Wolfgang Mertens (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe
Rezensiert von Dr. Hans Hopf, 05.01.2015
Wolfgang Mertens (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2014. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. 1158 Seiten. ISBN 978-3-17-022315-8. D: 99,90 EUR, A: 103,00 EUR, CH: 135,00 sFr.
Autor und Thema
Die vorliegende vierte Auflage dieses Handbuchs wurde von Wolfgang Mertens allein herausgeben und beschreibt die grundlegenden Standards der Psychoanalyse, verfasst von 140 Wissenschaftlern. Das Werk enthält insgesamt etwas mehr als 200 Begriffe. 150 der Grundbegriffe wurden für diese Auflage überarbeitet, 15 wurden neu in das Handbuch aufgenommen. Das schon von außen beeindruckende Kompendium wiegt übrigens 2086 g.
Wolfgang Mertens ist einer der bedeutendsten lebenden Psychoanalytiker, seit 1982 war er Professor für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und ist inzwischen emeritiert. Seine Schwerpunkte liegen in der analytischen Behandlungstechnik, der Entwicklungspsychologie, in der Krankheitslehre und der Methodologie. Einige seiner wegweisenden Lehrbücher sind eine Einführung in die psychoanalytische Therapie in drei Bänden sowie zwei Bände Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Sein neuestes Werk ist „Psychoanalyse im 21. Jahrhundert“ mit dem er in eine – von ihm mit herausgegebene – Buchreihe einführt, die den Standort der Psychoanalyse im 21. Jahrhundert zu bestimmen sucht.
Entstehungshintergrund und Aufbau
Jedes dieser Stichworte wurde von den Autorinnen und Autoren nach einem einheitlichen Schema erstellt, so werden die grundlegenden Begriffe der Psychoanalyse übersichtlich und umfassend erläutert. Am Beginn steht eine Definition, und es wird die klassische Auffassung jedes Begriffes – weitgehend an Freud orientiert – dargestellt. Sofern sinnvoll, wird auch der ideengeschichtliche Hintergrund ausgeleuchtet, der sich überwiegend auf wissenschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte vor Freud bezieht. Die Psychoanalyse ist mittlerweile über hundert Jahre alt, so schien es dem Herausgeber angezeigt, auch begriffliche Entwicklungen und Differenzierungen darzustellen, die zwischen der Grundlegung des jeweiligen Verständnisses und seinem heutigen Gebrauch erfolgten. In einem weiteren Abschnitt wird die Bedeutung des Begriffes innerhalb der jeweiligen Schulrichtungen skizziert, von der Ich-Psychologie sowie den jeweiligen Objektbeziehungstheorien bis hin zu Bindungs- und Kleinkindforschung. Und schließlich findet ein interdisziplinärer Diskurs mit anderen Wissenschaften statt, etwa mit kognitiver Linguistik, Gedächtnispsychologie, mit Affektpsychologie und Evolutionsbiologie und vielem mehr.
Die jeweiligen Autorinnen und Autoren sind durchweg Fachleute auf dem Gebiet des von ihnen bearbeiteten Sachgebietes, die meisten von ihnen haben dazu Standardwerke veröffentlicht. Die Fähigkeit der Autoren, einen solchen Überblick komprimiert darzustellen und dabei noch die meisten Entwicklungen zu berücksichtigen, kann rundum nur bewundert werden. Dabei handelt es sich keineswegs um Stichworte, die lexikalisch abgehandelt werden, sondern um abgeschlossene kleine Aufsätze mit einem Umfang von mehreren Seiten. So umfasst der Grundbegriff zur Kinderanalyse etwa 13 Seiten.
Ausgewählte Inhalte
Für den Rezensenten entsteht zwangsläufig die Schwierigkeit, welche Auswahl er aus jenen 200 Begriffen treffen soll, um den Aufbau der Stichworte wenigstens kurz zu illustrieren. Ich habe mich ganz subjektiv für die folgenden drei entschieden:
- Ödipuskomplex (Mertens),
- Aggression (Rauchfleisch) sowie die
- Kinderanalyse (Fuchs)
Der Herausgeber Wolfgang Mertens, ein Kenner der psychosexuellen Entwicklung, hat jenen Begriff beschrieben, dessen Bewältigung über das die Ausprägung psychischer Krankheitserscheinungen entscheidet: Der Ödipuskomplex ist nach wie vor ein Kernkomplex, der im Zentrum der Psychoanalyse steht. Freud hat ihn aus dem Drama von Sophokles „König Ödipus“ abgeleitet. Aus heutiger Sicht bezeichnet der Ödipuskomplex die Gesamtheit der Entwicklungsaufgaben, die sich aus der Dreiecksstruktur und der Soziodynamik der Eltern-Kind-Beziehung ab der Geburt ergeben, wobei auch unbewusste psychosexuelle, narzisstische und aggressive Strebungen und Konflikte der Eltern berücksichtigt werden. Autoren, wie etwa Malinowski, die davon ausgingen, dass der Ödipuskomplex auf westliche, patriarchalische Kulturen begrenzt sei, konnten mittlerweile widerlegt werden. Mertens beschreibt detailliert, wie der Ödipuskomplex in den verschiedenen Schulen dargestellt wird.
Einst war Freud davon ausgegangen, dass psychische Störungen generell von sexuellen Traumatisierungen verursacht würden. Erst später erkannte Freud als eigentliche Verursacher Wunschphantasien und nicht mehr nur die Erinnerungen an reale Traumata. Deswegen ist es bedeutsam, dass Mertens in diesem Stichwort auch auf die realen inzestuösen Missbrauchshandlungen an Mädchen eingeht, die innerhalb der frühen Kindheit bis zur Frühadoleszenz verübt werden. Dabei geht es um Realerfahrungen und -erinnerungen eines Kindes, nicht um Phantasmata, also um Wunschphantasien. Freud rückte die Bedeutung der inneren Welt zwar in den Mittelpunkt, beide Formen bestanden und bestehen innerhalb der psychoanalytischen Diskussion und klinischen Anwendung immer nebeneinander.
Udo Rauchfleisch ist Verfasser des wichtigen Werkes „Dissozial“, so war es naheliegend, dass er den Begriff Aggression bearbeitete. Bereits in seiner Definition diskutiert der Verfasser, dass der Begriff „Aggression“ sowohl positive Aspekte umfasst wie Selbstbehauptung, Abgrenzung, Verteidigung, aber auch die Schädigung anderer. Er geht auf Freuds Definition ein, Aggression als Ausdruck eines Todestriebes anzusehen. Die Auseinandersetzung mit menschlicher Destruktivität erhielt besondere Aktualität durch seine Krebserkrankung, den Ersten Weltkrieg sowie den Tod seiner Tochter Sophie. Die Todestriebtheorie war in der Psychoanalyse von Anfang an umstritten, Hauptvertreterin war Melanie Klein, die Lebens- und Todestrieb von Anfang an im Menschen wirksam sah. Ausführlich beschreibt Rauchfleisch die Forschungen von Erich Fromm, der zwischen einer phylogenetisch programmierten gutartigen und einer biologisch nicht adaptiven, sondern schädlichen, sozial zerstörerisch wirkenden bösartigen Aggression, der Destruktivität unterscheidet. Rauchfleisch fasst wie folgt zusammen „Ob es zur Ausbildung einer konstruktiven oder einer destruktiven Aggression kommt, hängt wesentlich von den Beziehungserfahrungen des Individuums, von seiner Ich- und Überich-Entwicklung sowie von der Stabilität seines Selbstwertsystems ab“ (S. 49). Rauchfleisch verweist abschließend auf die wichtigen Anregungen, die aus der Säuglingsforschung kamen.
Gudrun Fuchs hat das Stichwort „Kinderanalyse“ bearbeitet. Kinderanalyse ist zum einen eine auf Theorie und modifizierter Technik der Psychoanalyse aufbauende Behandlungsmethode von psychisch oder psychosomatisch kranken Säuglingen, Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen mit etwaiger Einbeziehung der Bezugspersonen. Sie ist auch eine Forschungsmethode, und sie ist eine psychologische Anthropologie des Kindes- und Jugendalters, die alle auf diese Weise gewonnenen psychologischen und psychopathologischen Theorien zusammenfasst. Als erste Kinderanalytikerin gilt die 1871 geborene Hermine Hug-Hellmuth. Von Anfang an ging sie davon aus, dass das identische Ziel von Erwachsenen- wie Kinderanalyse die Herstellung der psychischen Gesundheit sei. Unterschiede resultierten ihrer Meinung nach allerdings aus der noch nicht vorhandenen Reife der Kinder, die weder aus eigenem Antrieb zur Behandlung kommen, noch an ihrer Vergangenheit leiden oder sich gar ändern möchten. Als bedeutendste Neuerung führte Hug-Hellmuth ein, neben den Träumen auch auf das Spiel der Kinder einzugehen. Unangefochten gelten Anna Freud und Melanie Klein als die eigentlichen Begründerinnen der Kinderanalyse. Ihre Theoriebildungen haben die gesamte Psychoanalyse maßgeblich beeinflusst. Alle drei hatten, allen Anfeindungen zum Trotz, die Psychosexualität des Kindes im Mittelpunkt ihrer theoretischen Überlegungen. Die Jugendlichenanalyse blieb lange Zeit ein vernachlässigter Bereich. Mittlerweile wurde die Adoleszenz und ihre klinischen Manifestationen vielfältig erforscht, von Erikson, Blos, Laufer u.a. ebenso die Entwicklung der Säuglinge und Kleinkinder. Nachbardisziplinen, die die Theoriebildung erweitert haben, sind die Kognitionsforschung, Gedächtnisforschung, Säuglings- und Kleinkindforschung sowie die Bindungsforschung. Ganz selbstverständlich finden heute Jugendlichen-Behandlungen statt wie auch Säuglings- und Kleinkind-Behandlungen.
Eine Kinderanalyse ohne Arbeit mit den Eltern ist heute nicht mehr vorstellbar. Gemäß Fuchs ist der Kinderanalytiker in ein multidimensionales Übertragungsnetz eingebunden, und die familiendynamisch orientierte Arbeit in den begleitenden Elterngesprächen muss dieses Netz entflechten, klären und durcharbeiten.
Diskussion mit Fazit
Mertens schreibt in seinem Vorwort, dass viele Leser die Psychoanalyse immer noch ausschließlich mit Freud verbinden. Beim Lesen mancher psychoanalytischer Werke, könnte man auch durchaus den Eindruck gewinnen, dass auch die heutige Psychoanalyse ausschließlich in einer Exegese seiner Ideen bestünde. Dieses Handbuch überzeugt davon, welch rasche und reichhaltige Weiterentwicklung die Psychoanalyse genommen hat. Es ist darum für jeden psychodynamisch arbeitenden Psychotherapeuten unentbehrlich. Die einzelnen Grundbegriffe geben den neuesten Stand der psychoanalytischen Forschung wieder und verweisen zum gründlichen Studium auf weiterführende Literatur. Weil so gut wie in allen Stichworten auch eine Auseinandersetzung mit Befunden und Theorien von Nachbardisziplinen stattfindet, kann dieser Band auch allen Leserinnen und Lesern empfohlen werden, die sich aus pädagogischer oder psychologischer Perspektive mit Menschen und ihren Beziehungen befassen.
Rezension von
Dr. Hans Hopf
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Es gibt 9 Rezensionen von Hans Hopf.
Zitiervorschlag
Hans Hopf. Rezension vom 05.01.2015 zu:
Wolfgang Mertens (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2014. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-17-022315-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17126.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.
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