Wiltrud Brächter (Hrsg.): Der singende Pantomime
Rezensiert von Thomas Buchholz, 19.11.2014

Wiltrud Brächter (Hrsg.): Der singende Pantomime. Ego-State-Therapie und Teilearbeit mit Kindern und Jugendlichen. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2014. 283 Seiten. ISBN 978-3-8497-0034-8. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Das vorliegende Buch stellt Anwendungsmöglichkeiten und Weiterentwicklungen der Ego-State-Therapie nach dem Konzept von Watkins und Watkins dar. Unter Ego-States werden „Ich-Zustände“ verstanden, die Anteile der Persönlichkeit eines Menschen beschreiben und eigene Ziele, Wertvorstellungen oder auch Gedanken und Gefühle beinhalten. Jeder Mensch bildet im Laufe seiner Entwicklung mehrere Ego-States heraus. Diese sind im Normalfall bewusst und werden von der Person gelenkt. In bestimmten Situationen werden bestimmte Zustände aktiviert, wobei im Normalfall ein schneller Wechsel zwischen gesunden Anteilen möglich bleibt und alle Anteile zusammenarbeiten. In kritischen Lebenssituationen können weitere Ego-States entstehen, die bei der Bewältigung der schwierigen Situationen helfen. Diese bewältigungsorientierten Ego-States bilden sich unbewusst heraus und „besitzen eigene relativ überdauernde Affekte, Körperempfindungen, Erinnerungen, Fantasien und Verhaltensweisen und … auch eigene Wünsche, Träume und Bedürfnisse“ (S. 24). So hilfreich diese Ego-States bei der Bewältigung von schwierigen Situationen sein können, so können sie doch auch im alltäglichen Leben für eine Reihe von Problemen oder dysfunktionalen Verhaltensweisen verantwortlich sein.
Bei schweren Traumatisierungen können sich Ego-States entwickeln, die abgespalten (dissoziiert) sind von der Persönlichkeit, so dass der Kontakt zu den anderen Anteilen verloren geht. Bei der Dissoziation werden Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte, die üblicherweise miteinander assoziiert sind, voneinander getrennt. Auf diese Weise kann es zu einer fehlenden Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Wahrnehmung und Identität kommen. Konkret bedeutet dies z.B., dass ein Kind oder Jugendlicher, der großem Stress ausgesetzt ist, diesen Schutzmechanismus entwickelt und im Moment der Gefährdung keine Affekte, wie Angst/Panik oder Wut sowie keine körperlichen Empfindungen, z.B. Schmerz, spürt. „Sie [dissoziierte Anteile, A.d.A.] erledigen ihre Aufgaben sehr gewissenhaft und haben keinen Zugang zu den unangenehmen Nebenwirkungen ihrer Strategien. Die ‚Nebenwirkungen‘ zeigen sich nun als psychopathologische Symptome, die die Indikation für die Behandlung darstellen“ (S. 24). Dieses zunächst funktionale Bewältigungsverhalten als Reaktion auf ein traumatisierendes oder länger bestehendes traumatisches Ereignis ist später, im alltäglichen Leben, ursächlich für eine Reihe vielfältiger Symptome und Probleme im Umgang mit anderen Menschen.
Aufbau
Das Buch wird von Kai Fritzsche mit einem Einführungsbeitrag zur Thematik der Ego-States-Therapie eröffnet. Neben einer anschaulichen Definition mit Fallbeispielen unterteilt er Ego-States in drei basale Kategorien: (1) Grundsätzlich ressourcenorientierte Ego-States, (2) verletzte Ego-States und (3) verletzte, destruktiv wirkende Ego-States. Weiterer Schwerpunkt des ersten Beitrages ist die Darstellung eines allgemeinen Behandlungsmodells nach Phillips und Frederick (2003), dem SARI-Modell.
Der Band besteht aus drei Teilen.
Zu Teil 1: Methodische Zugänge in der Arbeit mit Teilen und Ego-States
Der Herausgeberin Wiltrud Brächter gelingt im ersten Beitrag des ersten Teiles eine Synthese des Ego-States-Ansatzes mit der Sandspieltherapie. Sandspiel ist ein Ansatz aus der analytischen Psychologie. Die Autorin bezieht sich dabei auf die Arbeiten von Dora Kalff und beschreibt Möglichkeiten, wie dieser Ansatz unter dem Fokus der Ego-States-Therapie weiterentwickelt werden kann.
Siegfried Mrochen und Hiltrud Bierbaum-Luttermann erläutern in ihrem Beitrag die Arbeit mit Handpuppen in der Teilearbeit unter zwei Aspekten. Zum Einen stellen die Autoren den methodischen Zugang mit Handpuppen zu verschiedenen Ego-States des Patienten dar und eröffnen einen Möglichkeitsraum zur Utilisierung von verletzen bzw. problematischen Anteilen. Zum Anderen wird die Teilearbeit mit Handpuppen unter einer systemischen Sichtweise auf die Familie ausgeweitet. In ihrem nächsten Beitrag beschreiben die gleichen Autoren Möglichkeiten, wie das Teilekonzept in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen aufgegriffen und wie Zugang zu eher verborgenen Ego-States hergestellt werden kann. Hier werden besondere Techniken für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vorgestellt.
Anschließend wird von Elzette Fritz der Ego-States-Ansatz in die Kunsttherapie eingeführt. Da jedem künstlerischem Ausdruck zugleich eine Erzählung immanent ist, liegt es nahe, diese Ausdruckform als Zugang zu Ego-States zu nutzen. Die Autorin schildert anschaulich den Fall „Alice“, einem 14 jährigem Mädchen, die über diese Form der Auseinandersetzung Kontakt zu ihren verborgenen Anteilen erhalten konnte.
Der letzte Beitrag des ersten Teils von Peter Allemann ist psychodramatisch geprägt. Der Autor beschreibt anhand mehrerer Fallbeispiele, wie szenisches Arbeiten im Teileansatz aussehen und gelingen kann.
Zu Teil 2: Teilearbeit und Ego-States-Therapie in verschiedenen Anwendungsfeldern
Der erste Beitrag von Charlotte Wirl widmet sich der Teilearbeit bei Angst. Die Autorin wählt den Zugang über Geschichten und stellte den Kindern Kraftwesen, Kraftgestalten und weitere ressourcenorientierte Ego-States an die Seite. Durch fantasievolle Geschichten erhalten Kinder die Möglichkeit die Angst in Form von Gestalten „‚lustvoll zu verändern‘ … bis es mit dem, was es geschaffen hat, zufrieden ist“ (S. 141).
Jenny Da Silva stellt anschließend Ego-States-Interventionen bei Jugendlichen vor und nimmt dabei explizit Bezug auf das eingangs beschriebene SARI-Modell nach Phillips und Frederick.
Obwohl Ego-State-Therapie für die Arbeit mit Einzelklienten entwickelt wurde, besteht in der Kindertherapie die Notwendigkeit, auch die Bezugspersonen in die Therapie einzubeziehen. Daher greift Wiltrud Brächter im nächsten Beitrag Familientherapie als Anwendungsfeld des Ego-States-Ansatzes auf und erweitert diese um eine systemische Perspektive auf Familie. Dies veranschaulicht die Autorin anhand ihrer Arbeit mit Sandspieltherapie.
Psychodramatische Teilearbeit mit Kindern in Trennungs- und Scheidungssituationen wird von Alfons Aichinger aufgegriffen. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Teilearbeit mit Tierfiguren, die Kindern ermöglicht „im Schutz der Symbolebene und über Externalisierung auf Tierfiguren ihren Gefühlen und Wünschen eine Stimme zu verleihen“ (S. 183). Sehr eindrücklich beschreibt der Autor den Fall der kleinen Anna.
Zuletzt wird unter der Rubrik Anwendungsfelder die Teilearbeit mit Kindergruppen vorgestellt. Zita Stoltenberg-Zehnder entwickelt ein Behandlungsmodell für die Gruppentherapie im Kontext der Ego-States-Therapie und gibt praktische Einblicke anhand eines Fallbeispiels.
Zu Teil 3: Teilearbeit und Ego-States-Therapie bei Trauma und Verlust
Der letzte Teil besteht aus vier Fallvignetten. Dargestellt werden Symptombeschreibung und Behandlungsverlauf von traumatisierten Patienten. Die ersten drei Beiträge (Woltemade Hartman, Eva Ferstl und Silvia Zanotta) orientieren sich bei ihrer Fallbeschreibung eng am o.g. SARI-Modell und gehen auf die einzelnen Phasen des Modells ein: (1) Sicherheit und Stabilisierung, (2) Aktivieren von Ich-Zuständen und Erschließen eines Zugangs zum Trauma, (3) Auflösen des Traumas und Suche nach einer korrigierenden Erfahrung, (4) Integration der Erfahrung und der Ich-Zustände. Der letzte Beitrag des Autorenpaares Malene Budde und Bärbel Benzel stellt eine Verbindung zwischen Ego-States-Therapie und EMDR her.
Diskussion
Das Buch stellt zahlreiche methodische Zugänge zur Ego-States-Therapie dar und integriert die Ego-States-Therapie in eine Vielzahl weiterer Methoden bzw. Ansätzen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (z.B. Sandspiel, Psychodrama, Kunsttherapie und die Arbeit mit Figuren, Handpuppen oder Geschichten, EMDR). Dabei wird schnell klar, dass die Ego-States-Therapie nicht mehr nur ein Ansatz für die Arbeit mit traumatisieren Menschen ist oder zur Behandlung von Traumafolgestörungen herangezogen werden kann. Wann immer ein Patient anbietet, Kontakt zu seinen Anteilen aufzunehmen, kann dies z.B. vermittelt über Sprach- oder Bewegungsmuster, über konkrete Symptome oder innere Impulse geschehen. Durch das Aufgreifen von Ego-States können Entwicklungsimpulse für die Persönlichkeit gegeben werden, mit dem Ziel eine funktionierende und zufriedenstellende Zusammenarbeit der verschiedenen Ich-Zustände zu unterstützen.
Das Buch ist gut verständlich und überzeugt durch seine Praxisnähe. Methodische Zugänge werden in jedem Beitrag verständlich beschrieben und durch Praxisbeispiele unterlegt. Thematisch geschieht dies vermittelt über eine erhebliche Vielfalt, so dass das Buch bisweilen etwas unstrukturiert wirkt. Die Aufteilung der Beiträge in drei Teile (Teil 1: Methodische Zugänge, Teil 2: Anwendungsfelder, Teil 3 Trauma und Verlust) hilft da nur bedingt. Dennoch liegt ein inspirierendes, kurzweilig zu lesendes und durch die vielen Fallberichte praxisorientiertes Buch vor, welches zum Ausprobieren, Nachmachen und Experimentieren einlädt. Die präsentierten Anregungen sind in ihrer Vielfalt gut nachvollziehbar, kreativ und bieten viele ermutigende Beispiele.
Fazit
Mit dem vorliegenden Buch stellen die AutorInnen Ego-State-Therapie und Teilearbeit grundlegend dar und integrieren diese auf bewährte Methoden der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Zielgruppe sind nicht nur Therapeuten, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten, sondern auch jene, die die Auseinandersetzung ihrer Klienten mit verschiedenen Persönlichkeitsanteilen anregen und so neue Entwicklungsräume schaffen wollen. Die Verbindung von theoretischen Ausführungen mit Fallberichten unterstreicht die Praxisrelevanz und vermittelt das Thema dem Leser anschaulich und lebendig.
Rezension von
Thomas Buchholz
M.A.
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