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Martin Schorn: Mord aus niedrigen Beweggründen [...]

Rezensiert von Dr. Thorsten Benkel, 27.10.2014

Cover Martin Schorn: Mord aus niedrigen Beweggründen [...] ISBN 978-3-8487-1231-1

Martin Schorn: Mord aus niedrigen Beweggründen bei fremden soziokulturellen Wertvorstellungen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 336 Seiten. ISBN 978-3-8487-1231-1. D: 89,00 EUR, A: 91,50 EUR, CH: 125,00 sFr.
Studien zum Strafrecht ; Bd. 63.

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Thema

Das Problem, dass Straftäter ihre kriminellen Handlungen aufgrund einer „fremdkulturellen“ Sichtweise durchführen, bzw. in alternativen Wertsystemen jenseits des positiven Rechts einen Legitimationsgrund für ihr Tun zu erkennen glauben, ist nicht neu. Die immer wieder aufflackernden Debatten um „Blutrache“ bzw. „Ehrenmord“ haben diesen Zusammenhang in den vergangenen Jahren immer stärker in den Vordergrund gerückt. Mit der Studie von Schorn liegt eine rechtsdogmatische Betrachtung des Phänomens vor, die insbesondere der Frage nachgeht, ob Wertvorstellungen anderer Kulturen bei der Zuschreibung des Mordmerkmals „niedrige Beweggründe“ berücksichtigt werden müssen.

Autor

Martin Schorn ist Rechtsanwalt in München mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsstrafrecht.

Entstehungshintergrund

Es handelt sich um die rechtswissenschaftliche Dissertation des Verfassers, die 2013 an der Universität Bonn eingereicht wurde. Die Druckfassung erscheint als Band 63 der Reihe „Studien zum Strafrecht“.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel, die – wie in der Rechtswissenschaft üblich – in diverse Unterebenen gegliedert sind:

  1. Problemstellung (mit Fallbeispielen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung);
  2. zum „materialen Gehalt“ niedriger Beweggründe;
  3. Fallbeispiele für abweichende Wertvorstellungen;
  4. zu Rechts- und Wertvorstellungen am Beispiel der Türkei;
  5. zur Frage der „Niedrigkeit“ von Beweggründen generell;
  6. zur „Abweichung abweichender Wertvorstellungen„;
  7. zur praktischen Berücksichtigung fremder soziokultureller Ansichten; und schließlich
  8. Schlussbetrachtungen mit einer Rückschau auf die diskutierten Fälle.

Inhalt

Zwischen 1996 und 2005 habe es, unterrichtet Schorn, in Deutschland 55 Fälle so genannter „Ehrenmorde“ gegeben, wenngleich diese Art des Tötungsbeweggrundes in der medialen Berichterstattung wesentlich verbreiteter zu sein scheint (vgl. 25 f.). Fälle, in denen „Fremdkulturen“ bei der Motivlage eine Rolle spielen, sind unter den hier genannten Fallbeispielen schon seit 1966 juristisch bekannt – damals überwiegend als innereuropäische Problemlagen. Es wird also bereits seit Jahrzehnten diskutiert, inwiefern sich Täter von den kulturellen Vorstellungen ihrer Heimatländer und Herkunftskulturen lösen können, und wie stark sie im Fall von Mordhandlungen von der „Niedrigkeit“ ihrer Tat überzeugt sein konnten. Diverse Standpunktwechsel in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zeigen, dass sich die höchstrichterliche Ansicht im Laufe der Zeit gewandelt hat (29 ff.).

Es geht dem Verfasser konkret um das Mordmerkmal des „niedrigen Beweggrundes“, das allerdings einem Bestimmungsdefizit unterliegt. Die BGH-Definition spricht von einem Motiv, welches „nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht, durch hemmungslose, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich ist.“ (58) Um diese mithin unklaren Aspekte ins Spiel zu bringen, muss der Täter im Kontext seiner Tat bestimmte Kriterien erfüllen: Er braucht „Tatsachenkenntnis“, d.h. die Niedrigkeit muss nachvollziehbar sein, auch wenn die Ansicht, dass die Tat so betrachtet wird, vom Täter nicht geteilt werden muss. Ferner muss eine entsprechende „Wertungsfähigkeit“ vorliegen, er braucht „Motivbeherrschungsvermögen“, muss also seine Gefühle unter Kontrolle haben, und schließlich ist „Motivationsbewusstsein“ notwendig, d.h. der Täter muss seinen „Handlungsantrieb“ als niedrigen Beweggrund ansehen können (62). Die psychologischen Komponenten, die somit für die Strafzumessung von Gewicht sind, bergen die potenzielle Gefahr einer Verunsicherung im Zuge der Schuldzuweisung.

Die generelle Frage ist: Wo endet der „westliche[] Kulturkreis“ (91)? Wenn Täter gewissermaßen „sozialisatorisch“ einem alternativen Wertschema nicht verbunden sind, weil sie lange Zeit in Deutschland gelebt haben und mitunter sogar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, gilt dies durchaus auch in Gerichtsurteilen als Argument, einen fremdkulturellen Hintergrund als Entschuldigungsgrund abzulehnen. Die polemische Ansicht, dass deutsche „Nachkriegsweichheit“ und „political correctness“ eher für eine Zunahme akzeptierter Milderungsgründe sprechen (vgl. 99), ist also kein Spiegel der juristischen Wirklichkeit. Die Komplexität des Problemzusammenhangs lässt indes Pauschalismen nicht zu: Es ist gleichwohl „möglich, dass auch ein seit Jahrzehnten in Deutschland lebender Ausländer bei einfacher Persönlichkeitsstruktur und niedriger sozialer Integration noch ganz in der heimatlichen Sozialordnung verhaftet bleibt.“ (108)

Ohnehin besteht eine gewissermaßen “politische“ Schwierigkeit darin, Wertekonzepte, denen weltweit Millionen Menschen folgen, generell als „auf tiefster Stufe stehend zu brandmarken“ (111). Nicht übersehen werden darf außerdem der soziale Druck, der Täter situationsspezifisch trifft. Somit entstehen diverse Fallstricke bzw. interessante Rechtsprobleme: Wer den Vater tötet, weil dieser ein Tyrann war, darf nach deutschem Recht auf Milde hoffen; würde die Werteprägung des Heimatlandes ernst genommen, müsste ein Täter mit Migrationshintergrund hingegen härter bestraft werden als Deutsche, die sich derselben Straftat schuldig gemacht haben (vgl. 119 f.).

Als – „tatdemografisch“ legitimiertes – Beispielland zieht Schorn die Türkei heran (131 ff.). Einblicke sowohl in das türkische Recht und seine Reformhistorie, wie auch in die (im Ergebnis fragwürdigen) religiösen Legitimationszusammenhänge offenbaren eine gewisse Widersprüchlichkeit: Straftaten, die explizit auf tradierten Wertvorstellungen basieren, werden in der Türkei selbst bisweilen mit Strafverschärfung, bisweilen aber auch mit Strafmilderungen quittiert. Der zentrale Begriff der Ehre kennt hierbei geschlechtsspezifische Ausprägungen: Frauen können zwar Ehre im Sinne öffentlicher Achtung besitzen, nicht aber Wertschätzung aufgrund eigener Leistung erringen; dafür umgibt sie, anders als Männer, ein zusätzlicher Ehrbegriff im Sinne unbefleckter Reinheit und Keuschheit (vgl. 158 f.).

Die relative Undefiniertheit des Mordmerkmals „niedrige Beweggründe“ ist selbst innerhalb der rechtswissenschaftlichen Expertenkultur evident: „Auch wenn man daran scheitert, niedrige Beweggründe abstrakt zu beschreiben, so erkennt man sie offenbar doch, wenn man ihnen begegnet.“ (169) Nur weil der Täter einem Kulturkreis angehört, der Blutrache kennt, ist eine Tat laut BGH aber noch nicht automatisch verwerflich (vgl. 226 f.). Fraglich ist sowieso, ob ein Täter mit spezifischen Norminhalten vertraut sein muss; mitunter mag es genügen, wenn er die „soziale Bedeutung“ des verletzten Rechtsgutes ableiten kann (vgl. 261). Bei all dem wird deutlich, dass die Niedrigkeit strafrechtlichen, ja konkret mörderischen Verhaltens erstens ein (kultur-)relatives und zweitens durchaus ein moralisierendes Element des Strafrechts ist. Gustav Radbruch hat dem gegenüber schon vor Jahrzehnten betont, dass Strafrecht niemals „sittliches Werturteil“, sondern immerzu „moralinfreier Gesellschaftsschutz“ sein möge. Seine Worte sind das Motto des vorliegenden Buches (vgl. 21).

Diskussion

Schorns Studie greift ein durchaus „öffentlichkeitswirksames“ Thema auf, was für die rechtswissenschaftliche Fachliteratur nicht eben üblich ist. Die Vorstellung, dass vor (deutschen) Gerichten immerzu eine Art Rechtsgleichheit der Akteure gelten möge, die das Konzept fremdkultureller Legitimationsgründe per se ablehnt, ist gesellschaftlich aber weit genug verbreitet, damit es wissenschaftlicher Korrekturen bedarf. Nicht aufgenommen, aber in einen ähnlichen Zusammenhang gehören Fälle wie die Mohammed-Karikaturen, bei deren Bewertung religiöse Eiferer sich in einer Allianz mit radikalen Gläubigen anderer Kultursphären verbunden wissen konnten. An manchen Orten der Welt durfte dem Karikaturisten für seine Zeichnungen der Tod legitim angedroht werden, an anderen nicht – obwohl die zentrale Überzeugung, die hinter diesem Fanatismus steht, beide Mal vergleichbar ist. Unter Globalisierungsbedingungen ergeben sich aus dieser Ausgangslage bekanntlich immer wieder handfeste Probleme.

Schorn arbeitet mit dem vorgefundenen Recht. Das ist einerseits gut, weil es die Faktizität der Rechtsprechung erfasst; andererseits ist weniger gut, dass damit der Rechtsvergleich und die Sozialwissenschaften ausgeklammert sind, wie der Verfasser immerhin eingesteht (26). (Rezipierenswert wäre fraglos die Studie von Ayfer Yazgan gewesen; https://www.socialnet.de/rezensionen/9994.php) Dieser Verzicht ist aus Sicht der Logistik einer juristischen Dissertation zwar verständlich, engt aber die Untersuchungsergebnisse zwangsläufig ein. Da die soziokulturelle Dimension im Titel der Studie andererseits ausdrücklich betont wird, hat eine Besprechung mit sozialwissenschaftlichem Blickwinkel gleichwohl ihre Berechtigung. Die Herkunft aus dem rechtswissenschaftlichen, und zumal aus dem universitären Qualifikationskontext kann schon die Gliederung nicht verhehlen. In anderen Disziplinen wäre dieser Art der argumentativen Verschachtelung bestenfalls eine Geduldsprobe, derweil die juristisch-anwendungsbezogene Sicht solche Formalisierungen offensichtlich benötigt.

Die „niedrigen Beweggründe“, um die es an zentraler Stelle geht, implizieren, dass die Motivlage von Straftätern in ihrem Verächtlichungspotenzial nicht mehr zu unterbieten ist – man ist also, mit anderen Worten, am Ende aller denkbaren Ausschöpfungen der Konsensmoral angelangt. Emotionale und irrationale Elemente sind in diesen Fällen dermaßen stark involviert, dass schon die nüchterne Rekonstruktionsfähigkeit des Rechts an ihre Grenzen zu stoßen droht – doch eben diese „Grenzberührung“ kann das Recht nicht zugestehen, weil es systemimmanent dazu verdammt ist, immer eine Lösung zu finden. Vielleicht trifft es den Geist von Schorns Werk insgesamt am besten, wenn man es als Beitrag zur Versachlichung und Klärung rechtssystemimmanenter blinder Flecken einordnet, um von dort aus – im Optimalfall – subtil auf andere gesellschaftliche Felder auszustrahlen.

Ein wenig akademisch fällt die Diskussion des Problemzusammenhangs im Zuge der Argumentation aber schon aus, zumal die Standpunkte von Autoritäten des untersuchten Rechtsgebietes einander gegenüber gestellt und detailliert abgewogen werden. Experten werden diese Erörterungen fraglos mit Interesse lesen, während Außenstehende sich womöglich mehr Sensibilität gegenüber der gesellschaftspolitischen Facette wünschen. Um konkret nur ein Beispiel zu nennen: Die Argumentation, dass nicht Religion entscheidet, sondern die soziale Adaption solcher Konzepte wie Ehre oder Reputation, ist nicht falsch, aber sie wirft die Frage auf, wie stark die Verknüpfbarkeit beider Felder sich rhetorisch vertreten lässt. Angesichts der in jedem Fall interpretationsabhängigen Deutung religiöser Schriften ist das Kappen von Anschlussstellen zwischen Straftat und (subjektiv ausgelegter!) religiöser Legitimierung übereilt. Wer Religion so „lesen“ will, greift nicht per se zu einer „falschen“ Lesart, sondern liegt nur im Auge eines anderen Beobachters falsch.

„Allen Ansätzen [ist] vorwerfbar“, schreibt Schorn, „dass eine wirkliche Klärung des Inhalts abweichender Wertvorstellungen unterbleibt.“ (127) Diese Unschärfen werfen interessante Überlegungen hinsichtlich ihrer Anschlussfolgen auf: Warum sollte nicht auch subkulturelles Denken wie etwa „Ganovenehre“ oder das politische Weltbild von Terroristen als Faktor im Strafrecht mitbedacht werden (vgl. 163)? An einer Stelle ist außerdem vom „Gewissenstäter“ die Rede, der um das Unrecht seiner Tat weiß, es aber im konkreten Einzelfall nicht als bindend ansieht (vgl. 292). De facto mag er es durchaus für bindend halten, sich aber dennoch darüber hinweg setzen. Schorns Beispiel, die Attentäter des 20. Juli, die „positives Unrecht“ bewusst betrieben haben, ist dafür ein Paradebeispiel. Der „Gewissenstäter“ ist nicht allein in juristischer Hinsicht, sondern auch als Sozialakteur interessant; er verwirklicht durch sein Handeln die reale, aber zu selten reflektierte Möglichkeit, dass man eine Sache als illegitim anerkennen und sie dennoch realisieren kann. Welche Zielsetzung hinter diesem Spagat steckt, ist von außen nur sehr bedingt rekonstruierbar.

Am Ende werden „Integrationsindikatoren“ genannt, die fremde Wertvorstellungen sinngemäß relativieren könn(t)en: Lange Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnisse, enger Kontakt zu Deutschen, Bildungsniveau (vgl. 307). Alle Argumente sind plausibel und hinsichtlich der Strafzumessung sicher auch einsetzbar. (Das würde noch leichter gelingen, wenn unter das Bildungsniveau generell auch Kenntnis über das Strafrecht subsumiert werden könnte; dafür gibt es aber selbst in „Rechtsstaaten“ offenbar wenig Anlass.) Ob sich Moralvorstellungen durch die aufgeführten Indikatoren tatsächlich verändern – warum sollten sie das, wenn es beispielsweise keinen spürbaren Konflikt zwischen „privaten“ Werten und dem lebensweltlichen Umfeld gibt? –, muss wegen der hochgradigen Fallabhängigkeit des Kontextes dahingestellt bleiben.

Fazit

Nicht zuletzt wegen des Aufrisses faktischer Rechtsprobleme und der Vorstellung praxisorientierter Lösungsansätze ein interessantes Buch für die Fachdisziplin. Als Zusatzlektüre für Leser, die an der institutionellen Bewältigung gefährlicher Kulturkonflikte interessiert sind, ist der Band etwas schwerer verdaulich.

Rezension von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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Es gibt 25 Rezensionen von Thorsten Benkel.

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ISSN 2190-9245