David Becker: Die Erfindung des Traumas
Rezensiert von Dipl.-Psych. Gerhard Wolfrum, 11.09.2014

David Becker: Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2014. 2. Auflage. 313 Seiten. ISBN 978-3-8379-2396-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 41,90 sFr.
Thema
Die mit 313 Seiten jetzt erschienene Neuauflage der 2. Auflage von 2006 (damals Edition Freitag, Berlin, jetzt 2014 Psychosozial-Verlag) setzt sich mit den kritischen Seiten humanitärer Hilfsprojekte und den damit verbundenen traumatherapeutischen Angeboten an Betroffene in Krisen- und Kriegsgebieten auseinander. Der Autor reflektiert die damit häufig verbundenen Widersprüche im Hinblick auf die psychotherapeutische Praxis angesichts der politischen und sozialen Hintergründe und plädiert für ein Umdenken in der Traumatheorie.
Autor
PD Dr. phil., Dipl.-Psych., Sozialpsychologe, ist Direktor des Büros für psychosoziale Prozesse (OPSI) der internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie gGmbH in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Beratung psychosozialer Projekte in Kriegs- und Krisengebieten.
Entstehungshintergrund
„Anhaltende Konflikte, Kriege und Migration machen traumatische Erfahrungen zu einem globalen Phänomen der Gegenwart. Trotz der Notwendigkeit, den Zusammenhang zwischen intrapsychischen und sozialen Problemen zu verstehen, spaltet sich die Traumatheorie in zwei Hauptströme, die häufig nur einen der Aspekte berücksichtigen: Der medizinisch-symptomorientierte Mainstream generiert dabei kontextverleugnende und subjektfeindliche Therapiemethoden, während sozialpolitische und diskursanalytische Ansätze riskieren, das spezifische Leid Einzelner aus den Augen zu verlieren. Im vorliegenden Buch reflektiert David Becker diese Widersprüche im Bezug auf die psychotherapeutische Praxis und analysiert die politischen Perspektiven. Schließlich begründet er ein konzeptionelles Umdenken in der Traumatheorie und fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen von psychosozialer Hilfe in der internationalen Zusammenarbeit“ (Klappentext).
Aufbau
Teil I: Trauma und Bindung
1. Die Psychotherapie von Extremtraumatisierten – Chile
2. Mariana
3. Setting und Übergangsraum
4. Von der Mühsal, die eigene Ohnmacht zu nutzen
Teil II: Traumatische Prozesse und Gesellschaft
5. Die Wahrheit der Erinnyen
6. Das Elend mit den Flüchtlingen – Undankbare Opfer und ihre Helfer
Teil III: Die Erfindung des Traumas
7. Zur Notwendigkeit eines konzeptionellen Neuanfangs
8. Die Ferne träumen
Teil IV: Trauma und kulturelle Differenz
9. Edel, hilfreich und gut
10. Verflochtene Geschichten
Inhalt
Im ersten Teil „Trauma und Bindung“ steht die Frage nach der Beziehung zu traumatisierten Menschen im Mittelpunkt, im ersten Kapitel zur „Psychotherapie von Extrem-traumatisierten“ (Chile) wird das Konzept der „vinculo comprometido“, der sich einlassenden Bindung vorgestellt und im Rückblick von heute aus kritisch reflektiert. Im Kapitel „Mariana“ steht die Therapiestunde mit der Tochter eines chilenischen Verschwundenen im Zentrum, in der der Kern ihrer traumatischen Erfahrung lebendig wurde. In „Setting und Übergangsraum“ geht es um die Relevanz und die Bedeutung der Rahmenbedingungen für den therapeutischen Prozeß mit der Kernaussage, dass sich Institution und Behandlungstechnik an den Patienten anpassen müssen und nicht umgekehrt. „Von der Mühsal, die eigene Ohnmacht zu nutzen“ beschreibt die eigenen Erfahrungen des Autors als Supervisand und als Supervisor von Gruppen, wo es in der Arbeit mit Extremtraumatisierten sowohl des Glaubens an die eigene Omnipotenz bedarf als auch des Erlernens und Aushaltens der eigenen Ohnmacht. Dabei bezieht sich der Autor bevorzugt auf die Theorie der Übergangsphänomene von D. W. Winnicott und auf die Container-Funktion nach W. Bion.
Der zweite Teil „Traumatische Prozesse und Gesellschaft“ stellt die gesellschaftspolitische Dimension von Traumata in den Mittelpunkt und beklagt die „fatale Psychologisierung der Flüchtlingsproblematik in Deutschland, hinter der sich ein relevantes politisches Problem verbirgt“. „Die Wahrheit der Erinnyen“ widmet sich den griechischen Rachegöttinnen, die im Zuge einer Gerichtsverhandlung gegen den Muttermörder und Vaterrächer Orest im Sinne einer Wandlung zu Schutzgöttinnen Athens werden. „Das Elend mit den Flüchtlingen – undankbare Opfer und ihre Helfer“ diskutiert die gesellschaftliche Dimension von Trauma in Bezug auf Flüchtlinge und den „reduktionistischen Opferbegriff, mit dem wir versuchen, Verständnis für die Leidenden dieser Welt aufzubringen, während wir gleichzeitig bemüht sind, sie uns vom Leibe zu halten“. Dabei hinterfragt der Autor auch kritisch die Praxis der Begutachtung von Flüchtlingen, was für ihn weder ein wissenschaftliches noch therapeutisches Problem, sondern vor allem ein Politikum ist.
Im dritten Teil „Die Erfindung des Traumas“ steht der theoretische Ansatz selbst zur Debatte, vor allem mit der Frage, wie ein Traumaverständnis beschaffen sein muß, das die vielfältigen Kritiken am Konzept angemessen berücksichtigt – auch angesichts des historischen Schicksals des Traumabegriffs vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Theorieentwicklung. „Zur Notwendigkeit eines konzeptionellen Neuanfangs“ geht detailliert auf Hans Keilsons Konzept der „sequentiellen Traumatisierung“ als eines notwendigen Paradigmenwechsels ein. Dabei bemüht sich der Autor Keilsons Theorie zu reformulieren und ein länderunspezifisches sechsstufiges Sequenzmodell zu entwickeln. „Die Ferne träumen“ greift unter Rückgriff auf Edward Said die Entwicklung und den Gebrauch psychoanalytischer Traumatheorien historisch auf und bezieht sich auf die Kommunikationsprobleme zwischen der sog. „ersten“ und der „dritten Welt“.
Im vierten Teil „Trauma und kulturelle Differenz“ stellen Saids verflochtene Geschichten die Brücke und den Rahmen zu den eigenen Erfahrungen und Reflexionen des Autors dar. „Edel, hilfreich und gut“ diskutiert die Krise der humanitären Hilfe in Kriegsregionen in kritischer Auseinandersetzung mit einem Buch von David Rieff, welcher von der Notwendigkeit spricht, zu einer scheinbar unpolitischen und neutralen humanitären Hilfe zurückzukehren. Dem widerspricht der Autor und stellt die These auf, dass es eine nicht-neutrale, sich für Menschenrechte und deren Einhaltung interessierende humanitäre Hilfe geben kann, „ohne dass dies notwendigerweise zu Katastrophen wie in Ruanda führen muß“. Er kritisiert karitative, angeblich neutrale Hilfsvorstellungen, die in Wirklichkeit politisch sind und häufig Schaden anrichten. Die „sich entfaltende Kultur der Lüge“ scheint dem Autor eine notwendige Begleiterscheinung des internationalen Hilfsgeschäfts zu sein. „Verflochtene Geschichten“ formuliert die Hypothese, dass Traumadiskurs und Traumaarbeit einerseits „das letzte imperiale Kulturprojekt“ darstellen, andererseits aber auch die Chance enthalten, mehr vom Leid der Menschen zu verstehen, und helfen könnten, nicht nur im unmittelbaren psychosozialen Bereich, sondern in der internationalen Zusammenarbeit insgesamt bessere und wechselseitig hilfreichere Formen der Begegnung zu ermöglichen. Dabei stellt der Autor eine von ihm und von Barbara Weyermann entwickelte Methode dar, die nicht nur für alle Beteiligten brauchbare Evaluationsergebnisse ermöglicht, sondern darüber hinaus die übliche Dynamik zwischen Geldgebern und Geldempfängern durchbricht und auf Seiten der lokalen Projekte emanzipatorische Prozesse fördert. Nach Meinung des Autors sind in der internationalen Zusammenarbeit Qualitätsentwicklung und -kontrolle wahrscheinlich „die zentralen Aktivitäten, an denen sich entscheidet, ob sich Ausbeutung und Unterdrückung mittels imperialer Kultur verschärft fortsetzen oder ob es zu neuen, sich bewusst verflechtenden Begegnungen kommt, die Emanzipation, Autonomie und antiimperiale Veränderungen fördern“. Der kritischen Bewertung und Entwicklung von Traumaarbeit und psychosozialen Fragestellungen in Konflikt- und Postkonfliktgebieten komme damit eine Schlüsselrolle zu.
Diskussion
Das vorliegende Buch irritiert bereits mit dem Titel „Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten“. Traumatische Lebenserfahrungen gibt es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte und in allen Erdteilen – das Trauma muss also niemand neu erfinden. Ebenso irritierten die Aussagen, dass es nach wie vor umstritten sei, „was Trauma eigentlich bedeutet“ oder das Statement, es müssten Vorschlage erarbeitet werden, die helfen, „die aktuelle Sackgasse in der Traumadebatte zu verlassen und einen Neuanfang zu riskieren“. Auch die offensichtlich ironische Formulierung, die Psychotraumatologie versuche, „dem Begriff die notwendigen wissenschaftlichen Weihen zu erteilen“ sorgte für Stirnrunzeln beim Rezensenten ebenso wie die Forderung, es solle „keine wissenschaftlich abgesicherte, absolute Traumadefinition gesucht oder erfunden werden. Alle Versuche in diese Richtung sind nicht nur nutzlos, sondern auch schädlich und verlogen…“ Mehr als Irritation löste die Behauptung aus, „der PTSD ist das weltweit bekannteste Traumakonzept, gleichzeitig aber auch das nutzloseste, um man-made-disasters zu verstehen und mit ihnen umzugehen“ und erst Recht die fast abfällige Kommentierung des Lehrbuchs der Psychotraumatologie von Fischer & Riedesser (1999, 4. Aufl. 2009), den Begründern dieser wissenschaftlichen Disziplin in Deutschland. Ironischerweise hätte der Autor genau hier sehr vieles dargestellt gefunden, was er in vielen Abschnitten seines Buches bei Traumakonzepten als fehlend beklagt, z.B. die fehlende Kontextualisierung und Isolierung traumatischer Belastungserfahrungen oder die wiederholte Betonung, dass die traumatische Erfahrung eine Verlaufserkrankung ist, was Robert Bering 2005 in seinem Buch „Verlauf der Posttraumatischen Belastungsstörung“ weiter vertieft hat – jenseits dessen, womit Hans Keilson mit seinem Konzept der sequentiellen Traumatisierung den Grundstein gelegt hatte. Auch die vom Autor beklagte oft fehlenden ätiologische Orientierung hätte er ausführlich in dem explizit diesem Thema gewidmeten Buch „Kausale Psychotherapie – Manual zur ätiologieorientierten Behandlung psychotraumatischer und neurotischer Störungen“ von Gottfried Fischer (2007) finden können.
Berührend ist die Darstellung der eigenen Lebensgeschichte und die frühe Konfrontation mit traumatischen Begebenheiten, zu bewundern der Mut, 1982 nach Chile umzuziehen, um zusammen mit einem Team in den antidiktatorischen Kampf einzusteigen, um Opfern zu helfen und vermutlich auch das eigene Leben zu riskieren. Die Konfrontation mit extremtraumatisierten Menschen, mit Folter und systematischem staatlichen Terror wird in den Schilderungen der Begegnung mit Opfern sehr deutlich. Leider wird angesichts vieler z. T. auch sehr berechtigter kritischer Auseinandersetzungen nicht klar, mit welcher Ausbildungs-Qualifikation der Autor dorthin ging, zumal zu dieser Zeit in Europa noch niemand von Trauma sprach, geschweige denn eine Qualifikation gehabt hätte. Zumindest scheint der Autor der Psychoanalyse nahe zu stehen und von einer frühen Kontroverse (1980) beeindruckt gewesen zu sein, wo er Hans Keilson begegnete, dessen Konzept für ihn handlungsleitend wurde. So wertvoll die Erkenntnisse von Keilson waren, so kritisch muß darauf hingewiesen werden, dass die Bedeutung und Nutzung der postexpositorischen Phase im Hinblick auf die Ausbildung von Traumasymptomen und vor allem für den Heilungsverlauf ebenfalls bereits im 1999 erschienenen Lehrbuch der Psychotraumatologie von Fischer & Riedesser ausführlich dargestellt ist. Dort findet sich auch eine wertvolle Diskussion von hilfreichen Trauma-Definitionen, die dem Denken des Autors eigentlich hätten gefallen müssen. Uneingeschränkt Recht muß dem Autor nicht nur bzgl. einem eher Technik- statt Beziehungs-orientierten Umgang mit Traumapatienten gegeben werden und der „Verwässerung“ im Hinblick auf eine objektive Faktenlage, gerade angesichts von man-made-disasters und der Konfrontation mit Extremtraumatisierung, sondern auch angesichts des häufig fehlenden sozialpolitischen Verständnisses und dem damit verbundenen Zynismus im Umgang mit den Opfern. Eindrücklich sind die frühen Konfrontationen mit Extremtraumatisierten – einem Begriff, der nicht vom Autor, sondern von Bruno Bettelheim stammt – und die notwendige Einbeziehung des gesellschaftlichen und vor allem politischen Kontextes, ohne welchen man Opfern von man-made-Traumatisierung in keiner Weise gerecht werden kann. Der Autor beklagt z.T. zu Recht, daß dieser Kontext und der politische Bezug von den meisten Institutionen ignoriert werden und häufig „Trauma“ als zu behandelnde Krankheit definiert und in ICD-Kategorien abgehandelt wird, womit das tiefe Leid der Opfer keine wirkliche Anerkennung findet. Daraus leitet er die unbestreitbare Konsequenz ab, das „Trauma“ nur in Bezug auf einen spezifischen kulturellen und sozialpolitischen Kontext verstanden werden kann, was er mithilfe der griechischen Mythologie anschaulich macht.
Der skandalöse Umgang mit Flüchtlingen und die damit verbundenen Gutachterpraxis in Deutschland werden vom Autor zu Recht scharf kritisiert, ebenso kritisch blickt er auf humanitäre Hilfsprojekte, welche auch traumatherapeutische Hilfe anbieten, die seiner Überzeugung und Erfahrung nach in der Regel aber selten transparent genug sind, um den Betroffenen wirklich zu helfen oder einem Land zu helfen, sich wirklich emanzipieren zu können. Hier führt er das von ihm weiter entwickelte Modell von Hans Keilson an, demzufolge sich das Ausmaß der Entwicklung von Traumasymptomatik immer erst in der postexpositorischen Phase zeigt – in Anhängigkeit von der Ehrlichkeit und Dauer der angebotenen Hilfe vor dem Hintergrund einer „Kultur der Lügen“. Er schildert hierzu interessante Erfahrungen als Berater und Ausbilder z. B. in Angola, Bosnien und Herzegowina. Das konzeptionelle Umdenken auf der Basis des Konzeptes von Hans Keilson und des Umgangs mit der postexpositorischen Phase bringt angesichts des mittlerweile Bestehens einer Psychotraumatologie als eigenständiger Wissenschaftsdiziplin (z.B. Fischer, 2011) keine wirklich neuen Gedanken, auch die angekündigte Neu-Konzeptionalisierung des Traumabegriffs kommt zu kurz. Die vielen, vor allem sozialpolitisch interessanter (Hintergrund-)Informationen sind sehr bereichernd, die Merkwürdigkeiten bezogen auf den Traumabegriff und die den Opfern angebotenen Therapiemöglichkeiten zeigen im psychotraumatologischen Bereich jedoch einen Stand der Diskussion, der zeitlich der Erstveröffentlichung entspricht.
Fazit
Insgesamt ein sehr interessantes, von viel persönlicher Erfahrung getragenes und politisch ausgerichtetes Buch für diejenigen, die bereit sind, sich mit humanitären Projekten, psychosozialer Hilfe in der internationalen Zusammenarbeit und mit den Hintergründen kriegerischer Auseinandersetzungen und den Folgen für die dabei Beteiligten auseinanderzusetzen. Trotz des wiederholt beschworenen konzeptionellen Umdenkens in der Traumatheorie kommt gerade dieser Aspekt in einem ansonsten sehr lehrreichen Buch zu kurz – diskutiert werden Kontroversen des letzten Jahrzehnts.
Rezension von
Dipl.-Psych. Gerhard Wolfrum
Psychologischer Psychotherapeut,
Psychoanalytiker, Fach-Psychotherapeut für Traumatherapie, München
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