Harry Dettenborn: Kindeswohl und Kindeswille
Rezensiert von Dr. Alexander Tewes, 10.11.2014
Harry Dettenborn: Kindeswohl und Kindeswille. Psychologische und rechtliche Aspekte ; mit 5 Tabellen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2014. 4., überarb. Auflage. 167 Seiten. ISBN 978-3-497-02476-6. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Im Rahmen der familienrechtlichen Auseinandersetzungen greifen sämtliche Beteiligte (Gerichte, Anwälte, Gutachter, Familienhilfe, etc.) im Rahmen der Entscheidungsfindung wie selbstverständlich auf die Begriffe Kindeswohl und Kindeswille zurück. Da diese jedoch in der betreffenden Fachliteratur und Rechtsgrundlage ebenso wenig klar definiert sind, wie es auch keine staatlich anerkannte Ausbildung zum Sachverständigen gibt, wurde dieses Buch geschrieben, um allen oben genannten Berufsgruppen ein Stück weit Handlungssicherheit zu geben.
Autor
Prof. Dr. Harry Dettenborn, Diplom-Psychologe, Universitätsprofessor i.R., ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Instituts Gericht & Familie Berlin-Brandenburg GbR. Er weist eine langjährige Sachverständigentätigkeit auf dem Gebiet der Rechtspsychologie auf.
Aufbau und Inhalt
Bereits im Vorwort weist der Autor darauf hin, wie wichtig die Begriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswille“ im Rahmen familienrechtlicher Entscheidungen sind. Sie seien „diffus und beliebig“ (S. 9), da es hierbei um interdisziplinäre Sachverhalte aus Psychologie und Recht gehe.
Im Kapitel „Bedeutsam, aber unklar: Kein Widerspruch“ wird diese Thematik vertieft: „(…)diese Begriffe sind in so unterschiedlicher Weise definiert, dass nur in zu schlussfolgern bleibt, ihr Inhalt ist nicht festgelegt und wohl auch schwer festlegbar“ (S. 10). Im Recht erkläre man sie zu unbestimmten Rechtsbegriffen, die dann jeweils ausgelegt werden müssten. Bei der Psychologie handele es sich um „ungeliebte Stiefkinder“ (ebd.), die vom Recht eingebracht worden seien. Daher seien diese auch nicht näher definiert worden. Im vorliegenden Buch solle daher eine Definition unter familienrechtspsychologischem Aspekt erfolgen.
Es folgen die zentralen Kapitel des Buches, in denen die Begriffe Familienrechtspsychologie, Kindeswohl und Kindeswille definiert werden.
Kindeswohl und Kindeswille im Rahmen der Familienrechtspsychologie. Hier wird zunächst erläutert, was die Familienrechtspsychologie ausmacht. Ihr Gegenstand (Erleben und Verhalten beim Auf- und Abbau familiärer Beziehungen, soweit dabei Konflikte der rechtlichen Einflussnahme bedürfen), ihre Grundlagen (Rechtspsychologie, Familienpsychologie, Familienrecht, Kinder- und Jugendhilferecht, Kindschaftsrecht), sowie Widersprüche und Tendenzen (zwischen Recht und Psychologie, sowie innerhalb des Rechtssystems). Abschließend werden die Bausteine familienrechtspsychologischer Systematik dargestellt. Hierbei geht es im Kern um die Untersuchung von Konflikten, Beziehungen und Bindungen, sowie die diesen Konfliktfeldern resultierenden Stressreaktionen des Kindes. Hierbei wird insbesondere auf Risiko- und Schutzfaktoren eingegangen.
Das Wohl des Kindes Im zweiten Abschnitt des Buches steht das Kindeswohl im Mittelpunkt. Hier wird erneut darauf hingewiesen, dass dieser Begriff je nach Berufsgruppe unterschiedlich definiert werde. Dennoch handele sich hierbei um „eines der zentralen Regelungsanliegen des Familienrechts und des Kinder- und Jugendhilferechts“ (S. 47). In der Folge wird versucht, eine Definition, die sämtlichen Aspekten gerecht wird, zu liefern. Anschließend werden Gebrauchskontexte (Bestimmung der „Best- und Genugvariante & Gefährdungsabgrenzung“) dargestellt.
Der Wille des Kindes. Hier wird auf folgende Aspekte ausführlich eingegangen:
- Gesetzgebung
- Psychologie des Kindeswillens
- Kindeswohl und Kindeswille
- selbst gefährdender Kindeswille
- induzierter Wille
- Diagnostik des Kindeswillens
- der Umgang mit dem Kindeswillen
In der Summe wird hier deutlich gemacht, dass es insgesamt häufig schwierig ist, den Kindeswillen strukturiert zu erfassen und hierbei wichtige Aspekte wie die Nachhaltigkeit und mögliche Beeinflussung durch Dritte im Blick zu behalten. Der letzte Punkt wurde und wird in der Fachliteratur immer wieder kontrovers diskutiert. Der Autor vertieft diesen im Abschnitt Kindeswille und Entfremdung, indem er auf das so genannte „Parental Alienation Syndrom (PAS)“ nach Gardner (2002) kritisch eingeht. Dieses sei wissenschaftlich nicht haltbar und böte zu viele Risiken (zum Beispiel den eigentlichen Kindeswillen nicht zu berücksichtigen). Dennoch sei es eminent wichtig, eventuelle Beeinflussungen des Kindes im Blick zu behalten.
Im abschließenden Kapitel Pflichtberatung, Beschleunigung und Kindeswille werden dann erneut formelle Rahmenbedingungen der familienrechtlichen Gutachtenerstellung dargestellt. Auch hier wird erneut deutlich gemacht, wie schwierig es sein kann, in einem zum Wohle des Kindes und sämtlicher Beteiligten eng definierten Zeitraum dennoch sorgfältig zu arbeiten.
Im Anhang werden dann die relevanten Rechtsnormen nach BGB, SGB VIII und FamFG ausführlich dargestellt.
Diskussion
Spätestens im letzten Kapitel macht der Autor sehr deutlich, wie diffizil eine ausgewogene Entscheidungsfindung in familienrechtlichen Verfahren sein kann. Einerseits gibt es zu Recht zeitliche Vorgaben für die Entscheidungsfindung und konsentierte Qualitätsstandards für die Erfassung von Kindeswohl und Kindeswille. Andererseits können diese im Widerspruch zueinander stehen und müssen dann gegeneinander abgewogen werden. Komplizierend kommt hinzu, dass die in der Regel am Verfahren beteiligten Akteure von Recht, Psychologie und Jugendhilfe jeweils andere Sprachen sprechen und es hierdurch nicht selten zu Missverständnissen kommt. Dies ist für die betroffenen Familien dann teilweise überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Um diesen Missstand entgegenzutreten, hat der Autor dieses Buch geschrieben. Es richtet sich ausschließlich an die oben genannten Berufsgruppen. Für Laien ist es viel zu fachlich geschrieben. Oben genannte Adressaten finden ein Standardwerk zum Thema Beurteilung von Kindeswohl und Kindeswille in familienrechtlichen Auseinandersetzungen vor. Es bietet eine gute Grundlage für die Sachverständigentätigkeit und ist klar strukturiert. Insbesondere hervorzuheben ist der Anhang, der sämtliche relevanten Rechtsnormen im Überblick nochmal darstellt. Teilweise werden Quellen etwas unsauber zitiert, indem im Text angegebene Jahreszahlen (z.B. Schulz von Thun, 2006) in der Literaturliste noch mit falschen Daten (1996) wiedergegeben werden. Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass es sich hier um die vierte Auflage handelt, bei der die Quellenangaben nicht sorgfältig aktualisiert wurden. Auf Seite 99 gibt der Autor an, dass „standardisierte Instrumente (zur Erfassung des Kindeswillens) nicht verfügbar“ seien. Dies stimmt zwar, allerdings gibt es mittlerweile normierte Testverfahren von Hommers (2009) und Skatsche und Kollegen (2013) zum Thema Bindung und Beziehung im Rahmen familienrechtlicher Verfahren. Da der Autor auf deren Bedeutung im Zusammenhang mit der Bildung des Kindeswillens zu Recht hinweist, wäre es hilfreich gewesen, diese Testverfahren zumindest ergänzend zu erwähnen. Sprachlich wird deutlich, dass es ein Buch ist, welches von einem Psychologen für Rechtsanwälte und Richter geschrieben wurde. Es ist klar, deutlich und auf den Punkt geschrieben. Hierdurch wird es jedoch auch wenig lebensnah und zum Teil schwer verdaulich. Dies ist jedoch auch dem Thema geschuldet. An wenigen Stellen wird versucht, das Beschriebene anhand von Fallbeispielen didaktisch besser aufzuarbeiten. Dies hätte durchaus häufiger erfolgen können. Dennoch ist das Buch thematisch so wichtig, dass es bei sämtlichen beteiligten Praktikern zur Pflichtliteratur zählen muss. Dies gilt insbesondere vor dem bereits einleitend genannten Hintergrund, dass es bislang keine staatlich geprüfte Ausbildung zum Familienrechtsgutachter gibt.
Fazit
Das Buch stellt in seiner Kürze und Prägnanz eines der wichtigsten Bücher am Markt für professionell Tätige im Bereich familiengerichtlicher Verfahren dar. Für Laien eignet es sich nicht. Leichte formelle Mängel sollten bei der nächsten Auflage korrigiert werden.
Rezension von
Dr. Alexander Tewes
Instituts- und Ausbildungsleiter LAKIJU-VT (Lüneburger Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie), Psychiatrische Klinik Lüneburg gemeinnützige GmbH im Verbund der Gesundheitsholding Lüneburg
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Zitiervorschlag
Alexander Tewes. Rezension vom 10.11.2014 zu:
Harry Dettenborn: Kindeswohl und Kindeswille. Psychologische und rechtliche Aspekte ; mit 5 Tabellen. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2014. 4., überarb. Auflage.
ISBN 978-3-497-02476-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17053.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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