Thomas Bock, Kristin Klapheck u.a.: Sinnsuche und Genesung
Rezensiert von Ilja Ruhl, 02.09.2014

Thomas Bock, Kristin Klapheck, Friederike Ruppelt: Sinnsuche und Genesung. Erfahrungen und Forschungen zum subjektiven Sinn von Psychosen. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2014. 256 Seiten. ISBN 978-3-88414-577-7. D: 29,95 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Das Buch „Sinnsuche und Genesung“ geht der Frage nach, ob und in welcher Weise schwere seelische Krisen von Betroffenen (und Angehörigen) mit Sinnhaftigkeit verbunden werden. Der Leitgedanke dabei ist ein Verständnis psychischer Störungen, das nicht ausschließlich mit biologischen Erklärungsmodellen arbeitet sondern psychische Krankheit, deren Entstehung und Auswirkung als ins Leben eingebettete Krise begreift.
AutorInnen
Prof. Dr. Thomas Bock, Diplom-Psychologe, ist Leiter der Spezialambulanz für Psychosen und Bipolare Störungen sowie der Krisentagesklinik des UKE Hamburg. Er ist Autor vieler Fachbücher aus dem Bereich der Sozialpsychiatrie.
Kristin Klapheck ist ebenfalls Diplom-Psychologin und am Therapiezentrum Psychose und Sucht tätig. Für eine Arbeit zum SuSI-Projekt erhielt sie den Sozialpsychiatrischen Forschungspreis 2012.
Friederike Ruppelt ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am UKE.
Aufbau
„Sinnsuche und Genesung“ ist nach einer Einleitung in fünf Hauptabschnitte unterteilt.
Zu 1. Grundsätzliches
In diesem Abschnitt stecken die AutorInnen den theoretischen Rahmen ihrer Betrachtungen des Sinns ab. Sie beleuchten das menschliche Phänomen der Sinnsuche und der Bedeutung von Sinn für das menschliche Denken und Handeln aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftler (z.B. Viktor Frankl). Den Hintergrund der Betrachtungen bildet dabei der Aspekt des Sinns im Zusammenhang psychischer Erkrankung. Desweiteren wird Antonovsky und sein salutogenetisches Modell angeführt. Das diesem Modell zugrundeliegende Kohärenzgefühl setzt sich aus drei Komponenten zusammen, von denen die Sinnhaftigkeit (oder auch Bedeutsamkeit) die größte Schnittmenge mit dem Thema „Sinn“ bildet.
Eine Verbindung zwischen Sinn und Belastungsbewältigung finden die Autoren in der Stress-Theorie von Park und Folkmann, in der die individuelle Sinnsuche eng mit Bewältigungsstrategien verknüpft ist.
Ein weiteres Kapitel befasst sich mit den problematischen Konzepten Krankheitseinsicht und Compliance. Die AutorInnen referieren die aus der Recovery-Forschung bekannte Erkenntnis, dass PatientInnen mit individuellem Krankheitskonzept häufiger eine bessere Lebensqualität haben als jene, die das medizinische Krankheitskonzept übernehmen. Noncompliance wird nicht als Störung definiert, sondern sei als „Beziehungsangebot zu verstehen“ (S. 34). Diesen zwei Themen schließt sich eine Übersicht über die anthropologische Psychiatrie und ihre Grundannahmen sowie eine kritische Betrachtung der Eindimensionalität von Diagnoseklassifikationssystemen an. In direktem Zusammenhang mit dieser Thematik steht auch die Frage danach, ob es zu einer tatsächlichen Zunahme von psychischen Erkrankungen gekommen ist oder ob nicht die verbesserte Versorgung zu steigenden Inanspruchnahmezahlen geführt hat. Das Kapitel schließt mit der Darstellung des Recoveryansatzes und einer Vertiefung der Frage, ob Psychosen (auch) die Möglichkeit bieten, Sinnhaftigkeit zu begründen.
Zu 2. Der Stellenwert von Sinn, Bedeutung und Aneignung
Der Schwerpunkt dieses Abschnitts liegt auf der Darstellung der SuSi-Studie. Dieser Darstellung vorangestellt wird ein Text von Gwen Schulz, die als Betroffene über ihre Psychose berichtet und wie sie diese für ihr Leben und in ihrem Leben verortet.
Die SuSi-Studie besteht aus einer Vielzahl von Teilprojekten, die im Zeitraum zwischen 2007-2015 durchgeführt wurden bzw. werden. Mittels der SuSi-Studie sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob und wie von psychischer Erkrankung Betroffene ihre Krankheitserfahrungen mit Sinn und Bedeutung ausstatten. Neben Querschnittsbefragungen mit PsychosepatientInnen wurden in einigen Erhebungen auch weitere Daten ermittelt, z.B. zur Lebensqualität und Religiosität. In weiteren Studien wurde der SuSi-Fragebogen auf andere Patientengruppen (Bipolare Störung) und neue Zielgruppen (Angehörige, Profis) erweitert.
Der Darstellung der Implikationen bei der Erstellung des Fragebogens folgen Ausführungen zu den Gütekriterien des neu entwickelten Erhebungsinstruments. Sabrina Koschinsky stellt dann die Auswertungsergebnisse zu den erhobenen qualitativen Daten vor, die mittels eines Kategoriensystems geordnet und statistisch ausgewertet wurden. Simone Nordmeyer befasst sich mit der Frage, ob und wenn ja, wie Lebensqualität und Sinnbedürfnis zusammenhängen. Die entsprechenden Daten stammen aus einer SuSi-Erhebung, in der man eine verkürzte Fassung des „Quality of Life Enjoyment and Satisfaction Questionnaire“ integriert hat. Eine der Hypothesen ging davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verständnis für die Entstehung der Erkrankung und positiven Auswirkungen „moderiert durch objektive Parameter der Lebensqualität“ (S. 101) existiert. Diese Hypothese bestätigte sich nicht.
Es folgt ein Kapitel zum Zusammenhang von Religiosität und subjektivem Sinn von Julia von Iljin.
Hier zeigt sich, dass Menschen mit Psychoseerfahrung, die religiös sind, vielfältigere Sinnkonstruktionen erleben als nicht religiöse. Gleichzeitig erleben sie ihre Symptome positiver. Diesem Kapitel schließt sich der Erlebnisbericht von Robert Thessler an, der von seinem religiösen Erleben eben auch vor dem Hintergrund seiner Psychose handelt.
Zu 3. Wie andere den Sinn sehen – Verständigung über Sinn
Ein Teilprojekt der SuSi-Studie befasst sich mit der Sinnkonstruktion von Angehörigen und Professionellen. Diesem Thema widmet sich „Sinnsuche und Genesung“ in einem eigenen Kapitel. Janine Berg-Peer, die Mutter einer seit 17 Jahren an Schizophrenie erkrankten Tochter, leitet mit ihren Erfahrungen dieses Kapitel ein. Sie geht der Frage nach dem Sinn der Erkrankung sehr kritisch nach und orientiert sich vielmehr an rationalen Erklärungen und evidenzbasierten Therapien als an einer Sinnkonstruktion, von der sie nicht die entsprechende Hilfe erwartet.
Kirsten Khaschei zeigt die Perspektive der Ehepartnerin eines Menschen mit Bipolarer Störung. Sie findet auf der Suche nach dem Sinn in der Erkrankung ihres Mannes durchaus Anknüpfungspunkte zu ihrer eigenen Person. So beschreibt sie z.B., dass ihr hierdurch Erkenntnisse und Erfahrungen geschenkt worden seien und ihr Gefühsleben dadurch (wenn auch nicht immer positiv) reicher geworden sei.
Christiane Uhlmann stellt den Fragebogen und die Befragungsergebnisse zum SuSi-FAM vor. Hier kommt sie zu dem Ergebnis, dass es eine deutliche Passung zwischen Angehörigen, Behandlern und Betroffenen in Bezug auf das Erleben und die Bedeutung von Psychosen gibt. Behandler neigen aber dazu, stärkere Positivsymptomatik eher mit destruktiven Auswirkungen für die Betroffenen zu verknüpfen. Eltern zeigten sich optimistischer gegenüber PartnerInnen und anderen Angehörigen. Thematisch eingebettet ist das dann folgende Kapitel zu den Psychoseseminaren, die aufgrund ihres trialogischen Charakters die Möglichkeit bieten, sich über Sinnkonstruktionen zwischen Betroffenen, Angehörigen und Profis auszutauschen. Im Rahmen der SuSi-Studien wurde der Versuch unternommen, Psychose-Seminare unter dem Aspekt zu evaluieren, inwiefern eine Teilnahme „das Erleben von Psychosen konstruktiv verändert sowie Sinnfindung und Genesung erleichtert“ (S. 138). Außerdem sollte eruiert werden, ob die Teilnahme an einem Psychoseseminar die Einstellung gegenüber Recovery verändert. Die Leserinnen erfahren zudem, welchen persönlichen Nutzen sich Erfahrene, Angehörige und Profis von ihrer Teilnahme erhoffen und wie sich Sinn und Bedeutung von Psychosen aufgrund der Teilnahme verändert haben.
Zu 4. Sinnsuche bei anderen Erkrankungen
Es folgt der Abschnitt zur Sinnsuche bei weiteren Erkrankungen. Auch hier leitet ein Erfahrungsbericht aus Sicht einer von Depressionen Betroffenen das Thema ein (Lilly Unverzagt). Es folgt ein Text von Daniel Hell, der der Frage nachgeht, ob sich in der Depression auch Sinn entdecken lässt. Dabei spannt er den Bogen von historischen Aspekten der Erkrankung bis zu philosophischen Überlegungen. Henrik Meyer berichtet von seinen Erfahrungen mit der bipolaren Erkrankung. In diesen Schilderungen ist das Prinzip der Hoffnung zentral. Es schließt sich eine Beschreibung von Candelaria Mahlke an, in der sie die Adaptation des SuSi-Fragebogens zur Erfassung des Sinnverständnisses bei Menschen mit Bipolarer Störung vorstellt. Ergebnisse aus dieser Teilstudie lagen aber noch nicht vor.
Mit den möglichen gewinnbringenden Aspekten traumatisierender Erfahrungen befassen sich Martina Stubenvoll und Ingo Schäfer. Die AutorInnen machen aber auch auf die Gefahr aufmerksam, die das „posttraumatische Wachstum“ in Form der Vermeidung der Auseinandersetzung mit negativen Traumafolgen in sich trägt (S. 174).
Anja Mehnert setzt sich mit dem Lebenssinn und Sinnsuche bei Menschen, die an schweren körperlichen Erkrankung leiden auseinander. Sie referiert zunächst die Ergebnisse verschiedener Studien zum Zusammenhang zwischen schwerer Erkrankung und z.B. Spiritualität, Lebenswille und Hoffnung, um dann auf verschiedene sinnbasierte Interventionen einzugehen, die sie in einer Tabelle mit ihren verschiedenen Implikationen auflistet.
Zu 5. Praktische Konsequenzen: Sinnbedürfnis und Therapie
Der letzte große Abschnitt des Buches befasst sich mit verschiedenen therapeutischen Ansätzen, die mal mehr, mal weniger auch Sinn bezogene Aspekte integrieren. Den Hintergrund der Schilderungen zu den einzelnen Therapien bildet in einigen Kapiteln die Einbeziehung des SuSi-Fragebogens in die Arbeit mit den KlientInnen bzw. PatientInnen. Die AutorInnen Suzanne, Julie Mewes und Jörg Niewöhner leiten den Abschnitt mit ihrem Text zu den Erfahrungen mit dem Stimmenhörer-Netzwerk ein. Hier wird der Zusammenhang zwischen Sinnfindung und therapeutischer Wirkung besonders deutlich. Während versucht wird, den Stimmen und dem, was sie sagen, Bedeutung und Sinn zuzuschreiben, bzw. einen solchen zu ergründen, findet gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit den eigenen „Wünschen und Ängsten“, aber auch mit „vergangenen Erfahrungen“ statt (S. 188), was als entlastend oder therapeutisch wirksam erlebt werden kann.
Martin Kolbe befasst sich mit dem Bipolar-Netzwerk, einem Internet-Forum, in dem sich Betroffene und Angehörige austauschen. Kolbe stellt Statements von verschiedenen TeilnehmerInnen aus dem Forum vor, in denen es um die Frage geht, ob insbesondere der Manie ein tieferer Sinne innewohnt. Diese Frage wird im Forum kontrovers und sehr differenziert diskutiert.
Es schließt sich ein Text zur Soteria an, die zunächst in ihren Grundideen erläutert wird. Eine Psychose wird dabei auch als Ausdruck von aktuell unlösbaren Konflikten und Ängsten verstanden. Dies erfordert in der Intervention wiederum ein Verständnis, das es ermöglicht, aus dem „psychotischen Erleben eine Erfahrung zu machen, die Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beinhaltet“ (S. 206). Gruppenarbeit findet nicht mit psychoedukativem Anspruch statt, sondern zielt darauf ab, individuell Wesen, Sinn und Zweck der Psychose zu ergründen.
Das ursprünglich aus den USA stammende und in England und in weiteren europäischen Staaten angewandte Konzept des „Assertive Community Treatment“ (ACT) stellt Bettina Jacobsen für das niederländische Nijmwegen vor. Zunächst skizziert die Autorin die strukturellen Vorteile (z.B. geringer Caseload) des ACT, um dann Haltung und Arbeitsweise nach der Recovery-Orientierung zu erläutern. Das Kapitel endet mit einer Darstellung der Integration des SuSi-Fragebogens in die Arbeit mit den PatientInnen. Der Fragebogen ist hierbei nie nur Forschungsinstrument sondern auch eine Arbeitshilfe, um mit den PatientInnen über das Thema „Sinn“ ins Gespräch zu kommen.
Mit der Suche nach dem Sinn in der psychiatrischen Pflege befasst sich Michael Schulz. Nach einem kurzen Überblick über die historischen Wurzeln der psychiatrischen Pflege und ihre praktischen Auswirkungen geht er der Frage nach, wie sich die Verwendung des SuSi-Fragebogens auf die Arbeit mit den PatientInnen auswirkt. Hierbei schließt er auch Patientinnen der Forensik mit ein. Hintergrund der Einschätzung bilden die Berichte von Studierenden der Pflegewissenschaften, die insgesamt ein positives Fazit ziehen. Das Arbeiten mit dem Fragebogen sei für die PatientInnen entlastend gewesen und es böte in der Pflege die Möglichkeit, Gespräche zu führen, die sonst eher im psychologischen Bereich angesiedelt seien (S. 232). Das Kapitel schließt mit einem eher exkursorischen Text über die problematische Fokussierung auf die Pharmakotherapie
Für einen modifizierten psychoedukativen Ansatz werben Friederike Schmidt und Katrin Körtner. In diesem Zusammenhang stellen sie ihre Studie vor, die u.a. zum Ergebnis kommt, dass die StudienteilnehmerInnen „keine einheitlichen, starren Krankheitskonzepte“ aufweisen, sondern auf Erklärungssysteme zurückgreifen, die „kontextabhängig unterschiedliche Erklärungen […] und Positionierungen zulassen“ (S. 241). In ihrem Fazit beschreiben sie die klassische Psychoedukation als zu kurz greifend und eindimensional. Sie favorisieren stattdessen eine die individuellen Erklärungsansätze der PatientInnen berücksichtigende Auseinandersetzung mit der jeweiligen psychotischen Erfahrung.
Die Autorengruppe um Steffen Moritz befasst sich mit dem verhaltenstherapeutisch orientierten Metakognitiven Training (MKT). Das MKT wird in seinen Grundzügen vorgestellt und Studien zum Wirkungsnachweis erörtert. Die Autoren legen Wert darauf, dass das MKT nicht darauf abziele, jedes psychiatrische Symptom zu unterbinden (S. 252), sondern ausschließlich an den Symptomen ansetze, die für den jeweiligen Patienten als belastend erlebt würden.
Evelyn Gottwalz-Itten und Maike Hartmann beschreiben die Bedeutung der Verhaltenstherapie innerhalb des Spektrums der Therapien der Psychosen und begründen mit mehreren Praxisbeispielen den Stellenwert der Sinnsuche und der Beachtung subjektiver Aspekte für die Verhaltenstherapie.
Die Eignung einer modifizierten speziell auf PsychosepatientInnen angepassten klassischen psychoanalytischen Therapie ist das Thema von Günter Lempa. Er sieht sie als hilfreiches Mittel, um Menschen mit Psychoseerfahrung darin zu unterstützen, besser mit Emotionen und Affekten umzugehen. Psychose wird dabei als möglicher Ausdruck oder Zuspitzung dysfunktionalen Verhaltens (z.B. mehr geben als nehmen) gesehen. Ziel der Therapie ist es, diese zugrundeliegenden Problembereiche gemeinsam zu erschließen um sie dann aufzulösen.
Brigitte Bremer hält in ihrem Text ein Plädoyer für die tiefenpsychologische Psychosenbehandlung, die sie mit Elementen aus der systemischen Familientherapie, Traumatherapie, und der Transaktionsanalyse kombiniert. Leitend in ihrer Behandlung ist das von Mentzos beschriebene Dilemma der PatientInnen „sich in der Gegensätzlichkeit zwischen dem Wunsch nach Aufrechterhaltung der autonomen Selbstidentität und der starken Sehnsucht nach Vereinigung und Bindung mit dem Objekt“ zu befinden (S. 269). Bremer erläutert ihr Vorgehen an zwei Beispielen aus ihrer Praxis. Die Therapie dauert in der Regel bei ihr jeweils mehrere Jahre, sie hat aber auch die Erfahrung gemacht, dass bei ersterkrankten PatientInnen über 40 Jahre eine Kurzzeittherapie von 25 Stunden oft ausreicht.
Den Blick auf die systemische Therapie im Zusammenhang mit PsychosepatientInnen lenkt Gerhard Dieter Ruf. Er erläutert zunächst kurz den theoretischen Hintergrund der Systemischen Therapie, um dann auf die spezifischen psychosebezogenen Implikationen einzugehen. Ziel der Therapie sei es, so Ruf, andere Wirklichkeitskonstruktionen mit dem Patienten zu erarbeiten, die für Patient und Familie weniger belastend seien. Zentral in der Therapie sei die gemeinsame Sinnsuche, wobei (nach Watzlawick) nicht „irgendeine Umdeutung“ zum Ziel führe, sondern eine solche, „die sich mit dem Denken und der Wirklichkeitsauffassung der Betroffenen vereinbaren lässt“ (S. 281).
Ein Schlussplädoyer fasst die zentralen Erkenntnisse des Buches zusammen und bezieht erneut die Angehörigen und den Trialog thematisch mit ein. Ein Zitat von Viktor Frankl setzt den Schlusspunkt des inhaltlichen Teil des Buches und bildet gleichzeitig den Ausblick.
Diskussion
Das AutorenInnenteam um Thomas Bock nahm die SuSi-Studie zum Anlass, ein Buch über Sinnsuche und Genesung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu publizieren. Die theoretischen Grundlagen zur empirischen Studie, die sich mit dem Sinn psychischer Erkrankungen befasst, werden ausführlich vorgestellt und sind für viele LeserInnen sicherlich interessantes Neuland.
Die AutorInnen machen mit ihrem Ansatz, sich dem subjektiven Sinn zu nähern durchaus ernst. Sie beschränken sich nicht darauf, die empirischen Ergebnisse der SuSi-Studie zu referieren, sondern legen auch Wert darauf, Betroffenen und Angehörigen mit ihren subjektiven Erfahrungsberichten Gehör zu verschaffen. Aktuelle Debatten wie die Frage nach der vermeintlichen Zunahme psychischer Erkrankungen, die Diskussion um das neue DSM-5 oder die Schaden anrichtenden biologisch orientierten Anti-Stigma-Kampagnen werden aufgegriffen und kritisch reflektiert. Mitunter finden sich im Text überraschende Erkenntnisse. So gibt es mehr Menschen mit Psychoseerfahrung, die mit ihrer Lebensqualität zufrieden sind, als solche, die mit ihr unzufrieden sind. Auch werden den LeserInnen sicherlich einige eingängige Sätze im Gedächtnis bleiben, wie „Sinnsuche bleibt ein Kind der Aufklärung“ (S. 61), „der subjektive Sinn will objektiv wertvoll und akzeptiert sein“ (S. 113) oder die Textpassage von Gwen Schulz „Ich fühle mich in Einzelteile zersprengt […] Ich brauche Hilfe beim Sortieren meiner Teile und keine Fremdbestimmung“ (S. 69). Der Text von Gwen Schulz sticht insgesamt besonders hervor, so eindrücklich, wie sie es vermag, ihre Psychose-Erfahrung in Worte zu fassen.
Kritische, sehr wissenschaftlich geprägte LeserInnen werden dem Buch möglicherweise vorwerfen, es sei ein Sammelsurium aus geordneter, systematisierter Empirie und Alltagsempirie. Letztlich ist diese Mischung aber die konsequente Umsetzung des Grundgedankens, der subjektiven Sinnhaftigkeit von schweren psychischen Krisen Raum zu geben. Dass dies nicht ausschließlich durch die Darstellung statistischer Ergebnisse geschieht, sondern auch in Form von Statements Erfahrener, ist dem AutorenInnenteam hoch anzurechnen. Dieser Kunstgriff macht das Buch noch lesenswerter und erweitert die Zielgruppe um jene LeserInnen, für die zum Beispiel die methodischen Aspekte der SuSi-Studie nicht von so großem Interesse sind.
Das Studienprojekt selbst, das aus einer Vielzahl einzelner Studien besteht, wird umfassend dargestellt. Methodische Einschränkungen werden benannt, die Ergebnisse der Teilstudien werden häufig durch Grafiken für die LeserInnen greifbarer gemacht und sind auch für nicht wissenschaftlich Tätige nachvollziehbar. An einigen Stellen wird die grafische Darstellung dann doch vermisst, z.B. bei den Erläuterungen zum sinnbasierten Coping, weil sich das komplexe Modell nicht auf Anhieb durch den Text erschließt.
Insgesamt ist das Buch hervorragend redigiert, es finden sich nur wenige kleinere formale Fehler (z.B. S.142, S. 238).
Die Einbeziehung einiger, zweifelsohne wirksamer und innovativer therapeutischer Ansätze (z.B. MKT), erscheint mitunter sehr gewollt. Der direkte Zusammenhang zum Thema der Sinnsuche erschließt sich hier nicht immer.
Fazit
Das Buch „Sinnsuche und Genesung“ bietet eine spannende Mischung. Da sind zum einen die interessanten Berichte von Erfahrenen und Angehörigen über ihre Sinnsuche, die mal erfolgreich ist, mal ohne Ergebnis bleibt, aber immer zu einer individuellen Erkenntnis führt. Zum anderen liefert das AutorInnenteam um Thomas Bock aber auch einen kurzweiligen Überblick über das sehr umfangreiche SuSi-Studienprojekt mit zum Teil überraschenden Erkenntnissen über die Sinnsuche im Zusammenhang mit psychischer Erkrankung. Die Schilderungen der Profis zum Einsatz des SuSi-Fragebogens in der Arbeit mit PatientInnen und KlientInnen regen dazu an, diesem Thema, egal von welcher Warte aus, nachzugehen. Inhalt und Sprache von „Sinnsuche und Genesung“ sind getragen vom Ringen um ein Verständnis psychischer Erkrankung fernab von biologischem Reduktionismus. Dies und die vielen neuen Erkenntnisse, die das Buch bietet, machen es lesenswert.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 02.09.2014 zu:
Thomas Bock, Kristin Klapheck, Friederike Ruppelt: Sinnsuche und Genesung. Erfahrungen und Forschungen zum subjektiven Sinn von Psychosen. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2014.
ISBN 978-3-88414-577-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16950.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.
Urheberrecht
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