Birgit Behrisch: „Ein Stück normale Beziehung“
Rezensiert von Dr. Karoline Klamp-Gretschel, 12.03.2015
Birgit Behrisch: „Ein Stück normale Beziehung“. Zum Alltag mit Körperbehinderung in Paarbeziehungen.
transcript
(Bielefeld) 2014.
307 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2691-9.
D: 34,99 EUR,
A: 36,00 EUR,
CH: 45,90 sFr.
Disability studies, Band 11.
Thema
Im Fokus stehen Paare, in deren gemeinsamen Zusammenleben eine Körperbehinderung eintritt. Der Umgang mit der veränderten Körperlichkeit wie auch sich verändernden Bedürfnissen, Interessen und Ressourcen wird erforscht. Die befragten Personen kommen dabei selbst zu Wort. In den Fokus des Forschungsinteresses wird der Zusammenhang Pflegebedürftigkeit und junges bis mittleres Erwachsenenalter gerückt, da Pflege eher mit einem höheren Lebensalter in Verbindung gebracht wird (vgl. S. 10). Wie ist der Umgang mit der sich verändernden Körperlichkeit einer_s Partner_in? Inwiefern verändert sich dadurch die Paarbeziehung? Welche äußeren Einflüsse wirken auf das Paar ein?
Autorin
Dr. phil. Birgit Behrisch ist am Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind partizipative Forschung, Lebensumstände von Menschen mit Behinderung sowie Fragen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Wissensgenerierung.
Entstehungshintergrund
Körperliche Beeinträchtigungen und der daraus resultierende Pflegebedarf finden nur wenig gesellschaftliche Beachtung. Wenn doch, werden lediglich ältere und alte Menschen betrachtet, während andere Lebensphasen außer Acht gelassen werden. Gerade in der Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters spielen Familienplanung und berufliche Karriere wichtige Rollen, die durch den Eintritt einer körperlichen Beeinträchtigung entscheidend beeinflusst werden. Birgit Behrisch möchte mit der Publikation einen Beitrag zur Sichtbarmachung der Personengruppe leisten und eine weitere Auseinandersetzung damit anstoßen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch von Birgit Behrisch beinhaltet sechs Kapitel
- Einleitung
- Theorielinien
- Methodik
- Fallbeschreibungen
- Partnerschaftliche Konstruktion und Wirklichkeit
- Schlussbetrachtungen
sowie eine Danksagung und das Literaturverzeichnis.
Die Danksagung richtet sich u.a. an die befragten Personen für ihre Offenheit, über das eigene Leben zu berichten.
Kapitel 1 dient Birgit Behrisch dazu, die Bedeutung des Themenkomplexes als bislang wissenschaftlich wenig beforscht darzulegen (vgl. S. 11). Zugleich setzt sie sich mit sprachlichen Akten auseinander, die hinsichtlich der verwendeten Begrifflichkeiten zur Reproduktion bestehender Verhältnisse (hier am Beispiel Behinderung) beitragen. Platz räumt Birgit Behrisch auch Pflege als Einflussfaktor auf die Personengruppe ein, der eine gewissenhafte und differenzierte Auseinandersetzung zum besseren Verstehen benötigt. Abschließend legt sie ihr weiteres Vorgehen dar.
Die theoretische Beschaffenheit der zentralen Begriffe wird in Kapitel 2 erläutert. Während Paarbeziehungen im Kontext von Vergesellschaftungsprozessen erörtert werden (Kap. 2.1.), indem zwischen Fremd- und Selbstdefinitionen von Zweierbeziehungen vermittelt wird, lässt sich Behinderung im Spannungsfeld zur sog. ‚Normalität‘ definieren (Kap. 2.2.). Aufgrund der Fokussierung der Publikation steht die Orientierung an Körper und Leib im Mittelpunkt. Das Kapitel schließt mit der Verbindung der beiden Aspekte, dem Umgang in einer Paarbeziehung mit Behinderung bzw. chronischer Erkrankung (Kap. 2.3). Aktuelle Forschungsergebnisse werden angeführt.
In Kapitel 3 legt Birgit Behrisch ihr methodisches Vorgehen dar, indem sie ein qualitatives Forschungsdesign in Verbindung zu den spezifischen Lebensbedingungen der Personengruppe bringt. An den Beginn stellt sie Vorüberlegungen, die die Entscheidung für ein qualitatives Vorgehen unterstützen (Kap. 3.1.). Daran schließt sich die konkrete Darstellung von Fragestellung und Forschungsdesign an (Kap. 3.2.), um danach Methodik und Verortung in der Grounded Theory zu skizzieren (Kap. 3.3.). Ebenso werden die befragten Paare in anonymisierter Weise und die aus den jeweiligen Interviews angestoßenen Kategorien zur Auswertung vorgestellt.
Es schließt sich Kapitel 4 an, das sich vier detaillierten Fallbeschreibungen widmet. Die Paarbeziehungen werden beleuchtet und die Aussagen innerhalb der Interviews den Kategorien zugeordnet (Kap. 4.1. – 4.4.).
Kapitel 5 befasst sich mit den verändernden Anforderungen an Paarbeziehungen durch das Eintreten der körperlichen Behinderung. Birgit Behrisch nimmt die „partnerschaftliche Behausung“ (S. 232) als materielle und soziale Gestaltung der Beziehung in den Blick (Kap. 5.1.), um die Neugestaltung des Alltags zu erläutern (Kap. 5.2.). Es lassen sich Unterschiede in der Alltagsgestaltung im Moment des akuten Auftretens und im dauerhaften Verbleiben einer Behinderung feststellen. Die körperlichen Veränderungen und die damit einhergehenden Leistungseinschränkungen werden ebenfalls erfasst (Kap. 5.3.). Die Bewältigung des Alltags ist zusätzlich von dem Wissen und den Kompetenzen der Paare abhängig, wenn Kenntnisse über medizinische Diagnosen und sozialpolitische Ressourcen die Zugänglichkeit zu Hilfen erweitern (Kap. 5.4.). Eine Neudefinition braucht auch das Konzept der Selbsttätigkeit – auch in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit der Unterstützung durch Partner_innen (Kap. 5.5.). Durch das Auftreten einer körperlichen Beeinträchtigung verändert sich das Selbstbild, aber auch die Arbeitsteilung in der Paarbeziehung. Die Paarbeziehung ist durch das Eintreten einer Behinderung damit konfrontiert, die Individualität beider Partner_innen zu wahren und hinsichtlich Autonomie, Scham, Intimität und Privatsphäre Lösungen zu finden (Kap. 5.6.). Gesellschaftlich entsteht das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit Normalität, der so schnell und so sehr wie möglich wieder zu entsprechen ist (Kap. 5.7.).
Im abschließenden Kapitel 6 erfolgen eine Zusammenfassung der dargelegten Theorien, Beispiele und Interpretationen (Kap. 6.1.) und Schlussfolgerungen aus den erarbeiteten Erkenntnissen (Kap. 6.2.).
Diskussion
Birgit Behrisch möchte mit ihrer Publikation auf die spezifischen Lebenslagen von Paaren hinweisen, in deren Beziehungsgeschichte eine körperliche Beeinträchtigung eingetreten ist. Der Körper ist gesellschaftliches Mittel zur Selbstdarstellung und Funktionsträger für soziale Beziehungen. Die Entwicklung eines neuen Körperverständnisses wird durch eine körperliche Beeinträchtigung zur zentralen Aufgabe, da bekannte Mechanismen und Handlungsweisen nicht mehr funktionieren (vgl. S. 246). Der Blick auf die neue Körperlichkeit bestimmt sich aus zwei Perspektiven, aus denen der beiden Partner_innen. Zugleich treten Aushandlungsprozesse hinsichtlich sich verändernder Arbeitsteilung und Lebensführung auf (vgl. S. 237ff). Neben wirtschaftlichen Faktoren tritt eine Pflegeabhängigkeit auf, die durch Partner_innen oder Betreuungsdienste zu leisten ist. Paarbeziehungen erleben über die körperliche Beeinträchtigung hinaus in sämtlichen Bereichen notwendige Umstrukturierungen, als „Totalphänomen“ (S. 282) bezeichnet, von deren Meistern das Fortbestehen der Paarbeziehung abhängig ist.
Die Implikationen für die gesellschaftliche und Beratungspraxis sind deutlich, da konkrete Handlungsfelder benannt werden, die mit Unterstützungsbedarfen verbunden sind (z.B. wirtschaftliche Situation, Pflegebedarfe, zu verändernde Rollenbilder). Eine Ausweitung auf weitere Behinderungsformen ist denkbar, bleibt aufgrund der unterschiedlichen Zugänge und Auswirkungen vorerst außen vor. Gleichsam können die Ausführungen anderen Autor_innen als Grundlage zur Ergänzung um jene Aspekte dienen.
Fazit
Birgit Behrisch ist es gelungen, einen fundierten Einblick in Paarbeziehungen zu geben, in denen eine körperliche Behinderung eingetreten ist. Als Argumentationsgrundlage trägt das Werk dazu bei, gesellschaftliche Annahmen zu verändern und entsprechende Unterstützungsangebote für Paare zu schaffen. Durch die Aussagen der beteiligten Personen selbst ist ein realistisches Bild mit einem Appell entstanden, die Personengruppe wahrzunehmen.
Für Leser_innen, die sich bislang wenig mit dem Komplex beschäftigt haben, bietet das Buch umfassende Informationen. Für Menschen, die sich bereits intensiver mit dem Thema beschäftigt haben, bietet das Buch eine umfassende Sammlung von Argumenten und Erfahrungsberichten. Trotz der Orientierung an körperlicher Behinderung lassen sich die dargelegten Zusammenhänge sicherlich auch auf weitere Behinderungsformen übertragen (z.B. hinsichtlich sich verändernder sozialer Beziehung bei Eintreten einer Sinnesbehinderung). Die Impulse des Buches können dazu beitragen, den Blick auf die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen zu richten, um ihre gesellschaftliche Teilhabe zu stärken.
Das Buch kann Wissenschaftler_innen, Fachkräften und Studierenden sowie weiteren interessierten Leser_innen dringend empfohlen werden.
Rezension von
Dr. Karoline Klamp-Gretschel
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Es gibt 20 Rezensionen von Karoline Klamp-Gretschel.
Zitiervorschlag
Karoline Klamp-Gretschel. Rezension vom 12.03.2015 zu:
Birgit Behrisch: „Ein Stück normale Beziehung“. Zum Alltag mit Körperbehinderung in Paarbeziehungen. transcript
(Bielefeld) 2014.
ISBN 978-3-8376-2691-9.
Disability studies, Band 11.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16990.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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