Margrit Stamm: Entwicklung ohne Ende
Rezensiert von Mag.(FH) DSA MSc Doris Lang-Lepschy, 20.01.2015
Margrit Stamm: Entwicklung ohne Ende. Wie sie Bildungswege und Lernstufen beeinflusst. Edition Rüegger (vormals Rüegger Verlag) (Zürich) 2014. 296 Seiten. ISBN 978-3-7253-1009-8. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 35,00 sFr.
Autorin
Margrit Stamm ist Professorin em. an der Universität Fribourg. Bis 2012 war sie Lehrstuhlinhaberin für Erziehungswissenschaften, Schwerpunkt Sozialisation und Humanentwicklung. Seit Oktober 2012 ist sie Leiterin von SWISSEducation (Swiss Intitute for Educational Issues). Zudem ist sie Gastprofessorin an diversen Universitäten im In- und Ausland sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten von nationalen und internationalen Organisationen. Bis Ende 2011 war Sie Mitglied des Rats des Eidgenössischen Instituts für Berufsbildung EHB sowie Präsidentin des Departements Erziehungswissenschaften. Von 2011 bis 2012 baute sie das Leading House «Qualität der beruflichen Bildung» an der Universität Fribourg im Auftrag des BBT (heute: SBFI) auf. Zudem gründete sie im Jahr 2011 das Universitäre Zentrum für frühkindliche Bildung Fribourg ZeFF. Darüber hinaus war sie Stiftungsrätin von FORS (Swiss Centre Of Expertise in the Social Sciences) bis September 2012.
Thema und Entstehungshintergrund
Die gesamte Forschung von Margrit Stamm basiert auf dem Gedanken, dass Entwicklung in einer Lebensspannenperspektive von der Geburt bis zum Tod stattfindet. Das Buch „Entwicklung ohne Ende. Wie sie Bildungswege und Lernstufen beeinflusst.“ beinhaltet eine Auswahl der wichtigsten Veröffentlichungen ihres bisherigen wissenschaftlichen Schaffens aus Fachzeitschriften und Tageszeitungen.
Aufbau und Inhalt
Vorwort. „Margrit Stamm bereitet Bildungsforschung so auf, dass sie einem breiten Publikum zugänglich wird. Damit hat sie Diskussionen ausgelöst, in Fachkreisen, aber auch in Elternräten und am Stammtisch. So manchen Begriff hat sie geschärft und so manchen Modetrend mit wissenschaftlichen Erkenntnissen entzaubert.“ (S.7), so treffend beschreibt die Schweizer Nationalrätin Jacqueline Fehr die umfassende wissenschaftliche Arbeit von Margrit Stamm bereits im Vorwort. Sie bietet zudem einen kurzen Ausblick auf die folgenden Inhalte rund um Frühförderung, Lehrerbildung und Berufsbildung.
Einleitung. Margrit Stamm beleuchtet in der Einleitung ihr bisheriges wissenschaftliches Arbeiten sowohl in der persönlichen zeitlichen Abfolge als auch in Verbindung mit den wissenschaftlichen Entwicklungen in ihrem Forschungsgebiet. Sie benennt konkrete Studien und Publikationen mit Fokus auf das Schweizer Bildungssystem. Bereits hier zeigt Margrit Stamm, dass sie es als „Aufgabe jeder wissenschaftlich tätigen Person.“ sieht „ihr Forschungswissen so aufzubereiten, dass es in der Praxis verstanden.“ und es ebendort auch weiterverwendet werden kann. (S.15)
Schwerunkt I: Wozu Frühkindliche Bildung?
In den hier zusammengefassten Aufsätzen wird die Bedeutung frühkindlicher Bildung, Betreuung und Förderung diskutiert und kritisch hinterfragt, aber auch mit der alltäglichen Praxis abgeglichen sowie Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt.
- In Geboren- geschöppelt- und dann gebildet? werden der Sinn frühkindlicher Förderung ebenso diskutiert wiedie Ungerechtigkeit ungleicher Startchancen und die Angst vor der Verschulung. Weitere Themen sind die frühkindliche Bildung als entscheidende Grundlage eines zukunftsfähigen Bildungssystems sowie das Recht des Kindes auf den heutigen Tag.
- Kapitel 2 Vorschulkinder im Treibhaus bietet Gedanken zur frühen Fördereuphorie der Eltern. Zu Beginn steht die Frage: Raubt Frühförderung den kleinen ihre Kindheit? Mit Überstimulation und Überstrukturierung durch Eltern beschäftigt sich Margrit Stamm mit Hilfe des afrikanischen Sprichwortes „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“ (S.28). Darauf folgt die Frage: Was ist gute frühkindliche Förderung durch das Elternhaus? Und die Schlussfolgerung: Frühförderung braucht Zeit, damit sich Verstehen ausbilden kann. Die Beschäftigung mit der Thematik der Fördereuphorie bildet das Ende dieses Kapitels.
- In Kapitel 3 Die Magie der Frühförderung beleuchtet Margrit Stamm die Wirkung von Frühförderung ebenso wie früheingeschulte Kindergärtler und die Rolle der Familie. Schulfähigkeit als Ziel von Frühförderung wird diskutiert. Das Kapitel endet mit der Betonung der Wichtigkeit von Elternverantwortung bei der Frühförderung.
- Kapitel 4 Wozu Bildung in der frühen Kindheit? Was wir wissen, wissen sollten und was die Politik damit anfangen kann. beginnt mit der Beschreibung und Abgrenzung des Begriffes frühkindliche Bildung. Der Status quo wird als unübersehbare Vielfalt beschrieben. Ebenfalls Thema sind Migrantenkinder und das Fazit für die Politik. Die Wirkung frühkindlicher Bildung mit kurz- und langfristigen Auswirkungen, auch auf die Berufstätigkeit der Eltern sind weitere Schwerpunkte. Die Fragen: Wer profitiert am meisten und weshalb? Sowie Kann frühe familienergänzende Förderung zu Verhaltensauffälligkeiten führen? werden im Anschluss diskutiert. Weitere Themen sind ökonomische Effekte frühkindlicher Bildung, Sprachförderprojekte und ihre Wirkung und die Problematik des vermessenen und therapierten Kindes sowie das Fazit für die Politik. Auch die Frage welche Rolle Qualität spielt wird ausführlich bearbeitet und endet mit einem Fazit für die Politik, ebenso wie die Frage: Wie kann die Wirkung frühkindlicher Bildung gesteigert werden. Mit konkreten Empfehlungen endet dieses Kapitel.
Schwerpunkt II: Herausforderung Schuleintritt
- In Kapitel 1 Schulpflicht ohne Schulreife? Die frühe Einschulung ist nicht für jedes Kind das richtige Rezept zeigt Margrit Stamm Entwicklungsmöglichkeiten für die Schule zur Thematik Schulreife auf und betont die Wichtigkeit von Lehrpersonen.
- In Kapitel 2 Kindergarten als Schule? fordertMargrit Stamm, dass die Frage wie eine gute Didaktik für die „Verschulung“ des Kindergartens und die kindliche Bildungsförderung als eine sinnvolle bildungspolitische Diskussionsaufgabe wertvolle Beiträge liefern könnte.
- Kapitel 3 Achtung, fertig, Schuleintritt: Wie Eltern ihre Kinder erfolgreich auf die Schule vorbereiten können. bereitet die Thematik auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zuerst umfassend auf. So listet Margrit Stamm konkrete, gut nachvollziehbare Merkmale einer guten vorschulischen Entwicklung ebenso auf wie notwendige Kompetenzen von Vorschülern. Detailliert zeigt sie auf, wie Eltern ihr Kind auf die Schule vorbereiten können und was gute frühe Förderung ist.
In Schwerpunkt III: Die Bedeutung der Familie für den Schul- und Lebenserfolg zeigt Margrit Stamm deutlich auf wie sehr die Sozialisation der Familie den Bildungserfolg von Kindern beeinflusst.
- Im Kapitel 1 Tyrannei der Elternliebe beschäftigt sich Margrit Stamm kritisch mit gesellschaftlich bedingten Wunschvorstellungen z.B. nach dem perfekten Kind und übertriebener Elternliebe.
- Das Kapitel 2 Diagnose: Bildungspanik zeigt den von Heinz Bude benannten Begriff für „panische Verhaltensweisen nervöser Eltern, die ihren Kindern die besten Plätze in höheren Schulen sichern wollen“ (S. 96)
- Kapitel 3 Die neuen Väter diskutiert die Vaterrolle in verschiedenen Facetten. Dieser Themenbereich ist auch Inhalt von Kapitel 4 Konkurrenz am Wickeltisch?
Schwerpunkt IV: Begabung, Leistung und Geschlecht
- Kapitel 1 Begabung, Leistung und Geschlecht: Neue Dimension im Lichte eines alten erziehungswissenschaftlichen Diskurses stellt den Gender Gap mit unterschiedlichen Gefahrenzonen für Mädchen und Jungen zur Diskussion und fordert die „Vermeidung von generalisierenden Feststellungen, wonach Mädchen zunehmend Bildungsgewinnerinnen, Jungen hingegen Bildungsverlierer sind.“ (S.107) und bietet entsprechende wissenschaftliche Unterlagen.
- Im Kapitel 2 Die Schweiz: Ein Volk von Mindestleistern? steht die Begriffsklärung zu Beginn. Des Weiteren werden die Rolle der Lehrperson, Geschlechtsunterschiede und Zukunftsperspektiven beleuchtet.
- Kapitel 3 Überdurchschnittlich begabte Mindestleister- Wo liegt das Versagen? Zeigt den aktuellen Forschungsstand von Minderleistung auf und präsentiert genauer eine aktuelle Untersuchung.
Der Schwerpunkt V: Zu cool für die Schule? Schulschwänzen und Dropout widmet sich Negativformen schulischer Partizipation.
- Kapitel 1 beleuchtet Schulschwänzen- Phänomen zwischen Hilflosigkeit und Tabu.
- Im Kapitel 2 Null Bock auf Schule steht der Schulabsentismus in der Schweiz im Vordergrund.
- Kapitel 3 Schulabbruch- Zeugnis des Scheiterns? bildet den Abschluss dieses Schwerpunkts.
Überdurchschnittliche Begabung, herausragende Leistung und Talent sind Themen im Schwerpunkt VI: Talent, Begabung und Expertise in der Berufsbildung.
- Kapitel 1 Begabung und Expertise beinhaltet unter anderem die Terman- Studie im Fokus von Begabung und Expertise. Begabungsforschung wird ebenso näher beleuchtet wie Förderungsmaßnahmen und Expertiseforschung. Den Abschluss bildet ein Fazit.
- Kapitel 2 Kluge Köpfe und goldene Hände: Überdurchschnittlich begabte Lernende in der Berufsbildung stellt ein entsprechendes Forschungsprojekt vor.
- Kapitel 3 ist ein Plädoyer für praktische Intelligenz.
- Kapitel 4 Talentmanagement in der beruflichen Grundbildung: Weshalb mehr Augenmaß für Talent und Leistungsexzellenz? zeigt, dass berufliche Begabung und Talent in der Forschung immer noch blinde Flecken aufweist und widmet sich komplett dieser Thematik.
Schwerpunkt VII: Minoritäten, Kulturen und späte Potenziale nimmt die Beziehung von Begabung und Kultur sowie die begabten Minoritäten unserer Gesellschaft in den Fokus inklusive der Talententwicklung älterer Menschen.
- Das Kapitel 1 Begabung, Kultur und Schule beginnt mit Mythen, Gegenmythen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und diskutiert in weiterer Folge die Thematik Begabung in diesem Kontext.
- Kapitel 2 Begabte Minoritäten: Eine Black Box unseres Bildungssystems und wie sie geknackt werden könnte zeigt den aktuellen Forschungsstand und Analysen zur Unterrepräsentation begabter Minoritäten und die Hintergründe dafür. Als Schlüsselmerkmal begabter Minoritäten identifiziert Margrit Stamm die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Den Abschluss bildet eine Diskussion über notwendige Veränderungen.
- Talententwicklung von „Herbstzeitlosen“ ist mehr als produktives Altern. Wie diese Thematik in der Praxis funktionieren kann und welche weiteren Faktoren dabei beachtet werden müssen zeigt Margrit Stamm in Kapitel 3.
- In Kapitel 4 Elite muss für alles möglich sein konzentriert sich Margrit Stamm nochmals auf die Schweiz.
Schlusswort. Im Schlusskapitel zieht Margrit Stamm eine persönliche Wirksamkeitsbilanz. Sowohl Begabtenförderprogramme als auch Schulgesetze um Ausführungen zu Fragen leistungsstarker resp. Überdurchschnittlich begabter Kinder und Jugendlicher wurden überarbeitet und ergänzt ebenso wie das Berufsbildungsgesetz. Kritisch sieht Margrit Stamm nach wie vor die Thematik Schulabsentismus und Dropout und ortet Entwicklungspotential. Auch das Verhältnis pädagogische Forschung und Bildungspolitik beleuchtet sie kritisch. Nochmals betont Margrit Stamm die „Hauptaufgabe“ „nicht nur in wissenschaftlichen Journals zu publizieren, sondern auch gezielt den Wissenstransfer in die Bildungs- und Sozialpolitik respektive -verwaltung und in die pädagogische Praxis zu gewährleisten“ (S. 273). Dabei betont sie die Notwendigkeit einer „positiven Trivialisierung“. (S. 273). Ein Plädoyer für ein Bekenntnis zu Werturteilen ebenso wie für den ständigen Verzicht von moralischen Urteilen durch Forscherinnen und Forschern folgt. Den Schluss bildet die Bekenntnis von Margrit Stamm zur skeptischen Funktion ihrer wissenschaftlichen Arbeit.
Fazit
Margrit Stamm zieht in diesem Werk Bilanz über ihre bisherige Forschungsarbeit durch eine Auswahl der wichtigsten Veröffentlichungen ihres bisherigen wissenschaftlichen Schaffens aus Fachzeitschriften und Tageszeitungen. Sie zeigt in diesem Buch beeindruckend, dass sie ständigen Praxisbezug mitbearbeitet. Auf diese Art und Weise bietet jeder Artikel Wissenstransfer und kann somit einem breiten Publikum empfohlen werden. Die im Text als besonders wichtig beschriebene „positive Trivialisierung“ gelingt in jedem Kapitel.
Etwas verwirrend ist, dass die Publikation von Margrit Stamm wiederholt mit dem Titel „Von der Wiege bis zur Bahre - Entwicklungspsychologische Stationen jenseits der Norm“ bezeichnet wird, der Titel ist allerdings „Entwicklung ohne Ende. Wie sie Bildungswege und Lernstufen beeinflusst.“
Rezension von
Mag.(FH) DSA MSc Doris Lang-Lepschy
Es gibt 11 Rezensionen von Doris Lang-Lepschy.
Zitiervorschlag
Doris Lang-Lepschy. Rezension vom 20.01.2015 zu:
Margrit Stamm: Entwicklung ohne Ende. Wie sie Bildungswege und Lernstufen beeinflusst. Edition Rüegger (vormals Rüegger Verlag)
(Zürich) 2014.
ISBN 978-3-7253-1009-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17109.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.
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