Gaby Straßburger, Judith Rieger (Hrsg.): Partizipation kompakt
Rezensiert von Prof. Dr. Gudrun Cyprian, 04.09.2014
Gaby Straßburger, Judith Rieger (Hrsg.): Partizipation kompakt. Für Studium, Praxis und Lehre sozialer Berufe. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 240 Seiten. ISBN 978-3-7799-2969-7. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 21,30 sFr.
Thema
Es geht um eine der Grundforderungen an soziale Berufe, nämlich Klienten/Adressaten an den professionellen Interventionen zu beteiligen und Bürgern generell Mitbestimmung an der Gestaltung ihrer (meist räumlichen) Umwelt zu ermöglichen. Dabei stehen die praktischen Folgerungen aus diesen Leitsätzen für die professionelle Praxis im Mittelpunkt.
Herausgeberinnen und Autoren
Dieses Buch, das Gaby Straßburger als Professorin für Sozialraumorientierte Soziale Arbeit an der Katholischen Fachhochschule für Sozialwesen in Berlin und Judith Rieger als wissenschaftliche Mitarbeiterin verantworten, ist ein gemeinsames, interdisziplinäres, Werk von Lehrenden und (ehemals) Studierenden dieser Hochschule. Dabei kommen einige der profilgebenden Schwerpunkte der KHSB, Inclusive Community Work und Community Organizing, mit den Erfahrungen aus vielen einschlägigen Projekten besonders deutlich zum Tragen.
Entstehungshintergrund
„Partizipation kompakt“ versteht sich als das erste grundlegende Einführungsbuch zum Thema, vor allem für Studierende sozialer Berufe. Das Bemühen der AutorInnen um Verständlichkeit und Praxisnähe bestimmte den Beispiel gebenden Entstehungsprozess des Buches mit einer ständigen aktiven Beteiligung von Studierenden und Fachkräften aus der Praxis. Das wird an den Inhalten und der Aufbereitung der Texte spürbar: Präzis formulierte Ziele, klarer Aufbau, knappe Texte, Illustrationen, farbige Blöcke mit Erklärungen der Fachbegriffe, direkte Ansprache der Leser und immer wieder erläuternde Beispiele aus der Praxis.
Aufbau
Kapitel 1 führt das Modell der Partizipationspyramide ein: Diese erlaubt verschiedene Stufen von Beteiligung zu unterscheiden (diverse Vorstufen und Stufen „echter“ Partizipation) und führt zwei Perspektiven ein: einmal die der Professionellen in institutioneller Sozialer Arbeit vs. Partizipationsprozesse, die ausschließlich oder weitgehend von Bürgern bzw. Adressatenorganisationen getragen werden.
Kapitel 2, das kürzeste im Buch, ordnet Partizipation in den Bedeutungsrahmen Sozialer Arbeit ein.
Kapitel 3 fragt nach den Voraussetzungen für Partizipation auf drei Ebenen: nach den individuellen Haltungen und Kompetenzen auf der Seite der Fachkraft, den Verankerungen in der Struktur der Institution, den politisch und rechtlich festgelegten Ansprüchen auf Partizipation.
Kapitel 4 zeigt an sechs verschiedenen Beispielen aus der Praxis, wie gemeinsame Entscheidungsfindung und gemeinsame Prozessgestaltung aussehen können.
Kapitel 5 stellt an drei Beispielen (Lösungsfokussierung, Familienrat, Bürgercoaching) vor, wie Partizipation gelingen kann, wenn nicht für, sondern mit Menschen gearbeitet wird.
Kapitel 6 beschäftigt sich mit den Hindernissen und Herausforderungen für partizipative Soziale Arbeit – wiederum an acht Beispielen aus sehr unterschiedlichen Praxisfeldern (von der Arbeit mit Kindern über Konfliktlösung im Stadtteil zur Arbeit mit von Zwangsmaßnahmen Betroffenen, mit Menschen mit Behinderungen, mit Demenz, mit Suizidgefährdeten und Suchtkranken).
Kapitel 7 fasst die wichtigsten Aussagen und Zusammenhänge „kompakt“ zusammen.
Eine Literaturliste von knapp sieben Seiten und Kurzvorstellungen der beteiligten 21 Autorinnen und Autoren schließen das Buch ab.
Inhalt
Das Buch will vertraut machen mit dem in der Sozialen Arbeit wenig geklärten Konzept der Partizipation. Die AutorInnen gehen davon aus, dass Ziele wie „Teilhabe“ und „Beteiligung“ des Klienten im Hilfeprozess zwar viel Zustimmung erfahren, in der konkreten Arbeit sich aber schnell die fachliche Überlegenheit der professionellen Fachkraft, die Macht und die Regeln der zuständigen Institution durchsetzen. Deshalb soll in dem Buch Handwerkszeug vermittelt werden, das ein partizipatives Vorgehen attraktiv und methodisch handhabbar macht. Was wird dafür von den AutorInnen angeboten?
- Als erstes Angebot ist die Partizipationspyramide zu verstehen, die das weite Spektrum von Beteiligung in klar unterscheidbare Stufen unterteilt. Diese sind feiner unterteilt als das andere Entwürfe bisher getan haben. Auf professioneller Ebene reichen sie von informieren, Meinung erfragen, Lebensweltexpertise einholen, Mitbestimmung zulassen, Entscheidungskompetenz teilweise abgeben bis zu Entscheidungsmacht übertragen. Damit lassen sich für die Analyse des eigenen Handelns wie der angestrebten Möglichkeiten klar beobachtbare Kategorien gewinnen. Ein Beispiel aus einem Hilfeplanverfahren macht die Unterschiede zwischen den Stufen deutlich. Zwei Akteursebenen werden unterschieden (was nicht unbedingt für die vierseitige Form einer Pyramide spricht): Partizipation, die Organisationen und Fachkräfte gegenüber den Adressaten der Sozialen Arbeit verantworten, und Partizipation, die von Bürgern ausgeht und von ihnen getragen wird.
- Der zweite „Werkzeugkoffer“ ist mit den (veränderbaren bzw. nutzbaren) Voraussetzungen für Partizipation auf der individuellen Ebene der Fachkraft (Kapitel 3.2 – 3.3) gefüllt. Judith Rieger entwickelt sieben Leitsätze für eine partizipative Haltung der Fachkraft (z.B. „Wer zwischen einem Menschen und seinem Verhalten unterscheidet, kann auch in schwierigen Situationen mit ihm in Verbindung bleiben“) und beschreibt notwendige Kompetenzen für Partizipation. Gisela Renner ergänzt diese durch Kernfähigkeiten für „einander verstehen“ – gelingende Kommunikation als Basis partizipativer Arbeit.
- Organisationsentwicklung der sozialen Einrichtungen in Richtung Partizipation macht weitere Handlungsstränge auf: Die Entwicklung von institutionell verankerten Partizipationsrechten für Adressaten ist ein anspruchsvoller Prozess, aus dem Gaby Straßburger drei zentrale Aspekte einer neuen Partizipationskultur heraushebt: Merkmale strukturellen Empowerments, institutionelle Öffnung im Sinne einer Durchlässigkeit der Einrichtung nach außen, und eine konsequente Nachfrageorientierung ihrer Angebote (Kap. 3.4).
- Die Ausführungen zur politische Ebene (Kap. 3.5 und 3.6) können als „Mutmacher“ gelesen werden: Jens Wurtzbacher weist auf die sich ausdehnende Kultur der partizipatorischen Demokratie, vor allem im kommunalpolitischen Handeln, hin. Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, Beiräte, Kinder- und Jugendparlamente, Bürgerhaushalte sind Beispiele für wachsende Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger. In drei Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit werden anschließend die rechtlich verankerten Ansprüche auf Partizipation ausgeführt: von Ludger Pesch die Folgerungen aus der UN-Kinderrechtskonvention, von Judith Rieger die Regelungen in der Kinder- und Jugendhilfe und Eva vom Böckel analysiert die UN-Behindertenrechtskonvention und die Schwierigkeiten um die Konzeption und Durchsetzung des Nationalen Aktionsplans.
- „Nicht für, sondern mit Menschen arbeiten“ – hinter diesem Schlagwort werden drei Methoden vorgestellt, die partizipatives Arbeiten in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern ermöglichen sollen (Kap. 5). Stefan Bestmann und Judith Rieger empfehlen für partizipative Beratungsleistungen Ziele und Techniken der lösungsfokussierten Beratung, Nicole Ehmcke schildert an einem Beispiel aus der Jugendhilfe die Methode des „Familienrats“, die im Zuge einer zunehmend sozialräumlichen Orientierung der Sozialen Arbeit in vielen Ländern angewandt wird. Wie die Selbsthilfekräfte von Bürgern gestärkt werden können, zeigt Jennifer Burczyk am Beispiel eines Bürgercoachings.
- Neben diesen an einer systematischen Logik orientierten „Werkzeugen“ des partizipativen Arbeitens fächert das Buch Beispiele aus den verschiedensten Arbeitsfeldern auf. Im Kapitel 4 werden einige Prinzipien wie gemeinsame Entscheidungsfindung mit Praxisbeispielen aus der Arbeit mit Kindern (Beiträge von Sylvia Hemmann und von Ludger Pesch) illustriert und analysiert. Aus konkreten Projekten der Stadtteilarbeit berichten Milena Riede und Gisela Renner, „Scheinkooperation“ und gelungene Kooperation vergleicht Sabine Jungk an zwei fiktiven Beispielen der Zusammenarbeit mit Migranten-Selbstorganisationen. Wie in anderen Ländern Adressatinnen der Sozialen Arbeit an der Lehre beteiligt werden (Betroffene in den Hörsaal) berichtet Franziska Anna Leers in anregenden Beispielen. Im Kapitel 6 wird ebenfalls an verschiedenen Arbeitsfeldern beschrieben, wie in der Praxis Partizipation erreicht werden kann, obwohl schwierige Vorzeichen herrschen – z.B. Zwangsmaßnahmen angeordnet sind (Judith Rieger) oder Suchtkranke angeblich „austherapiert“ erscheinen (Kitty Lüdtke, Peter Lüdtke) oder eine akute Suizidgefährdung (Lena Zeller) oder Demenz (Susanna Saxl) vorliegt.
Eine „punktgenaue“ knappe Zusammenfassung (Kap. 7) schließt das Buch ab.
Diskussion
Die Verständlichkeit und Praxistauglichkeit der Texte waren offensichtlich für die Herausgeberinnen und AutorInnen zentrale Kriterien, für ein Einführungsbuch äußerst sinnvolle Entscheidungen. Die konsequente Praxisbezogenheit fast aller Kapitel ist äußerst bemerkenswert, als Rezensentin mit langer Lehrerfahrung weiß ich das zu schätzen. Weist dann aber ein wichtiger Abschnitt wie der zu den strukturellen Bedingungen für Partizipation in den sozialen Organisationen deutlich weniger konkrete Beispiele auf, blättert man dort schneller darüber hinweg.
Interessant, aber auch schwierig ist der bewusst angestrebte doppelte Anwendungsbereich der Aussagen: einmal für die „klassischen“ Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit, in denen soziale Einrichtungen Unterstützungsangebote für definierte einzelne Adressaten oder Adressatengruppen machen und zweitens für „Community Work“, in dem ausschließlich in sozialen Räumen und Netzwerken gearbeitet wird. Die Möglichkeiten und Anforderungen für gelingende Partizipation dürften sich zwischen beiden Typen von Arbeitssituationen deutlich unterscheiden, dies wird leider nicht systematisch behandelt. Das Nebeneinander verschiedenster Praxisbeispiele erlaubt und verlangt ständiges „switchen“ – mit allen Vor- und Nachteilen.
Die Herausgeberinnen und AutorInnen laden Fachkräfte zur Reflexion über partizipatives Handeln ein. Die Grenzen und Risiken einer Perspektive, die Eigenaktivität der AdressatInnen Sozialer Arbeit ins Zentrum rückt, sollten dabei nicht zu kurz kommen: In für AdressatInnen existenziellen Leistungen wie Grundsicherung, Vermittlung in Arbeit, Wohnungshilfe ist die Gefahr groß, dass strukturelle Probleme wie Armutsgefährdungen für einen wachsenden Teil der Bevölkerung individuell zugerechnet werden. Die scheinbar zugestandene Partizipation wird unter Stichwörtern wie mangelnder „Eigenaktivität“ oder „verfehlter Autonomiekonzepte“ der Betroffenen zum zusätzlichen Makel.
Unter dem Ziel „soziale Teilhabe“ oder Inklusion von Adressatengruppen wie Menschen mit handicaps werden die Anforderungen an partizipatives Handeln noch höher: Dann müssen die Fachkräfte neben den Adressaten viele andere Akteure als Zielpersonen einbeziehen (z.B. Arbeitgeber, Vermieter, Bildungseinrichtungen usw.), sich selber auf die „Hinterbühne“ begeben und die „Vorderbühne“ den Personen und Organisationen überlassen, die anders als Soziale Arbeit Normalisierungspotenzial besitzen – eine breitere Ausrichtung von Partizipation.
Der Ansatz, bei den meisten Themen sehr schnell oder ausschließlich über praktische Anwendungsfeldern zu gehen, macht es gleichzeitig für Lernende schwer, die jeweiligen kritischen, entscheidenden Variablen für eine gelingende Partizipation zu sehen: Sind die Grundsätze der Lösungsorientierung überall anwendbar? Können partizipative Methoden der Arbeit mit dem Klienten (eco-map, Stärkenprofil, Biographiebalken usw.) nicht überall angewendet werden?
Fazit
Die didaktischen Vorzüge dieses Buchs machen es zu einem idealen Einsteigerbuch für Studierende. Wer hingegen eine kritische, theoriegeleitete Auseinandersetzung mit dem Konzept der Partizipation sucht, wird mit anderen Veröffentlichungen glücklicher. Doch Praktiker finden Anregungen zur Reflexion ihrer Praxis und zu Veränderungen ihres fachlichen Handelns. Jede und jeder wird für sich sinnvolle Praxisbeispiele finden und Lust bekommen von den Analysen ganz unterschiedlicher Arbeitsfelder zu profitieren. Das Buch ist unterschiedlich nutzbar: zum Durchlesen und systematischen Erarbeiten des Themas ebenso wie als Nachschlagebuch für einzelne fachliche Fragen zu partizipativem Handeln.
Rezension von
Prof. Dr. Gudrun Cyprian
Ehem. Uni Bamberg, FB Soziale Arbeit
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Es gibt 2 Rezensionen von Gudrun Cyprian.
Zitiervorschlag
Gudrun Cyprian. Rezension vom 04.09.2014 zu:
Gaby Straßburger, Judith Rieger (Hrsg.): Partizipation kompakt. Für Studium, Praxis und Lehre sozialer Berufe. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
ISBN 978-3-7799-2969-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16963.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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