Julia Halfmann, Werner Schlummer et al. (Hrsg.): Migration und Behinderung
Rezensiert von Dipl. Päd. Štefan Kvas, 11.05.2015

Julia Halfmann, Werner Schlummer, Karin Terfloth (Hrsg.): Migration und Behinderung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2014. 150 Seiten. ISBN 978-3-17-025232-5. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.
Thema
Die Autorin beleuchtet eine lange Zeit vernachlässigte Thematik: Das interdependente Verhältnis von Migration und Behinderung. Seit Ende der 1990er Jahre erfährt dieses Thema jedoch immer mehr Aufmerksamkeit und Relevanz, sowohl in Wissenschaft und Forschung als auch in der praktischen pädagogischen Arbeit.
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr. Julia Halfmann ist Sonderpädagogin mit den beiden Fachrichtungen Geistigbehindertenpädagogik und Sprachbehindertenpädagogik. 2012 promovierte sie an der Universität zu Köln zum Thema „Migration und Behinderung. Eine qualitative Studie zu Lebenswelten von Familien mit einem Kind mit Komplexer Behinderung und Migrationshintergrund in Deutschland“ bei Prof. Dr. Barbara Fornefeld. Vorliegende Publikation erscheint in der Publikationsreihe Basis Material: Geistige Behinderung – Lernschwierigkeiten unter der Herausgeber_innenschaft von Werner Schlummer und Karin Terfloth.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin gliedert ihre Veröffentlichung in sechs folgende Kapitel:
- Einleitung
- Migration und Behinderung – die Grundlagen
- Kulturspezifische Sichtweisen auf Behinderung
- Migration und Behinderung – eine lebensweltliche Perspektive
- Migration und Behinderung im Kontext der Behindertenhilfe
- Perspektiven der Beratung und Unterstützung
Innerhalb der Einleitung (Kap. 1) zeichnet Julia Halfmann die Konturen der sich aus dem Kontext von Migration und Behinderung ergebenden Fragestellungen. Dabei beschreibt die Autorin die Relevanz der Thematik, die sich vor allem im Bereich der Behindertenhilfe zeigt.
Kapitel 2 nutzt die Autorin zur Darstellung der Migrationsgeschichte, Definitionen über Migrationshintergrund sowie zur Erörterung passender Studien und Statistiken und unternimmt eine strukturierte Beschreibung des Personenkreises, welche die Aspekte Behinderung und Migration mitdenkt und nicht isoliert betrachtet. Sie diskutiert die Verdopplung der Problemlagen Migration und Behinderung als mögliche Chance und stellt gängige Modelle über Behinderung im Kontext der Thematik dar.
Zum Einstieg in das dritte Kapitel betrachtet die Autorin den Kulturbegriff, dem ein Exkurs in die internationale und vergleichende Heil- und Sonderpädagogik folgt. Weiterhin beschreibt die Autorin verschiedene Wahrnehmungs- und Umgangsarten sowie Erklärungs- und Behandlungsansätze von Behinderung. Der Abschluss des Kapitels bildet u. a. die Darstellung und Abgrenzung der Begriffe Inter-, Multi- und Transkulturalität.
Innerhalb des vierten Kapitels erarbeitet Halfmann eine lebensweltliche Perspektive auf Grundlage von Lebensgeschichten dreier Frauen mit Migrationshintergrund und einem Kind mit Behinderung aus verschiedenen Herkunftsländern. Sie thematisiert Aspekte von Herkunftsland und ethnischer Zugehörigkeit über die kulturelle Orientierung und Behinderung bis hin zu räumlichen wie zeitlichen Aspekten von Migration und Behinderung über ihren phänomenologischen Zugang.
Im fünften Kapitel wird die Situation der Migrationsthematik im Kontext des gegenwärtigen Behindertenhilfesystems betrachtet. Bestehende Barrieren für betroffene Familien werden aufgedeckt und Impulse über derzeitige Paradigmen (Inklusion) sowie bereits existierende Ansätze in Hilfeeinrichtungen außerhalb der Behindertenhilfe (interkulturelle Öffnung, interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Kommunikation) verdeutlicht.
Kapitel 6 nutzt die Autorin zur abschließenden Darstellung der Möglichkeiten in heil- und sonderpädagogischen Einrichtungen hinsichtlich einer Klientel mit Migrationshintergrund und fokussiert dabei die Relevanz niedrigschwelliger Beratungsangebote für den Personenkreis.
Diskussion
Judith Halfmann gelingt es, einen bisher fehlenden sowie umfassenden Überblick über die Situation von Migrantenfamilien mit Kindern bzw. Angehörigen mit Behinderung zu verfassen. Die Schwierigkeit bei dieser Intersektions-Thematik stellt vor allem die Konkretisierung des Personenkreises und die Darstellung der Bedürfnisse der Betroffenen dar, da hinsichtlich des wissenschaftlichen Arbeitens genügend Quellen von entweder ausschließlich Migration und Einwanderung oder ausschließlich Barrieren für Personen mit Behinderung sowie deren Angehörigen vorhanden sind. So gesehen befindet sich auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser intersektionalen Thematik vor einem ähnlichen Problem, wie betroffene Familien mit Migrationshintergrund und Behinderung, da für diesen Personenkreis häufig entweder Angebote der Behindertenhilfe oder Migrationsdiensten zur Verfügung stehen, nicht aber eine Stelle, die auf die sich überschneidenden Aspekte der Familien eingehen kann. Besonders positiv muss daher hervorgehoben werden, dass es Halfmann gelingt genau diese sensible Schnittstelle von Migration und Behinderung in einer besonders konkreten Darstellung sowie auch in einem ausführlichen Umfang zu erfassen. Kernstück der Veröffentlichung ist zweifelsohne Kapitel 4, in dem die Autorin sehr sorgfältig die Lebensgeschichten dreier Mütter hinsichtlich der Aspekte Migration und Behinderung aufarbeitet. Dieses ist durch die sorgfältige Erarbeitung auch das umfangreichste Kapitel, was eine etwas ungleichmäßige Verteilung zu den restlichen Kapitel bewirkt.
Fazit
Insgesamt ist es Judith Halfmann gelungen eine lange überfällige Monografie zu einem sehr relevanten Thema zu verfassen. Hervorgehoben werden muss an dieser Stelle nochmals die gelungene Beschreibung des Personenkreises, auf den der Rest der Veröffentlichung treffsicher aufbaut.
Die Publikation bietet für unterschiedliche Gruppen Informationen zu dem Thema: Studierende und Wissenschaftler_innen in den Bereichen Erziehungswissenschaften, Heil- und Sonderpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Soziale Arbeit werden vor allem durch den wissenschaftlichen Zugang in Kapitel 4 bedient. Mitarbeiter_innen innerhalb der Familienhilfe, Landeswohlfahrtsverbänden, Trägern der Behinderten- und Sozialhilfe erhalten hilfreiche Informationen über eine Klientel, die lange keine entsprechende Beachtung fand. Ebenso erhalten sie Impulse und Anregungen mit welchen Mitteln die pädagogische Arbeit erfolgreicher gestaltet werden kann.
Rezension von
Dipl. Päd. Štefan Kvas
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