Sebastian J. Moser: Pfandsammler
Rezensiert von Dr. Alban Knecht, 30.07.2014

Sebastian J. Moser: Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur. Hamburger Edition (Hamburg) 2014. 269 Seiten. ISBN 978-3-86854-276-9. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 30,80 sFr.
Thema
Seit den Gesetzesänderungen im Jahre 2006 haben wir uns an den Anblick von Flaschensammlern und Flaschensammlerinnen in den deutschen Städten gewöhnt. Obwohl mittlerweile bereits ein Flaschensammler-Popsong gedichtet wurde (von Andreas Dorau) und Zeitungen immer wieder zum Thema berichten, gab es bisher noch keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Moser nahm dies zum Anlass seine Doktorarbeit an der Universität Freiburg über das Flaschensammeln zu verfassen.
AutorIn oder HerausgeberIn
Sebastian J. Moser studierte Soziologie, Sozialanthropologie und Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld und arbeitet nun am Center Max Weber, Lyon.
Aufbau und Inhalt
Dem ersten Teil des Buches liegen hauptsächlich verdeckte Beobachtungen und kurze Interviews mit Flaschensammlern und -sammlerinnen zu Grunde. Der Autor schildert detailliert die Phänomenologie des Pfandsammelns – also Techniken des Einsammeln, des Handlings und Lagerns wie des Abgebens von Flaschen bei den Supermärkten. Er führt eine Unterscheidung ein zwischen Routensammlern, die teilweise die gleiche Route täglich mehrmals bestreiten, und Veranstaltungssammlern, die z. B. die Flaschen einsammeln, die Fußballfans vor Betreten der Stadien abgeben müssen – und liefert eine vage Abschätzung ihrer Tagesverdienste, die in der Größenordnung zwischen zwei, drei und höchstens zehn Euro liegen. Anschließend vertieft er die Analyse indem er das Flaschensammeln in allgemeinere Zusammenhänge, wie den Kulturtechniken des Pfandleihens und des Sammeln, stellt. Gemäß Moser lässt sich das Sammeln von Pfandflaschen zur Erlangen des Pfandes unterscheiden vom Sammeln spezieller Exemplare einer Gattung wie Gemälde, das eher um seiner selbst willen geschieht. Es sei diese „niedere“ Art des Sammelns, das – neben dem Umgang mit Müll – dazu führt, dass das Pfandsammeln stigmatisiert ist. Der erste Teil der Untersuchung wird durch eine sequenzanalytische Interpretation dreier exemplarischer Interviews konkretisiert und abgeschlossen.
Der zweite Teil rückt interaktive Aspekte des Pfandsammelns in den Vordergrund. Er beginnt mit einer Analyse der Gabe. Ein Geschenk, das langfristig ohne Gegenleistung bleibt, steht der Reziprozität gewöhnlicher Beziehungen entgegen und zwingt damit zur unauflösbaren Schuld der Dankbarkeit, die automatisch mit einer rangniedrigeren Position verbunden ist. In einem weiteren Kapiteln widmet sich Moser dem Flaschensammeln in der neoliberalen Stadt, die so angelegt und ausgestattet ist, dass verschiedenen Randgruppen aus den kommerziellen und touristischen Kernen verdrängt werden. Das trifft auch auf die Flaschensammlerinnen und -sammler zu, denen durch die Konstruktion geschlossener Müllbehälter der Zugang zu weggeworfenen Flaschen erschwert wird. In einem abschließenden Kapitel „Grenzen sozialer Anerkennung“ verdichtet er die These des sozialen Ausschlusses und der vorenthaltenen Anerkennung durch theoretische Argumente und anschauliche Beispiele, wie z. B. durch den Verweis auf YouTube-Filme, in denen Flaschensammler veräppelt und gedemütigt werden. Dieser Teil enthält auch Exkurse zu den historischen Sozialfiguren der Ährensammler, der Lumpensammler und der Raffholzsammler, deren Nähe zu den Flaschensammlern aufgezeigt werden soll.
Diskussion
Die Studie von Sebastian Moser besticht durch die detaillierte Abhandlung einer Vielzahl theoretischer und empirischer Perspektiven, die jeweils differenziert ausgearbeitet und belegt sind. Die verschiedenen Theoriebrillen führen zu einer umfassenden Diskussion des Phänomens des Flaschensammelns. Dennoch irritiert die Arbeit in einigen Aspekten.
Dass der Autor seine Interviews mit einem versteckten Mikrofon durchgeführt und sich als Passant ausgegeben hat, widerspricht nicht nur dem Prinzip des informed consent, sondern es ist auch kontraproduktiv. Sein Argument, er müsse die Flaschensammler beim Sammeln befragen, weil sie nur während der Ausführung der Tätigkeit tatsächlich Sammler seien (S. 23), widerlegt er selbst an anderer Stelle („Der Flaschensammler ist rund um die Uhr Sammler und nicht erst ab dem Zeitpunkt, ab dem er sich auf der Straße befindet“; S.169 ). Gleichzeitig unterschätzt er dabei, wie stark auch einfache Tätigkeiten in ihrer Bedeutung und Sinnhaftigkeit von den Ausführenden reflektiert werden; sie sind eben nicht nur bei Ausübung ihrer Tätigkeit Sammler, sondern sie sind es immer. Von den Interviewten hätte er, wenn er sich als Sozialforscher geoutet hätte, mehr Hintergrundinformationen zum Beispiel zu ihren Lebensumständen und ihrer sonstigen Existenzgrundlage bekommen können, die ihm als interessierten Passant in einer flüchtigen Begegnung, verweigert wurden; die ihm entgegengebrachte Skepsis beschreibt er auch selbst (S. 59). Die Defizite seiner Vorgehensweise werden auch in den vielen Spekulationen deutlich, die seine Interpretation prägen.
Weiter erscheint an der Untersuchung problematisch, dass er der These, dass Flaschensammler stigmatisiert und diskriminiert werden, einseitig nachgegangen ist. Flaschensammler werden tatsächlich aus dem Stadtbild verdrängt und sogar rechtlich verfolgt, wie in dem von der Süddeutschen Zeitung berichteten Fall der Betreibergesellschaft des Münchner Flughafen, die einen flaschensammelnden Rentner vor Gericht gezerrt hat, weil der Müll in den Mülltonnen samt Pfandflaschen angeblich Eigentum des Flughafens ist. Gleichzeitig erlangen Flaschensammler jedoch Anerkennung für ihre Tätigkeit, die ja ohne Zweifel nützlich ist: Das zeigen die Installationen von sogenannten Pfandringen in Köln und Bamberg, die um Mülleimer gespannt werden, so dass dort Pfandflaschen abgestellt werden können, die es den Sammlerinnen und Sammlern erspart in den Mülleimer zu greifen, in gleicher Deutlichkeit wie die Proteste gegen die Einführung flaschensammlerfeindlicher Mülleimer durch die Stadt Hamburg. Pfandsammler berichteten im Rahmen eines studentischen Forschungsprojektes an der Hochschule München auch von in hohem Maße überwiegenden positiven Begegnungen mit Passantinnen und Passanten.
Der Status der Flaschensammler ist also ambivalent: Sie werden gleichermaßen verachtet wie geachtet, beziehungsweise von den einen verachten und von den anderen geachtet. Das reflektieren und verarbeiten sie auch in ihren Identitätskonstruktionen. Und sie teilen dies auch mit etablierten Berufsgruppen, wie z. B. mit (Sozial)ForscherInnen, denen die Sinnlosigkeit ihres Tuns vorgeworfen wird, mit Fußballerspielern des jeweils feindlichen Clubs, mit Politikern, die zu Recht oder Unrecht als korrupt beschimpft werden und auch mit Bankern, die angeklagt werden, mit ihrer Arbeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Die Untersuchung „Strukturierte Verantwortungslosigkeit: Berichte aus der Bankenwelt“ von Honegger, Neckel und Magnin (Berlin, 2010), zeigt, dass Banker in Befragungen zu ihrer Tätigkeit mindestens genauso inkonsistente Rechtfertigungsmechanismen und brüchige Identitätskonstruktionen zu Tage fördern wie Flaschensammler.
Solche Vergleiche mit anderen Berufsgruppen leiten zu der Einsicht, dass auch die Subjektivierung formaler anerkannter Berufe nicht unproblematisch von Statten geht – Ist Arbeit nicht immer irgendwie entwürdigend? – und, was zentraler ist, dass es keine einheitliche Anerkennungsordnung in unserer Gesellschaft gibt: Verschüttet nicht ein Großteil der Bevölkerung seine Verachtung nach eigenen Kriterien über unterschiedliche Berufsgruppen und pflegt seine bevorzugten Feindbilder? Ein angemessener theoretischer Zugang der Themen Anerkennung, Verachtung und Diskriminierung kommt ohne die Diskussion solcher Meinungsvielfalt und Ambivalenz in der Einschätzung verschiedener Tätigkeiten nicht aus und riskiert in der Falle zu landen, in die auch Moser gegangen ist: Er hat einseitig auf die Diskriminierungsthese gesetzt und der Gegenthese keinen Platz eingeräumt. Im Endeffekt schafft er die Diskriminierung, die er selbst zu analysieren vorgibt – mitunter auch dadurch, dass er sie durch seine verdeckten Beobachtungen zu Opfern eines Informationsmissbrauchs macht.
Fazit
Die Studie „Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur“ analysiert viele Aspekte des Flaschensammelns und fasst sie in multiperspektiver Weise zusammen. Der Autor liefert dabei nicht nur eine umfangreiche Phänomenologie des Flaschensammelns, sondern verortet seine Beobachtungen und Interviews in theoretischen Perspektiven des Sammelns, der Ökonomie, der Arbeit mit Müll, des neoliberalen Stadtraums und der Anerkennungstheorien.
Seine Distanz zum „Untersuchungsgegenstand“ führt allerdings auch dazu, dass er einige relevante Aspekte übersieht: Seine Diskussion der Diskriminierung des Flaschensammelns lässt die Thematisierung von Identitätsaspekten vermissen. Leider weist er auch nicht auf den Zusammenhang zwischen dem hohen Durchschnittsalter der Sammler und der Verankerung der Sammelleidenschaft im Verwertungsethos der Nachkriegszeit hin. Auch Genderaspekte und die mittlerweile hohe Anzahl an Sammler und Sammlerinnen mit Migrationshintergrund, die teilweise gar nicht deutsch sprechen und nur mit Dolmetschern zu erreichen wären, hat Moser nicht thematisiert.
Insgesamt handelt es sich um eine lesenswerte Studie, die einem hohen Anspruch gerecht wird, einem wissenschaftlichem Aufbau und Duktus folgt und dennoch für breitere Lesekreise von Interesse sein kann.
Rezension von
Dr. Alban Knecht
Soziologe und Dipl.-Soz.-päd. (FH), Lehrbeauftragter der Hochschule München und des FH Campus Wien
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