Richard Sennett: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.05.2004

Richard Sennett: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit.
Berliner Taschenbuch Verlag
(Berlin) 2004.
343 Seiten.
ISBN 978-3-8333-0074-5.
CH: 19,00 sFr.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Thema des Buchs
"Respekt ist ein knappes Gut", so der 1943 geborene amerikanische Autor bei seiner Suche: "Wie kann man verhindern, dass Menschen sich angesichts ungleicher Talente entmutigen lassen oder Ressentiments entwickeln?". Das 2002 mit dem Titel "Respect in a World of Unequality" in New York erschienene Buch, liegt nunmehr in der Übersetzung von Michael Bischoff in Deutsch vor; zum Glück!
Inhalt
Der Autor nennt die Arbeit ein Experiment; nicht etwa deshalb, weil es sein erstes Buch wäre - der Autor gilt in den USA als ein vielbeachteter, bekannter Theoretiker und Sezierer von Zeit- und Kulturgeschichte - sondern weil er das Thema zum Gegenstand der Erforschung von sozialen Problemen mitten in seiner Gesellschaft genommen hat. Zwar nicht als Autobiographie, so doch unter Berücksichtigung seiner eigenen Lebensgeschichte - "Ich bin im Sozialhilfesystem aufgewachsen und konnte ihm schließlich dank meiner eigenen Fähigkeiten entkommen". Er verbrachte einen Teil seiner Kindheit mit seiner Mutter in "Cabrini Green", einer ethnisch gemischten Enklave in Chicago, die von den Stadtplanern 1942 mit dem Ziel gebaut wurde, die Flucht der Weißen aus den von Schwarzen bewohnten Stadtteilen zu verhindern. Ursprünglich sollten dort, mitten in Chicago, drei Viertel Weiße und ein Viertel Schwarze wohnen; aber das Verhältnis kehrte sich bald um. Seine Erinnerung an diese Zeit, an den "Glaskrieg", bei dem sich die weißen und schwarzen Kinder und Jugendlichen gegenseitig mit Glasscherben Straßenschlachten lieferten, war, dass die weißen Bewohner der Cabrini-Siedlung die schwarzen Mitbewohner abwertend und distanzierend "die" nannten, wie die Bewohner der Siedlung insgesamt von den in den wohlhabenderen Vierteln residierenden ebenfalls "die" bezeichnet wurden. Aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen, bei seiner ersten Liebesbeziehung mit einer schwarzen Philosophiestudentin, seinen Auseinandersetzungen während seines Studiums in Harward, vor allem mit seinem Lehrer David Riesman ("Die einsame Masse") und seinen psychologischen und soziologischen Studien entwickelte sich für Sennett "seine" Schlüsselfrage: "Ungleichheit kann Unbehagen verursachen, und Unbehagen mag den Wunsch auslösen, eine Verbindung herzustellen"; jedoch erschwere diese Gefühlskette von Zurückhaltung, Unbehagen über die eigenen Privilegien und Wunsch nach Kontakt die Absicht, jemandem Respekt zu erweisen, der auf der sozialen oder ökonomischen Stufenleiter tiefer stehe als man selbst. Die Frage, was "Respekt" eigentlich sei, versucht Sennett in seinem Buch mit eigenen Erinnerungen und Erlebnissen, etwa als studentischer Interviewer oder später als Schriftsteller, zu ergründen: Status, Prestige, Anerkennung, Ehre, Würde, sind einige der Begriffe, die er in einer Mischung aus praktischer Erfahrung und theoretischer Reflexion diskutiert.
Diesem ersten Teil der "Erinnerungen" folgen im zweiten Teil die "Nachforschungen". Hier stellt er die spannende Behauptung auf, dass "Abhängigkeit" ein wichtiges, vielfach unterschätztes und vernachlässigtes soziales Gut sei: "Kümmere dich nicht um mich, ich kann schon selbst für mich sorgen" - diesem Menschen sollte man die Tür weisen, denn jemand, der andere so wenig braucht, kann unsere Bedürfnisse niemals ernst nehmen! So sind für ihn "Abhängigkeit" und "Autonomie" zwei Seiten einer gleichen, wichtigen gesellschaftlichen Medaille.
Im dritten Teil zeiht der Autor die Reformer des Sozialstaates als schlechte Soziologen, weil sie meinten, Arbeit sei eine bessere Grundlage für Selbstachtung als eine monatliche Überweisung aus der Sozialhilfe; damit würde nur die Ungleichheit des Respekts vergrößert und die Kluft zwischen den Sozialhilfeempfängern und der übrigen Gesellschaft vertieft. Daraus entwickeln sich, so Sennett, in flachen, kurzfristig orientierten Organisationen und Institutionen soziale Defizite, die von der Gemeinschaft ausgeglichen werden müssten.
Im vierten Teil des Buches geht es um "Charakter und Sozialstruktur" des Respekts, um das "Gegenseitige an gegenseitigem Respekt"; nicht zuletzt um das Wissen und die Anerkennung der Riten und Rituale in der gesellschaftlichen Kommunikation. Sennetts Quintessenz? Damit Menschen einander mit Respekt begegnen können, müssten sie Tauschbeziehungen einer ganz besonderen Art eingehen: Sie müssten mit ihren stillschweigenden und gewohnten Annahmen und den vermeintlich gemeinsamen Weltbildern brechen.
Sennets Arbeit zeichnet sich darin aus, dass sie "Stärke" und "Schwäche", "Macht" und "Ohnmacht" in Frage stellt und die Gleichheit, jene Autonomie des Menschen, um die seit Jahrtausenden immer wieder gerungen wird, auf eine neue gesellschaftliche Waage legt. Autonomie bedeutet, "dass man an anderen Menschen akzeptiert, was man nicht versteht". Das heißt nicht nur, dass man Schwachen oder Außenseitern Autonomie zubilligt und ihnen damit ihre Würde lässt; es heißt auch, eine gesellschaftliche Kultur zu entwickeln, "wie der Starke jenen Menschen mit Respekt begegnen kann, die dazu verurteilt sind, schwach zu bleiben". Sennett setzt damit mit seinem Buch jenen Diskurs fort, den z. B. die Weltkommission "Kultur und Entwicklung" 1995 mit der Forderung nach einer "globalen Ethik" initiiert hat und der Forderung nach internationalen Standards für Menschenrechte, Demokratie und Minderheitenschutz, denn "Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger, Unwissenheit, Krankheit, Elend und Ausgrenzung sind Übel, die noch nicht eingedämmt sind. Sie werden noch genährt durch kulturelle Traditionen einer engstirnigen Selbstsucht, von Vorurteilen und irrationalem Hass". Sennets Plädoyer für Respekt knüpft an die Visionen nach einer "lebendigen Demokratie", nach Zivilcourage und Mut im Alltag an, wie sie auch Gerd Meyer in seinem Buch "Lebendige Demokratie. Zivilcourage und Mut im Alltag. Forschungsergebnisse und Praxisperspektiven" (2004) (vgl. die Rezension) formuliert.
Fazit
Der von Sennett gezeichnete dritte Weg, wie eine Gesellschaft die Menschen befähigt, den Respekt der anderen zu gewinnen - nämlich den anderen etwas zurück zu geben - bedarf unserer Aufmerksamkeit, wenn wir wollen, dass unsere eigene, wie die globale Gesellschaft sich human entwickelt und damit als Menschheit überlebt.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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