Christina Bentrup: Lernprozesse und Jugenddelinquenz
Rezensiert von Gesa Bertels, 30.01.2015

Christina Bentrup: Lernprozesse und Jugenddelinquenz. Eine Längsschnittanalyse delinquenten Handelns aus lerntheoretischer Perspektive. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2014. 334 Seiten. ISBN 978-3-8309-3082-2. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema
Den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie bildet die Annahme, dass delinquente Freunde ein wichtiger Einflussfaktor für delinquente Jugendliche sind. Anhand einer Längsschnittanalyse wird überprüft, ob lerntheoretische Ansätze geeignet sind, jugendliche Delinquenz zu erklären. Zudem wird die besondere Bedeutung delinquenter Freunde genauer untersucht und versucht, Unterschiede in den Lernprozessen von Jugendlichen mit und ohne delinquente Kontakte herauszuarbeiten. Die Studie fußt dabei auf der „Theorie der differentiellen Kontakte“ von Edwin Sutherland, der „Differential Association Reinforcement Theory“ von Robert L. Burgess und Ronald L. Akers sowie der „Sozial-kognitiven Lerntheorie“ von Albert Bandura. Auf der Grundlage der entsprechenden theoretischen Annahmen werden die Längsschnittdaten der Studie „Kriminalität in der modernen Stadt“ einer lerntheoretischen Analyse unterzogen.
Autorin
Die Autorin, Dr. Christina Bentrup, ist Diplom-Soziologin. Sie hat an der Universität Bielefeld studiert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie u.a. in dem Forschungsprojekt „Kriminalität in der modernen Stadt“ an den Standorten Münster und Bielefeld tätig. Ihre Forschungsinteressen sind den Verlagsangaben zufolge Methoden der empirischen Sozialforschung und Kriminologie.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Forschungsarbeit wurde im Jahr 2012 als Dissertation von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld angenommen. Sie entstand im Rahmen des Projektes „Kriminalität in der modernen Stadt (CRIMOC)“. Dieses Projekt wird von Prof. Dr. Jost Reinecke (Universität Bielefeld) und Prof. Dr. Klaus Boers (Universität Münster) geleitet und seit vielen Jahren durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Bei dem Projekt handelt es sich um eine der leider relativ rar gesäten Langzeitstudien, die sich mit den Hintergründen, Ursachen und Entwicklungsverläufen von Jugendkriminalität sowie den Auswirkungen justizieller Kontrolle beschäftigen. Die Studie begann im Jahr 2000 in Münster und wird seit 2002 im Raum Duisburg fortgeführt. Sie beinhaltet insbesondere die jährliche Befragung von Schülerinnen und Schülern, teils bis ins Erwachsenenalter. Das Erhebungsinstrument bleibt dabei im Wesentlichen unverändert, um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu sichern. Die vorliegende Arbeit ist, wie auch andere Teilstudien und weitere Auswertungen der CRIMOC-Daten, in der Reihe „Kriminologie und Kriminalsoziologie“ erschienen, die von den beiden Leitern der Studie unter dem Dach des Münsteraner Waxmann-Verlags herausgegeben wird.
Aufbau
Die Arbeit ist in insgesamt neun Kapitel gegliedert und folgt der für wissenschaftliche Forschungsarbeiten üblichen Logik.
Auf eine kurze Einführung, die u.a. Schlaglichter auf verschiedene medienwirksame Schicksale einzelner delinquenter Jugendlicher wirft, folgen im Abschnitt „Grundbegriffe und Grundkonzepte“ Definitionen zentraler Begriffe wie z.B. Jugend, Werte, Normen oder Sozialisation.
Das zweite Kapitel „Entwicklung des theoretischen Bezugsrahmens“ umfasst die Darstellung von und Auseinandersetzung mit den verwendeten (kriminalsoziologischen) Theorien der o.g. Vertreter.
Im dritten Abschnitt „Theoretische Systematisierung“ werden die zuvor benannten lerntheoretischen Annahmen durch eine Integration in das Grundmodell soziologischer Erklärung nach Hartmut Esser weiter systematisiert.
Darauf aufbauend werden im Folgenden „Hypothesen und Variablenmodelle“ formuliert. Unter der Überschrift „Daten und Methoden“ werden im fünften Kapitel die Datengrundlage aus dem CRIMOC-Projekt, die verwendeten Auswertungsmethoden sowie die Ableitung der empirischen Annahmen aus den zuvor formulierten Hypothesen dargestellt.
Anschließend werden zunächst „Explorative Ergebnisse“ präsentiert, die die Grundlage für die späteren komplexeren Modelle bilden.
Die zentralen Ergebnisse der Arbeit finden sich vor allem in den folgenden Kapiteln sieben und acht „Allgemeine Modelle des Lernens“ und „Die besondere Bedeutung der delinquenten Freunde“. Hier werden die erhobenen Befunde im Hinblick auf die o.g. beiden zentralen Forschungsfragen diskutiert.
„Selektion statt Sozialisation?“ lautet die abschließende Fragestellung im neunten Kapitel, wo die Ergebnisse hinsichtlich der Plausibilität der Sozialisationshypothese im Vergleich zur Selektionshypothese diskutiert werden. Den Schluss bilden eine Zusammenfassung und eine Einordnung der Arbeit in den aktuellen Forschungsstand.
Inhalt
Warum orientieren sich manche Jugendliche stärker an gesellschaftlichen Regeln als andere? Die Norminternalisierung gilt als wichtiger Erklärungsfaktor für Delinquenz. Wo kommen diese Normen jedoch her? Sutherland zufolge führen die Kontakte zu verschiedenen Verhaltensmustern (z.B. von Eltern, Freunden) zu verschiedenen Verhaltensausprägungen. In ihrer Erweiterung dieses Ansatzes beschäftigen sich Burgess und Akers mit der Frage, wie diese Vermittlungs- bzw. Lernprozesse vorgenommen werden. Angenommen wird demnach, dass delinquentes Verhalten (im Übrigen genauso wie jedes andere Verhalten auch) durch verschiedene externe und interne Verstärkungsprozesse erlernt wird. Das Lernen als solches wird jedoch weder von Sutherland noch von Burgess und Akers konkretisiert. Die Autorin ergänzt die Ansätze daher sinnvollerweise um lerntheoretische Annahmen von Bandura. Das Grundmodell soziologischer Erklärung nach Esser ermöglicht es zudem, die Mikro- und die Makroebene miteinander zu verbinden; angesichts der hier formulierten Fragestellung und Forschungsperspektive ein sinnvoller, unumgänglicher Schritt.
Gerade bei der Formulierung der Forschungshypothesen wird deutlich, dass in dieser Studie ein besonderer Fokus auf den differentiellen Kontakten liegt. In den Blick genommen werden insbesondere Beziehungen zu und Verstärkungen von Eltern und Freunden. Dies ist eine forschungsrelevante Entscheidung, die relativ leicht durch verschiedene Jugend- und Sozialisationsstudien unterstützt werden könnte. Die differentiellen Kontakte werden hier allerdings nicht als kausale, sondern als Kontextvariable betrachtet. Die Autorin interessiert besonders, ob es Unterschiede in den Lernprozessen von Personen mit und ohne delinquente Bezugspersonen gibt. Es wird angenommen, dass bei Personen mit delinquenten Kontakten auch eher delinquenzorientierte Lernprozesse beobachtet und dokumentiert werden können. Dies soll mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen über Gruppenvergleiche ganzer Cliquen nachgeprüft werden. Die Datenbasis für die Analyse entstammt dem o.g. Projekt „Kriminalität in der modernen Stadt“, konkret den Erhebungen in Duisburg aus den Jahren 2003-2007. Die Variable Delinquenz umfasste dabei sowohl leichtere und schwerere Gewaltdelikte als auch Sachbeschädigungen und Eigentumsdelikte.
Ein zentrales, allgemeines Ergebnis der Untersuchung lautet: Generell sind lerntheoretische Ansätze in der Lage, delinquentes Handeln zu erklären. Bezüglich des Einflusses der delinquenten Freunde werden zwei Ergebnisse deutlich: Querschnittsmodelle sind in deutlich stärkerem Maße in der Lage, delinquente Lernprozesse zu erklären, als dies Längsschnittmodelle können. Und: In den durchgeführten Gruppenvergleichen werden keine deutlichen Unterschiede zwischen den Lernprozessen von Personen mit und Personen ohne delinquente Freunde gefunden. Dieses zweite Ergebnis bezeichnet die Autorin als gleichermaßen eindeutig wie überraschend. Zudem weist sie selbst darauf hin, dass mit diesen Ergebnissen allein auch noch nicht der dazugehörige Ursache-Wirkungs-Mechanismus geklärt ist. Entsteht das erfasste delinquente Verhalten tatsächlich durch das Vorbild delinquenter Freunde, also durch Sozialisationsprozesse, oder wirken hier vielmehr Selektionsprozesse, über die sich Jugendliche mit vergleichbaren, von Delinquenz geprägten Einstellungen in entsprechenden Freundeskreisen zusammentun? Eine entsprechende Berechnung zeigt eine leicht stärkere empirische Aussagekraft für die Selektionshypothese.
In ihrem Ausblick kommt die Autorin selbst zu dem Schluss, dass aufgrund mehrerer diskussionswürdiger Aspekte bei weiteren Studien zwischen Analysen von Lernprozessen und Analysen zur Bedeutung delinquenter Freunde unterschieden werden sollte. Zudem sei es notwendig, bei zukünftigen Studien mit der Variable der delinquenten Freunde in methodologischer Hinsicht sorgfältiger umzugehen, als dies bislang der Fall sei.
Diskussion
Das Thema Jugendkriminalität neigt leider sehr dazu, in öffentlichen Darstellungen und medialen Debatten von dramatischen und dramatisierten Einzelgeschichten dominiert zu werden. Oft entsteht so der Eindruck, „die Jugend von heute“ – sofern man diesen Ausdruck, der irreführenderweise das Bild einer recht homogenen Gruppe vermittelt – sei selbstbezogener und gewaltbereiter als frühere Generationen und auch andere Altersgruppen. Jede Studie, die diesem Bild wissenschaftlich fundierte Befunde entgegenstellen kann, ist sicher ein Gewinn – für die Forschung, für die präventive und interventive Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen und nicht zuletzt für die entsprechenden Jugendlichen selbst. Hier leistet auch das vorliegende Buch einen Beitrag.
Im Mittelpunkt stehen Lernprozesse. Schon diese grundlegende Entscheidung, den Blick auf ein prozesshaftes Geschehen zu richten, stellt die Weichen für die Auswahl der methodischen Herangehensweise: Die Wahl einer Längsschnittstudie, die mehrere Messzeitpunkte ermöglicht. Hier bildet das im Hintergrund stehende Forschungsprojekt CRIMOC eine passende und nützliche Basis. Der statistische Teil ist sehr ausführlich geworden. Mancher Leser wird hier vermutlich weiterblättern, manch anderer sich hingegen über die gute Nachvollziehbarkeit des Vorgehens und auch des forschungspraktischen Umgangs mit Schwierigkeiten und offenen Fragen, die im Prozess auftauchten, freuen. Leider sind im Ergebnis viele der gefundenen Effekte sehr gering. Daher sind für den Leser die Diskussion der gefundenen Ergebnisse und die Ausblicke auf zukünftige Forschungsmöglichkeiten fast interessanter als die hier gefundenen Erkenntnisse selbst.
Fazit
Eine sehr sorgfältig durchgeführte und dokumentierte Studie, die vielleicht keine bahnbrechenden neuen Ergebnisse präsentiert, aber weitere kleine Bausteine zur Erklärung jugendlicher Delinquenz bieten kann.
Rezension von
Gesa Bertels
Soziologin (M.A.) und Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
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Es gibt 18 Rezensionen von Gesa Bertels.
Zitiervorschlag
Gesa Bertels. Rezension vom 30.01.2015 zu:
Christina Bentrup: Lernprozesse und Jugenddelinquenz. Eine Längsschnittanalyse delinquenten Handelns aus lerntheoretischer Perspektive. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2014.
ISBN 978-3-8309-3082-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17031.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.
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