andererseits. Es sind die Entwurzelten, die mit dem Verlust familialer Strukturen und von sozialer Einbindung und Vernetzung keine Chance sehen, in irgendeiner Form dazu zu gehören – warum sollen sie sich an einer Gesellschaft beteiligen, die sie ausgrenzt?

Der Autor geht auch auf die Frage ein, wie die Politik – die politischen Parteien – mit den Entwurzelten umgeht und in der Tat haben gerade die linken Parteien auch diese Klientel aus den Augen verloren. Dies kann man in Frankreich deutlich nachzeichnen und der Autor rekurriert auch auf französische Studien wie etwa von Dubet und Lapayronnie. Gerade in Frankreich hat sich die Arbeiterklasse enttäuscht von den Linken abgewandt, ja hat sich aus der Politik zurückgezogen.

In Deutschland konnten Gewerkschaftssolidarität und Sozialkatholizismus den Arbeiter noch einbinden. Individualisierung und Biographisierung gesellschaftlicher Existenzsicherung entlassen auch Menschen aus den sozialen Bindungen der Solidarität und Entsolidarisierung hat mit Entpolitisierung viel zu tun. Der Autor spricht von dem neuen Unten – vielleicht ist es auch ein neues Außen, das Gesellschaften in ihren Integrationspotentialen bedroht.

Und ist Bildung ein Ausweg – wie allenthalben propagiert wird? Damit setzt sich Walter ebenfalls auseinander. Er fragt zurecht, ob Bildung wirklich die Chancen erhöht, „dabei zu bleiben“. Oder müssen ganz andere Strategien entwickelt werden, die sich mit der Befähigung zu lokaler Governance umschreiben lassen und auf die ja auch die Portraits verweisen?

Zu Abschnitt A: 1. Problembeschreibung und Zielsetzung

Das Kapitel führt ganz konkret und allgemein in die Problematik der Beteiligung in der Bürgergesellschaft ein und berücksichtigt dabei die sozialräumlichen Kontexte des Quartiers oder Stadtteils, in denen diese Aktivitäten stattfinden. Weiter wird auf die Problematik so genannter „Problemquartiere“ verwiesen, die mit dem Begriff auch die Stigmatisierung schon implizieren.

Viertelgestalterinnen und -gestalter in benachteiligten Quartieren „trauen sich etwas“ auf der Ebene ihrer Möglichkeiten und ihrer Kompetenzen, aber auch im Kontext der vertrauten Interaktions- und Handlungsmuster, die im Quartier gelten.

Das wissen auch Gemeinwesenarbeiterinnen und -arbeiter und sie haben auch Strategien, solche Akteure zu mobilisieren oder sie zu Akteuren zu machen, die etwas „machen wollen“.

Die Definition des Viertelgestalters ist an bestimmte Merkmale gebunden:

  • Viertelgestalterinnen und -gestalter müssen in ihrem Quartier zivilgesellschaftlich aktiv sind,
  • sie müssen im Quartier wohnen oder doch dort länger gewohnt haben und
  • sie müssen als Teil des Viertels wahrgenommen werden und sich selbst auch so begreifen.

Es geht im Folgenden weniger um die Frage, was solche Akteure bewirken und was sie machen, als vielmehr, warum sie etwas bewirken wollen und welche Motive sie dazu bringt, „sich einzumischen“, auf der Basis welcher Werte und Vorstellungen sie das tun, welches Bewusstsein sie mit ihrem Handeln verbinden und welche Denkmuster ihren Aktivitäten zugrunde liegen. Das wird in der Fragestellung kurz beschreiben.

Zu Abschnitt A: 2. Forschungsstand

Zunächst wird in den Begriff der Zivilgesellschaft eingeführt, um den Rahmen zu haben, in dem zivilgesellschaftliches Engagement diskutiert werden kann. Was macht die Bürgergesellschaft im Kontext der Beziehung von Staat, Markt und Familie aus?

Denn zivilgesellschaftlich engagiert ist jemand, der weder staatlich handelt, noch marktförmig durch Verdienst oder Profit eingebunden ist oder private Interessen in den Vordergrund stellt. Zivilgesellschaftlich aktiv ist jemand, der sich im öffentlichen Raum für die Belange des Gemeinwesens einsetzt.

Die Autorinnen und Autoren sehen darin schon eine Beschränkung, denn in der Auseinandersetzung für das Gemeinwesen kann die zentrale Dynamik des Marktes, der Politik und individueller Interessen- und Bedürfnislagen nicht völlig außer Acht gelassen werden. Man engagiert sich nicht für etwas, für das man sich nicht auch interessiert oder das nicht einem bestimmten Bedürfnis entspricht – und wenn es das des Handelns selbst ist.

Gerade auf Quartiersebene ist dies nicht immer zu trennen und in Problemvierteln ist die familiale Struktur dominant und die soziale Kontrolle eher familiär, als dass sie öffentlich wäre.

Diese Diskussion wird ausführlich entfaltet.

Im weiteren Verlauf wird dann der Viertelgestalter/die Viertelgestalterin typisiert und die Typen werden ausführlich erörtert.

Viertelgestalter und -gestalterinnen haben zunächst auch – wie auch immer geartet – mehr Kompetenzen, mehr Kenntnisse und Erfahrungen in der Artikulation ihrer Interessen und in Verfahrensfragen u. ä.

Historisch knüpfen die Autorinnen und Autoren beim Facharbeiter an, der schon früher in Arbeiterquartieren sich engagiert hat und für andere gesprochen und gehandelt hat.

Daraufhin wird der Meinungsführer/die Meinungsführerin vorgestellt, den Paul Lazersfeld bereits in seiner Untersuchung „The People´s Choise“ eingeführt hat und meistens besitzen Viertelgestalter/innen auch die Meinungsführerschaft. Dann geht es um die primären und sekundären Schlüsselfiguren die das Geschehen im Gemeinwesen kennen und mit bestimmen.

Anschließend werden mit Hilfe eines biographischen Ansatzes Motivlagen besonders Engagierter und Mehrfachengagierter diskutiert und dazu entsprechende Beispiele aus der Praxis beschrieben.

Zu Abschnitt A: 3. Vorgehen und Anlage der Studie

Die Autorinnen und Autoren beschreiben in diesem Kapitel das Ziel der Untersuchung nochmals genauer und ausführlicher. Einmal geht es darum, zu ergründen, warum Viertelgestalter und -gestalterinnen aktiv werden, zum anderen sollte die Alltagspraxis analysiert werden, um die Rolle dieser Akteure im Viertel genauer zu bestimmen.

Weiter sollte eine große Bandbreite dieser Akteure vorgestellt und analysiert werden.

Die Untersuchung erfolgte in drei unterschiedlichen Stadtvierteln in drei Großstädten Niedersachsens. Dabei wurde auf eine möglichst große Varianz der Größe der Quartiere geachtet.

Die Rekrutierung der Viertelgestalter und -gestalterinnen erfolgte über Experteninterviews von Schlüsselpersonen, in denen auf die spezifische Situation des Viertels eingegangen wurde, auf seinen Charakter und seine Protagonisten und Protagonistinnen.

In einem weiteren Schritt wurden Einzelinterviews mit den von anderen genannten Viertelgestalterinnen und -gestalter geführt. Dabei sollte eine so groß wie mögliche Breite des Engagements abgedeckt werden. Diese Methode wird ausführlich dargestellt und begründet.

Zu Abschnitt B: Portraits der Viertelgestalterinnen und -gestalter

Im Folgenden werden in diesem Kapitel sieben Viertelgestalterinnen und -gestalter portraitiert, die sich in folgenden Bereichen oder Handlungsfeldern engagieren und die sich in ihrer Rolle folgendermaßen verstehen:

  • Engagement in der Suchttherapie
  • Die Brückenbauerin
  • Der Funktionär
  • Engagement für ein gehobenes Ansehen
  • Die professionelle Gestalterin
  • Die engagierten Bürgerlichen
  • Von der Hilfsbedürftigen zur Helferin

Diese Portraits sind jeweils gegliedert in eine Kurzbiographie, die Motivlagen des Engagements und ein Fazit.

Hier soll im Folgenden auf drei charakteristische Viertelgestalterinnen und -gestalter beispielhaft eingegangen werden, die zugleich einmal auch einen Blick auf die Gesamtstruktur des Quartiers erlauben und zum anderen auf typische Engagements in solchen Quartieren verweisen.

Die Brückenbauerin

Aufgewachsen in einer türkischen „Gastarbeiterfamilie“ sucht A. Massoud die Anerkennung zweier Gruppen: den Migrantinnen und Migranten und den Deutschen.

Gruppen, die beide selbst nach Anerkennung suchen, werden für sie zum Feld der Bestätigung ihrer Arbeit als Vermittlerin und Moderatorin. Dabei macht sie die Erfahrung der Diskriminierung. Die damit verbundenen Ambivalenzen drücken sich nach Ansicht der Autorinnen und Autoren auch in der Beantwortung der Fragen aus.

Man gehört einerseits zu der einen Gruppe, möchte andererseits auch sowohl von der einen Gruppe als auch von der anderen Gruppe anerkannt sein, relevant sein für sie und kann sich doch nicht sozialräumlich verorten, weil man dazwischen steht. Man hat eine prekäre Beziehung zur Herkunftsgruppe und wird von der anderen Gruppe nur begrenzt akzeptiert.

Insofern betrachtet A. Massoud ihr Engagement als Leistung. Sie spricht gut Deutsch, was die Deutschen auch bewundern und was sie auf ihre Leistung zurückführt und was ihr auch ein gewisses Selbstbewusstsein gibt. Sie möchte für andere ein engagiertes Vorbild und eine gefragte Person sein, die für andere von Bedeutung ist. Sie identifiziert sich mit ihren Aufgaben und kann dementsprechend auch bei Schwierigkeiten nicht gut loslassen.

Ihr Engagement gilt auch dem Kampf gegen Klischees wie dem des Kopftuchs.

A. Massoud entwickelt ein Gemeinschaftsgefühl, wie sie es aus ihrem Heimatdorf in der Türkei kennt und ihr Engagement gilt auch einem Gemeinsinn, den die Stadt so nicht entwickeln kann.

Insgesamt wird im Fazit deutlich, dass das Engagement A. Massouds positiv bewertet wird, andererseits engagiert sie sich am Rande der jeweiligen Akzeptanz der Gruppen wie der zitierte „marginal man“. Als Brückenbauerin steht sie auf ihren selbst gebauten Brücken, zwar stolz auf ihre Leistung, aber mit all den Ambivalenzen des Hin- und Hergerissen-Seins zwischen zwei Ufern.

Die professionelle Gestalterin

Nachbarschaftstreffs der Arbeiterwohlfahrt (AWO) kennt man allenthalben – M. Kruse leitet so einen. Sie selbst kommt aus Polen, war dort Lehrerin für Deutsch in einer Internatsschule. Als sie nach Deutschland kommt, kann sie ihrem alten Beruf nicht mehr arbeiten (ihr Hochschulabschluss wird nicht vollständig anerkannt). Ihre Motivlage ist vor dem Hintergrund einer Professionellen mit Migrationserfahrung zu interpretieren, die ihren Weg in Deutschland sucht und nachempfinden kann, wie es anderen in ähnlichen Situationen ergeht.

Ihr Engagement ist als Empowerment zu verstehen, als eine Art der Selbststärkung, indem sie andere stärkt, die durch wiederum andere angezweifelt werden und durch Selbstzweifel gequält werden. Als professionelle Lehrerin versteht sie ihre Aufgabe auch als Erziehung; sie konstituiert ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zu ihren Klienten. Sie ist auch eine Autoritätsperson und kämpft gegen Vorurteile und gegen Ausgrenzung mit ihren Erfahrungen als Außenseiterin.

Engagement als Leistung ist ein weiteres Motiv, Erziehung und Sozialisation zur Arbeit ist ein zentrales Moment ihrer Erziehung. Leistung ist auch für sie ein zentrales Element ihrer Identität. Angst vor Fehlern und Perfektionismus prägt ihren Leistungsgedanken.

Aber sie schafft Vertrauen. Als Leiterin des AWO-Nachbarschaftstreffs kann sie ehrenamtliche Helfer immer wieder motivieren und einbinden. Sie vermittelt das Gefühl, verantwortlich zu sein.

Die engagierten Bürgerlichen

Am Rande des Problemviertels wohnt das Ehepaar Schmidt, das auch von den Autorinnen und Autoren als Sonderfall geschildert wird, eben weil sie Viertelgestalter sind, aber nicht im Viertel wohnen. Sie wohnen in einem Mittelschichtsquartier, engagieren sich wie viele andere freiwillige Anwohner eines Parks um das Nachbarschaftszentrum herum für die Erhaltung und Pflege dieses Bürgerparks und sind bekannt als diejenigen, die dies mit großem Engagement tun.

Nach einer ausführlichen Biographie beider wird zunächst das Engagement von Herrn Schmidt als Hilfe in der Nachbarschaft umschrieben, geprägt durch eine religiöse Gemeinschaft, der er angehört und die die gegenseitige Hilfe in den Vordergrund stellt. Wie im Dorf wird Vergemeinschaftung als gedeihliches Zusammenleben auf Gegenseitigkeit interpretiert.

Krankheitsbedingt frühverrentet begreift er sein Engagement als Arbeitskompensation. Schließlich war seine Berufskarriere auch von Aufstiegsmomenten gekennzeichnet und geprägt. Insofern ist die Frühverrentung auch ein Bruch, mit dem man umgehen muss – und sein Engagement versteht er auch dahingehend. Aber es macht auch Spaß.

Frau Schmidts Engagement wird als ein typisch bürgerliches beschrieben. Aktiv in Vereinen und beim NABU, beschränkt sich ihr Engagement weitgehend auf die gärtnerischen Aktivitäten im Bürgerpark. Sie meint dies auch tun zu müssen, sie fühlt sich verpflichtet, etwas zu tun und Verantwortung zu übernehmen, was sie von ihrem Elternhaus selbst so beschreibt. Um die Passivität zu überwinden, die mit der Vorruhestandsregelung ihres Mannes eintrat, hat der sich zunächst im Nachbarschaftstreff engagiert, was für Frau Schmidt der Auslöser war, sich selbst zu engagieren.

Dieses Engagement ist mit Anerkennung verbunden, mit Erfolgserlebnissen, die auch das Selbstbewusstsein stärken und Emanzipation im Engagement ist ein starkes Motiv für ihre Arbeit. Sie kommuniziert mit Menschen, die ihre Hilfe auch in Anspruch nehmen – das tut ihr gut, bis hin, dass sie mit Ein-Euro-Jobern zusammenarbeitet oder mit Menschen, die Sozialstunden ableisten müssen – also eine Art Sozialarbeit.

Im Fazit wird dies alles noch einmal reflektiert – auch gerade in der Kombination als Paar sehen die Autorinnen und Autoren einen Vorteil, weil sich das Paar gegenseitig motiviert und hilft, sich quasi gegenseitig sozialisiert.

Zu Abschnitt C: Fazit

1. Zentrale Erkenntnisse

Hier geht es noch einmal um die Frage, was die Viertelgestalterinnen und -gestalter antreibt und wie Viertelgestalterinnen und -gestalter entstehen. Weiter geht es um die Frage des Verhältnisses dieser Viertelgestalterinnen und -gestalter zu den Institutionen im Viertel und wie sie kooperieren. Abschließend wird die Frage diskutiert, welches Verhältnis diese Akteure zu ihrem Viertel haben.

Folgende zentrale Motive machen die Autorinnen und Autoren aus: Suche nach Anerkennung, Arbeitseinsatz, Familienersatz und soziale Kontakte, Therapiefunktion, Spaß und Pflicht. Dabei entwickeln die Akteure durchaus auch (Ideal-)Vorstellungen über den Sinn ihres Engagements und über ihre Ziele.

Ein anderes immer wiederkehrendes Motiv ist der Erziehungsauftrag.

Vieles hat mit der Sozialisation der Viertelgestalterinnen und -gestalter zu tun, mit Schlüsselereignissen im Lebenslauf und mit beruflichen und anderen Werdegängen, aber auch mit Kompetenzen und Ressourcen, die auch in ihre Wert- und Erziehungsvorstellungen einfließen. Dies wird ausführlich und gründlich erörtert.

Für die Beziehung der Viertelgestalterinnen und -gestalter zu den im Viertel agierenden Institutionen sind die Jugend- und Nachbarschaftstreffs und die dort tätigen Sozialarbeiterinnen und -arbeiter von großer Bedeutung.

Aber auch von Institutionen unabhängig werden Viertelgestalterinnen und -gestalter bedeutsam aktiv, wenn sie z. B. selbst Vereine oder Non-Profit-Organisationen gegründet haben.

Die Institutionen sind aber nicht die Ansprechpartner für politische oder strukturelle Veränderungen im Quartier. Zwar verändert sich das Quartier durch solche Akteure, dies wird aber auf einer politischen oder strukturellen Ebene nicht angestrebt – eher auf der Handlungsebene.

Wird von Viertelgestalterinnen und -gestaltern ihr Engagement als Arbeit im Sinne von Lohnarbeit verstanden? Lässt sich zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt mit Lohnarbeit verbinden?

Diesen Fragen gehen die Autorinnen und Autoren nach und haben dazu wenige Hinweise gefunden.

Die Viertelgestalterinnen und -gestalter haben ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Viertel. Sie sehen, dass es Probleme gibt, wollen aber nur zum Teil akzeptieren, dass sie in einem Problemviertel wohnen. Sie sind ein Teil eines Viertels, mit dem sie sich identifizieren, dessen Ruf jedoch außerhalb des Quartiers diskreditierbar macht.

2. Handlungsempfehlungen

Wie kann Viertelgestalterinnen und -gestalter geholfen werden, wie können sie unterstützt werden, wie ihre Arbeit erweitert und fortgesetzt werden?

Dazu geben die Autorinnen und Autoren einige Handlungsempfehlungen.

  1. Ein „Aufwachsen“ im Engagement ermöglichen. Solche Akteure fallen nicht vom Himmel. Vielmehr haben sie sich entwickelt und ihre Entwicklung zeigt, dass sie durch das Viertel auch sozialisiert wurden. Dies ist der Beginn von Engagement. Dazu bedarf es niedrigschwellige Zugänge und Einstiege, man braucht das Gefühl der Bedeutung der Aktivität im öffentlichen Raum, es bedarf spezifischer Angebote sich zu engagieren (Ehrenamtsbörsen) und Menschen im Viertel müssen sehr früh eingebunden werden in Planungs- und Entscheidungsprozesse, die ihr Quartier betreffen.
  2. Feste Strukturen sind Voraussetzung für alles andere. Viertelgestalterinnen und -gestalter brauchen feste institutionelle und strukturelle Bedingungen ihres Handelns (Mandat). Sie brauchen eine feste Infrastruktur, Räumlichkeiten, wo man sie findet, den Rückhalt tradierter Strukturen der Vereine oder anderer Organisationen (Kirchen) und sie brauchen das Gefühl, nicht Ersatz für Soziale Arbeit zu sein.
  3. Anerkennung kann viel bedeuten. Viertelgestalterinnen und -gestalter brauchen Anerkennung auf vielfältige Weise. Sie brauchen das Gefühl, von der Bewohnerschaft anerkannt zu sein, aber auch von den Institutionen, von der Verwaltung, von politischen Akteuren. Oft geht es um symbolische Anerkennung (Urkunden, Medaillen, Orden u. ä.), aber es geht auch um die Anerkennung als Experte, als jemand der sich hier auskennt, gefragt wird und Bedeutung hat für andere – und das auf Augenhöhe. Es geht auch um die Anerkennung der Leistung, die ja schließlich erbracht wurde.
  4. Verlässlichkeit im Engagement steigern. Solche Akteure brauchen finanziell und institutionell längerfristig angelegte Projekte und Förderungsrahmen.
  5. Weg vom „Problemviertel“. Viertelgestalterinnen und -gestalter müssen sich mit ihrem Viertel identifizieren können. Es ist ihr Viertel. Einen positiven Bezug zum Viertel zu schaffen, ist unabdingbar, die Gemeinschaft des Viertels muss erfahrbar werden und die Übergänge zum Quartier müssen gestaltet werden.
  6. Lösungen für das Viertel liegen nicht nur im Viertel. Wie kann Ehrenamt in Erwerbsarbeit überführt werden für die, die keine Arbeit haben? Es geht nicht um den Einstieg in den Arbeitsmarkt, aber Arbeit ist nur als bezahlte Arbeit sozial anerkannt und viele brauchen bezahlte Arbeit zur Existenzsicherung, aber auch zur Identitätssicherung. Was vielleicht der pensionierte Oberstudienrat nicht braucht, wird hier als wichtig für die Status- und Identitätssicherung angesehen.
  7. Viertelgestalterinnen und -gestalter als Schlüsselfiguren für eine demokratische Zivilgesellschaft? Diejenigen, die sich als Teil einer res publica verstehen können, für die sie mitverantwortlich sind, sind letztlich auch Schlüsselfiguren für den Zugang zu lokaler Demokratie. Denn nur dadurch funktioniert sie, dass man sich als Teil des Gemeinwesens verstehen kann und es mit zu gestalten wünscht.

Diskussion

Benachteiligte Stadtteile haben durchaus ihre Potentiale. Bewohnerinnen und Bewohner betrachten durchaus ihr Wohngebiet als das ihre. Man muss die Ressourcen entdecken und entwickeln, was wir aus vielen Projekten der Gemeinwesenarbeit, der Stadtteilarbeit oder des Quartiermanagement kennen.

Und die Viertelgestalterinnen und -gestalter finden wir nicht nur in vielfältigen Bereichen, sondern auch auf verschiedenen Ebenen – und wenn es der seine Mechanikerlehre abgebrochene 18Jährige ist, der anderen hilft, ihre Motorräder zu reparieren. Relevant sein für andere – das scheint die höchste Form sozialer Integration zu sein. Akteur zu sein, der die Geschicke seines Quartiers ernstnimmt, weil er sie kennt und sie mitgestalten will und dabei und deshalb sich als Teil eines Gemeinwesens verstehen kann, ist nicht nur eine Form zivilgesellschaftlichen Engagements - es ist die identitätsstiftende und integrationssichernde Befähigung, ein Bürger zu sein.

Die hier vorgestellten Portraits sind die Spitze eines solchen Phänomens zivilgesellschaftlichen Engagierens in benachteiligten Quartieren und sicher sind sie wegweisend für die Vorstellung möglicher Aktivitäten und Projekte in solchen Quartieren. Und auch die Typisierung überzeugt. Die Verbindung von biographischen Entwicklungen und Ereignissen mit den jeweiligen Aktivitäten ist ein reizvoller Ansatz, zumal er auch auf einem narrativen Ansatz beruht. Die Portraits belegen, wie sehr die Sozialisation und Lebensgeschichte einerseits mit den angegebenen sozialräumlichen Gegebenheiten heute andererseits verbunden werden können, um zu erklären, warum jemand genau das tut, was er tut.

Fazit

Ein gelungenes Buch, das mit seiner Analyse der Akteure in benachteiligten Quartieren auch den- oder diejenige/n mit einem solchen Quartier vertraut machen kann, der/die sonst keinen mentalen Zugang zu solchen Quartieren haben.

Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em. Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Es gibt 172 Rezensionen von Detlef Baum.

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Zitiervorschlag
Detlef Baum. Rezension vom 03.07.2014 zu: Christoph Hoeft, Johanna Klatt, Annike Klimmeck, Julia Kopp, Sören Messinger: Wer organisiert die "Entbehrlichen"? Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtquartieren. transcript (Bielefeld) 2014. ISBN 978-3-8376-2731-2. Weitere AutorInnen: Jonas Rugenstein, Franz Walter. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16906.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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