Sarah Alexi: Kindheitsvorstellungen und generationale Ordnung
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 23.02.2015
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Sarah Alexi: Kindheitsvorstellungen und generationale Ordnung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 278 Seiten. ISBN 978-3-86388-045-3. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 47,90 sFr.
Thema
Die in einer Gesellschaft vorhandenen Kindheitsvorstellungen und das Verhältnis der Generationen sind eng aufeinander verwiesen. Eine generationale Ordnung, die stark hierarchisch geprägt ist, bringt mit größerer Wahrscheinlichkeit Vorstellungen von einer Kindheit hervor, die den Erwachsenen unterlegen ist und nichts zu sagen hat. Kindheit wird dann eher als eine Art Vorstadium zum Erwachsensein gesehen, das seinerseits als vollkommen vorgestellt wird. Eine solche Ordnung führt in der Regel auch häufiger zu Konflikten zwischen Jüngeren und Älteren, zumindest wenn die Kinder älter werden, was aber nicht vorschnell mit „Generationenkonflikten“ gleichgesetzt werden sollte. Allerdings geht die Anerkennung der Kindheit als eigenständige Lebensphase nicht zwangsläufig mit einer egalitären Generationenordnung einher. Kindheit kann dann auch als eine Art Reservat verstanden werden, in dem Spielräume eingerichtet werden, ohne den Kindern zuzubilligen, sich in das Leben der Erwachsenen einzumischen. Erst wenn sie dies könnten, wäre dem Credo des polnisch-jüdischen Kinderarztes und Pädagogen Janusz Korczak Genüge getan: „Kinder werden nicht zu Menschen, sie sind schon welche.“
In der heutigen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung wird der Generationenordnung große Bedeutung beigemessen. Kindheit wird meist relational konzipiert und als eine Strukturkategorie verstanden, die nur als Teil der Generationenordnung verstanden werden kann. Allerdings wird Kindheit dabei weniger unter dem Aspekt des „Werdens“ (becoming), sondern mehr unter dem Aspekt des „Seins“ (being) konzipiert. Damit wird nicht nur unterstrichen, dass Kindheit mehr als ein Vorbereitungs- oder Übergangsstadium ist, sondern auch ein spezifisches Handlungsvermögen verkörpert (gemeinhin mit dem englischen Terminus Agency bezeichnet). Daraus ergibt sich wiederum die Vorstellung oder die Forderung nach einer generationalen Ordnung, die eher egalitär gestaltet ist.
Allerdings wird in der Kindheitsforschung auch in Frage gestellt, Kindheit nur unter generationalen Aspekten zu betrachten, da dadurch suggeriert wird, es gebe nur eine Kindheit und die Kindheit sei ein in sich homogenes Phänomen. Demgegenüber wird darauf verwiesen, dass sich Ungleichheiten der sozialen Lage, des Geschlechts oder der kulturellen Einbindung auch bereits in der Kindheit niederschlagen und den Lebensweg und sozialen Status von Kindern erheblich beeinflussen. In diesem Zusammenhang wird auch davor gewarnt, soziale Konflikte vorschnell in Generationenkonflikte umzudeuten oder soziale Gerechtigkeit mit Generationengerechtigkeit gleichzusetzen.
Aufbau und Inhalt
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Darstellung einer empirischen Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie generationale Ordnung in „kindheitsspezifischen Erfahrungsräumen“ (vor allem der Schule) entsteht und reproduziert wird. Dazu wurden Angehörige dreier verschiedener Generationen (ältere Menschen, Menschen im mittleren Alter und Kinder im Grundschulalter) zum Thema Kindheit miteinander ins Gespräch gebracht, zuerst gemeinsam und danach getrennt nach Generation und Geschlecht. Die Forschungsarbeit hatte zwei Ziele. Zum einen sollte herausgefunden werden, inwiefern sich die Generationszugehörigkeit auf die intergenerationalen Kommunikations- und Interaktionsprozesse auswirkt. Zum anderen sollte ermittelt werden, welche generationsspezifischen Orientierungen und Kindheitsvorstellungen der Erwachsenen erkennbar werden und wie sich diese wiederum auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit Kindern und Kindheit auswirken.
Im ersten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen, vor allem die verschiedenen Verwendungsweisen des Generationenbegriffs dargestellt. Im Anschluss wird der Unterschied zwischen Generationenverhältnissen, die eher auf einer Makroebene angesiedelt sind, und Generationenbeziehungen, die eher bei mikrosozialen Prozessen in den Blick kommen, verdeutlicht. Danach wird gezeigt, inwiefern Generation als „konjunktiver Erfahrungsraum“ im Sinne des Soziologen Karl Mannheim gefasst werden kann und welches Generationenverständnis der Forschung zugrunde gelegt wird.
Im zweiten Kapitel wird auf die grundlegenden Begriffe Kind und Kindheit eingegangen. Zuerst wird dargestellt, in welcher Weise in der neueren Kindheitsforschung Kinder als eigenständige Akteure begriffen werden und in welcher Weise Kindheit als generationales Konstrukt verstanden wird. Im Anschluss wird dargelegt, warum Kindheit als prägende Phase im Lebenslauf gesehen wird, und es wird die Diskussion darüber nachgezeichnet, ob im Vergleich zu früheren gesellschaftlichen Phasen heute von einer „veränderten Kindheit“ gesprochen werden kann. Dabei wird auch gefragt, inwieweit bei Annahmen zu soziohistorischen Veränderungen von Kindheit generationsspezifische „Wahrnehmungsfilter“ zu beachten sind.
Das dritte Kapitel fragt nach dem Zusammenhang von Schule und Generation. Ausgehend von der Beschreibung der Schule als institutioneller Rahmen, werden die dort herrschenden Generationsbeziehungen und die generationsspezifischen Differenzerfahrungen der schulischen Akteure thematisiert, bevor Überlegungen zu einer schultypischen generationalen Ordnung vorgestellt werden. Hierzu wird der gegenwärtige Forschungsstand nachgezeichnet.
Im vierten Kapitel werden die methodischen Zugänge der Arbeit vorgestellt. Es wird erklärt warum Gruppendiskussionen der Vorzug gegeben wurde, wie die einzelnen Gruppen zustande kamen und in welcher Weise bei der Auswertung der gewonnenen Informationen mit der vor allem von Ralf Bohnsack im Anschluss an Karl Mannheim weiterentwickelten dokumentarischen Methode gearbeitet wurde. Im Einzelnen werden die Arbeitsschritte und der Analyseverlauf beschrieben.
Im fünften Kapitel, das den weitaus größten Teil des Buches einnimmt, werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung dargestellt. Es fällt nicht leicht, den Inhalt dieses Kapitels in wenigen Worten darzustellen. In homogen (nach Alter und Geschlecht) zusammengesetzten Diskussionsgruppen werden einerseits lebenszyklische, andererseits gesellschaftshistorische Perspektiven auf Kindheit ermittelt und in Typen zusammengefasst („sinngenetische Typenbildung“). Des Weiteren wird gefragt und wiederum in Typen zusammengefasst, in welcher Weise die Perspektiven auf Kindheit von Alter, Geschlecht und dem beruflichen Milieu beeinflusst sind („soziogenetische Typenbildung“). Hierbei geht es ausschließlich um die Kindheitsvorstellungen der Erwachsenen. In den heterogen zusammengesetzten Diskussionsgruppen wird ermittelt, wie die verschiedenen Altersgruppen miteinander agieren und welche Vorstellungen von Kindheit und intergenerationaler Beziehung dabei zutage treten. Hierbei werden als typische Interaktionsmuster solche von Abgrenzung, Annäherung und Missverstehen identifiziert.
Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse der Gruppendiskussionen unter theoretischen Aspekten diskutiert und mit weiterführenden methodologischen Erwägungen verbunden. Insbesondere schlägt die Autorin vor, das Begriffsinventar der dokumentarischen Methode und die Modi der Diskursorganisation in Gruppendiskussionen zu erweitern. Am Ende des Kapitels werden Konsequenzen für die Gestaltung von Generationenbeziehungen in der Schule gezogen. Da schulische Ordnung immer auch generationale Ordnung sei, gehe es „in Unterricht und Schule stets um die Gestaltung von Generationenbeziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern“ (S. 244). Das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer Generation bzw. das Bewusstmachen der eigenen generationsspezifischen Prägung könne ein wichtiger Baustein für die pädagogische Professionalität sein. Denn wer die Prägung seiner eigenen Generation kenne, dem gelinge es besser, „Anteil zu nehmen an den Erlebnisschichtungen anderer Generationen und vielleicht auch eigene Rechtfertigungsmuster zu durchbrechen“ (S. 247).
Diskussion
Die Arbeit von Sarah Alexi, die aus einer Dissertation am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel hervorgegangen ist, greift wichtige Fragen der Kindheits- und Generationenforschung auf, die bisher wenig beachtet wurden. In den der empirischen Untersuchung vorangestellten Teilen wird ein bündiger Einblick in Konzepte und Theorien zur Generationenfrage sowie in generationsspezifische Aspekte und Leerstellen der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung gegeben.
Die empirische Untersuchung selbst hinterlässt allerdings einen zwiespältigen Eindruck. Sie ist methodisch äußerst sorgfältig und differenziert angelegt, doch die Ergebnisse werden in einer Form präsentiert, die es einem schwer macht, darin weiterführende Erkenntnisse über Kindheitsvorstellungen und Generationenverhältnisse auszumachen. Gewiss ist es interessant, z.B. belegt zu sehen, inwiefern die Schule als kindheitsspezifischer Erfahrungsraum asymmetrische Generationenverhältnisse verkörpert, oder dass die Vorstellungen, die Erwachsene von Kindern und Kindheit haben, von deren generationsspezifischen Erfahrungen geprägt und damit auch „gefiltert“ sind. Aber es fragt sich, warum dazu ein solch immenser methodischer Aufwand nötig war. Selbst in der Zusammenfassung der Autorin muten die gewonnenen Erkenntnisse geradezu banal an: „Die vorliegende Untersuchung konnte zeigen, dass es verschiedene Typen der intergenerationalen Interaktion gibt, die nur unter Rückgriff auf die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe der Akteure und den daraus resultierenden Kindheitsverständnissen adäquat verstanden werden können.“ (S. 235)
Vielleicht sollte das Buch wie ein Steinbruch verstanden werden, in dem sich auch überraschende Einblicke in das Zustandekommen bestimmter Kindheitsvorstellungen und die Konstruktion generationaler Ordnungen finden lassen. Aber insgesamt muten die Ausführungen eher wie Präliminarien zu weiteren Untersuchungen an, statt zu bündigen Schlussfolgerungen zu gelangen. Für solche Untersuchungen wäre gewiss auch wünschenswert, nicht bei den Kindheitsvorstellungen von Erwachsenen stehen zu bleiben, sondern sich auch denen der Kinder zu nähern. Erhellend und bedenkenswert fand ich eine diesbezügliche (möglicherweise selbstkritisch zu verstehende) Bemerkung der Autorin, die sich am Ende des Buches findet: „Insgesamt stellt sich angesichts der erzielten Ergebnisse die Frage, ob es Erwachsenen überhaupt möglich ist, Kinder und Kindheit zu verstehen. […] Kinder erheben gar nicht erst den Anspruch darauf, das Erwachsenenleben zu kennen, während Erwachsene stets zu wissen glauben, was es bedeutet, ein Kind zu sein.“ (S. 249)
Fazit
Ein theoretisch und methodisch anspruchsvolles Buch, das in seinem empirischen Teil nicht immer hält, was es verspricht, aber gleichwohl Anregungen zum Nachdenken über Kindheitsvorstellungen und die Konstruktion generationaler Ordnungen bereithält.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 23.02.2015 zu:
Sarah Alexi: Kindheitsvorstellungen und generationale Ordnung. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2014.
ISBN 978-3-86388-045-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17116.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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