Claudia Krell: Alter und Altern bei Homosexuellen
Rezensiert von Prof. Dr. Daniel Gredig, 06.04.2016

Claudia Krell: Alter und Altern bei Homosexuellen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 428 Seiten. ISBN 978-3-7799-2937-6. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Diese qualitative empirische Studie geht dem wechselseitigen Einfluss von lesbischen und schwulen Identitäten einerseits und Altern bzw. Altersbildern andererseits nach. Damit nimmt sie sich einer Leerstelle an, die sich in der deutschsprachigen Forschung zu lesbischen Frauen und schwulen Männern wie auch in der Alterssoziologie auftut: In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lesben und Schwulen werden Alter und Altern kaum thematisiert. In der Forschung zu Alter und Altern wird oft stillschweigend von einem heterosexuellen Lebensentwurf ausgegangen, auf die heterosexuelle Mehrheitsbevölkerung fokussiert und die Realität von alternden lesbischen Frauen und schwulen Männern ausgeblendet. Im angelsächsischen Sprachraum ist das Alter(n) von homosexuellen Menschen und die Frage nach spezifischen Bedarfen von älteren Lesben und Schwulen (z.B. in der Sozialen Arbeit) schon länger zum Thema gemacht worden. In dieser Auseinandersetzung sind empirische Arbeiten allerdings eher selten geblieben. Angesichts dieser Lücke versucht die hier vorgestellte Untersuchung, Alter(n) und Homosexualität in ihrer Verschränkung empirisch zu erfassen. Sie geht der Frage nach,
- welche lesbischen und schwulen Identitäten sich unterscheiden lassen,
- welche Altersbilder Lesben und Schwule haben und – dies miteinander in Bezug setzend – schließlich
- welche Zusammenhänge zwischen Identitäten und Altersbildern bestehen, und welche Typen homosexuellen Alter(n)s sich unterscheiden lassen (S. 94).
Autorin
Claudia Krell, Dr. phil., ist Leiterin des Referats Gleichstellung an der Universität Passau. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Alter(n)s-, Sexualitäts- und Familiensoziologie, Soziologie abweichenden Verhaltens und sozialer Probleme sowie Geschlechterforschung. Sie hat in den vergangenen Jahren eine Reihe Arbeiten und Vorträgen zu schwul-lesbischen Themen publiziert. Darunter finden sich Beiträge zu Altersbildern von Lesben, das Männerbild von Lesben oder auch zu Elternschaft jenseits des „Normallfalls“ heterosexueller Elternschaft.
Entstehungshintergrund
Diese Monografie bringt eine empirische Untersuchung zur Darstellung, welche die Autorin im Zeitraum von 2004 bis 2006 durchführte. Die 2014 nun publizierte Arbeit war die Dissertationsschrift der Autorin an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Aufbau und Inhalt
Der Band folgt dem gewissermaßen klassischen Aufbau eines Forschungsberichts und ist in neun Kapitel gegliedert.
In Kapitel 1 führt die Autorin an die Thematik heran, in dem sie einerseits informativ vorwegnehmend skizziert, welcher Frage sich die Arbeit annehmen wird und auf welche Wissenslücke sie reagiert. Zu dieser Heranführung an die Thematik und die folgende Forschungsarbeit gehört auch die Auseinandersetzung mit den verwendeten Begrifflichkeiten. Krell führt aus, dass sie sich in ihrer Arbeit für den Begriff „Homosexualität“ bzw. „Homosexuelle“ entschieden hat, im Wissen darum, dass dieser Begriff dafür kritisiert wird, dass er zu sehr auf den Aspekt der Sexualität verengt ist, aus einem pathologisierenden Diskurs stammt und in der Tendenz Frauen außen vor lässt. Die Begriffe „lesbisch“ und „schwul“ schienen der Autorin zu problematisch, weil sie auch als Schimpfworte eingesetzt werden oder dann – positiv gewendet – eine Nähe zur Emanzipationsbewegung signalisieren und damit zu einseitig die Unterstellung einer emanzipierten Identität transportierten (vgl. Fußnote 2 S. 10). Es ist allerdings zu beobachten, dass die Autorin sich nicht durchgängig an ihre begriffliche Entscheidung hält. Im empirischen Teil und vor allem gegen Ende des Bandes hin – und wohl auch von der Auseinandersetzung mit den Befragten und den eigenen Erkenntnissen geprägt – kommen die Begriffe „Lesben“ und „Schwule“ regelmäßig zur Verwendung. Die Begriffe figurieren sogar in der Bezeichnung der Typen, die gebildet werden. Dieser Bewegung folgend, werden auch in dieser Besprechung nun auch die Begriffe „Schwule“ und „Lesben“ benutzt.
Kapitel 2 legt die begrifflichen und theoretischen Grundlagen der Arbeit. Vom Verständnis getragen, dass sowohl Alter wie auch Homosexualität keine Merkmale von Personen, sondern „interaktive, situationsspezifische und prozesshafte Konstruktionspraxen“ (S. 15) sind, werden beide als Dimensionen sozialer Ungleichheit sowie Kristallisationspunkte von Identität eingeführt und die damit einhergehende Stigmatisierung aufgegriffen. Dabei arbeitet die Autorin heraus, dass Homosexualität „durch den wesentlichen Einfluss auf soziale und personale Identitäten die Form eines Masterstatus annehmen [kann], wohingegen Alter(n) aufgrund seines universalistischen Charakters weniger in den Vordergrund tritt“ (S. 65). Im Fall von älteren Lesben und Schwulen überschneiden sich allerdings diese zwei Dimensionen sozialer Ungleichheit. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Frage nach der Interaktion dieser zwei Ungleichheitsdimensionen als interessant.
Kapitel 3 nimmt eine Auslegeordnung der bestehenden theoretischen Ansätze und empirischen Befunde zu Alter(n) von Lesben und Schwulen vor. Die Autorin führt nachvollziehbar zur Identifikation der Wissenslücke, zu deren Schließung ihre Studie betragen soll, und verdeutlicht, dass der „wechselseitige Einfluss von Alternsprozessen auf lesbische und schwule Identitäten und die Veränderung von lesbischen und schwulen Identitäten im Lebenslauf“ (S. 83) bislang unerforscht geblieben ist.
Hieran schließt Kapitel 4 mit der Herleitung und Formulierung der konkreten Fragestellung an. Dabei wird die theoretische Sensibilität für die anschliessende empirische Arbeit expliziert. Die Annahme geht dahin, dass Homosexualität und Altern nicht direkt miteinander interagieren, sondern indirekt, über die objektiven Lebensbedingungen von Lesben und Schwulen und deren Identitäten vermittelt (S. 87). Zudem entscheidet sich die Autorin dafür, Alter im Sinne von Altersbildern zu berücksichtigen. Deshalb wendet sie sich der Rekonstruktion von schwulen und lesbischen Identitäten, wie auch der Altersbilder der Befragten zu, um herauszuarbeiten, wie sich diese verschränken. Im Lichte dieses Vorverständnisses lauten die Fragestellungen konkret: „Welche lesbischen und schwulen Identitäten lassen sich unterscheiden? Welche Altersbilder haben Lesben und Schwule? Welche Zusammenhänge ergeben sich zwischen Identitäten und Altersbildern und welche Typen homosexuellen Alter(n)s lassen sich unterscheiden?“ (S. 94).
Zur Bearbeitung dieser Frage wählte die Autorin, wie sie im Kapitel 5 ausführt, einen qualitativen Zugang. Die Datenerhebung erfolgte mittels persönlicher Befragung in Form von problemzentrierten Interviews. Die verbalen Daten wurden transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse (nach Mayring) ausgewertet. Die Studie bezog Lesben und Schwule aller Altersgruppen ein und nahm für die Zusammenstellung der Stichprobe eine kriteriengeleitete Auswahl nach dem Streuungsprinzip vor, wobei die Kriterien Geschlecht und Lebensalter berücksichtigt wurden. In einer späteren Phase der Untersuchung wurde die Auswahl der InterviewpartnerInnen im Sinne des theoretischen Samplings weitergeführt. Die Rekrutierung beschränkte sich auf städtische Räume Süddeutschlands. Die Ansprache erfolgte im Zeitraum von 2004 bis 2006 über Einrichtungen für Lesben und Schwule, Plakate, Handzettel, Anzeigen auf Internetforen, Inseraten in einschlägigen Zeitschriften und nach dem Schneeballprinzip. Es konnten mit 64 Personen Interviews geführt werden, wovon 53 in die Analyse eingingen (S. 96-128).
Im Kapitel 6 rekonstruiert die Forscherin lesbische und schwule Identitäten unter Berücksichtigung des Zusammenspiels von drei Dimensionen: Selbstakzeptanz (mit den Ausprägungen: Ablehnung, fatalistische Hinnahme, Akzeptanz), Identitätskonzept (als homo-sozial, homo-sexuell oder homo-emotional) und Identitätsmanagement (mit den Ausprägungen: offen, situationsspezifisch, verheimlichend). Die Rekonstruktion, in der Material und Erkenntnisse aus der Literatur bereits eng verwoben werden, mündet in eine Matrix, in der die bei den Befragten entlang dieser Dimensionen herausgearbeiteten Identitätskonstruktionen ersichtlich werden (S. 231). In dieser Rekonstruktion läuft konstant die Überlegung mit, inwiefern Differenzen Ausdruck eines Alters-, Zeit- oder Generationeneffekts sein könnten.
Kapitel 7 wendet sich dem Pol der Altersbilder zu und rekonstruiert drei unterschiedlich akzentuierte Bilder: Altersfremdbilder (mit den Ausprägungen: positiv, negativ), Altersselbstbilder (positiv, ambivalent-neutral, negativ) und homosexualitätsbezogene Altersbilder (positiv, ambivalent-neutral, negativ). Letztere ergeben sich aus dem altersbezogenen Vergleich zwischen Hetero- und Homosexuellen und beschreiben die Besonderheiten, die für ältere Lesben und Schwule herausgearbeitet werden (S. 312). Hierzu gehört etwa die Erfahrung von schwulen Männern, dass ihr chronologisches Alter in der Szene zu einem Zeitpunkt schon für ihre Identität relevant wird (mit 30 Jahren), an dem ihr Alter in anderen Lebenszusammenhängen für die Identität noch nicht bedeutsam ist. Zu diesen Bildern gehört aber auch die Einschätzung der Befragten, für das Alter und das Leben mit einem (weiteren) potenziellen Stigma besonders gut gewappnet zu sein, da sie auf ihre Kompetenzen im Umgang mit einem Stigma zurückgreifen können, die sie in der Bewältigung ihrer Homosexualität in früheren Lebensphasen entwickelt haben. Auch diese Rekonstruktion von Altersbildern mündet in eine Matrix, in der die Lagerung der Fälle ersichtlich wird (S. 366).
In Kapitel 8 werden die Erkenntnisse aus der Rekonstruktion der Identitäten und der Altersbilder aufeinander bezogen, was die Beantwortung der dritten Fragestellung möglich macht. Die Autorin baut hierzu wiederum eine Matrix auf. Die Altersbilder werden entlang der Dimensionen Altersselbstbild, Altersfremdbild, homosexualitätsbezogenes Altersbild in ihren jeweiligen Ausprägungen auf der x-Achse abgebildet. Die lesbischen und schwulen Identitäten werden entlang der Dimensionen Selbstakzeptanz, Identitätskonzept, Identitätsmanagement in ihren jeweiligen Ausprägungen auf der y-Achse abgebildet. Die 53 Fälle werden in diese Matrix eingetragen, was einen systematischen Vergleich auf den berücksichtigen Dimensionen und damit eine Typenbildung zulässt. Aus dieser Matrix (S. 376/377) wird deutlich, dass 36 der theoretisch möglichen Felder besetzt sind (S. 378). Aus der Analyse der Lagerung der Fälle ergibt sich eine plausible Gruppierung der Befragten zu fünf Typen. Diese Typen werden in der Arbeit in ihrer Gestalt beschrieben(S. 379-392). An dieser Stelle sollen diese lediglich aufgeführt werden:
- Aktiv-selbstbewusst-reflektierte Lesben
- Schwule Pessimisten
- Zaghaft trauernde Lesben und Schwule
- Erfolgreich alternde „normale“ Schwule
- Junge normalisierte Lesben
In Kapitel 9 werden die Ergebnisse zusammengefasst und in Ansätzen theoretisch verdichtet. So setzt die Autorin ihre Ergebnisse mit der These der Wirksamkeit sozialer Ungleichheiten im Alternsprozess in Bezug. Ihre Ergebnisse scheinen diese Annahme zu erweitern. Zum einen finden sich zwei Typen, die fassbar werden lassen, dass bestehende Ungleichheiten sich im Alter nicht nur erhalten. Die Arbeit zeigt auf, dass sie sich in der Schnittstelle von zwei Ungleichheitsdimensionen (Homosexualität und Alter) auch verschärfen können. „Die Typen der schwulen Pessimisten und der zaghaft trauernden Lesben und Schwulen zeigen, dass sich homosexualitätsbedingte Belastungen mit zunehmenden Alter verfestigen, verstärken und Handlungsspielräume einschränken können“ (S. 401). Andererseits zeigt die Rekonstruktion der Typen, dass Benachteiligungen nicht einfach ihre Wirkung nachhaltig entfalten, sondern im Alter kompensiert werden können. „Soziale Benachteiligungen im Lebensverlauf können sich in der Lebensphase Alter positiv als Vorteil gegenüber sozial begünstigten Bevölkerungsgruppen erweisen und dadurch altersbedingte Problemlagen kompensieren“ (S. 400). Dies leitet sich aus der Betrachtung der Aktiv-selbstbewusst-reflektierten Lesben oder der erfolgreich alternden „normalen“ Schwulen ab. Die Kompetenzen, die diese Frauen und Männer im Umgang mit dem eigenen Lesbisch- bzw. Schwulsein erworben haben, können Alterungsprozesse positiv beeinflussen. Deshalb folgert die Autorin auch, dass Lesben und Schwule dieses Typus Rollenmodelle für jüngere Lesben und Schwule abgeben können. Die abschließenden Hinweise beziehen sich auf mögliche sozialpolitische Maßnahmen, weitere Forschung und forschungsmethodische Belange.
Diskussion
Die Studie arbeitet mit einer für qualitative Untersuchungen bemerkenswert umfangreichen Stichprobe und vermag lesbische und schwule Menschen in unterschiedlichen Kontexten und diversen Erfahrungsaufschichtungen einzubeziehen. Die Rekonstruktionen der Identitäten wie auch der Altersbilder sind ausführlich und sehr anschaulich gehalten, so dass die im letzten Schritt vorgenommene Verdichtung zu Typen gut nachvollziehbar ist. Die Beschreibung der Typen ist plastisch und angesichts der vorangehenden Analysen und Interpretationen auch gut verständlich. Die Arbeit wird deshalb ihrem Anspruch gerecht, einen Beitrag zum besseren Verständnis des Zusammenwirkens von schwuler bzw. lesbischer Identität und Altersbildern beizutragen.
Der Band eignet sich allerdings nicht für eilige Lesende. Aus der Lektüre des 8. Kapitels allein lassen sich die Typen nicht unmittelbar und ohne Risiko von Missverständnissen erfassen. Für die weitere Verwendung der Ergebnisse ist auch im Auge zu behalten, dass nicht Altern im Zentrum der Untersuchung stand, sondern Altersbilder.
Hinsichtlich des methodischen Vorgehens ist bemerkenswert, dass die Ex-ante-Strukturierung relativ hoch und explizit ist. So wird z.B. vorab ein Modell über den Zusammenhang von Identität und Altern präsentiert und grafisch wie ein Prädiktorenmodell abgebildet (S. 87). Das Auswertungsverfahren korrespondiert hiermit, weshalb die Arbeit in sich auch stimmig ist. Sie belegt damit, dass ein solches Vorgehen ergiebig sein kann, auch wenn sie in diesem Punkt mit einem Großteil der Literatur zu qualitativen Verfahren kontrastiert, die stets die Offenheit und geringe Strukturierung des Untersuchungsgegenstands ex ante als Merkmale und Stärken qualitativer Methoden herausstreicht.
Fazit
Der Band leistet einen wertvollen Beitrag zu einem bislang wenig erforschten Aspekt sowohl der Alterssoziologie als auch der Forschung zu lesbischen Frauen und schwulen Männern. Die Untersuchung generiert eine Reihe von plastischen, reichhaltigen und informativen Rekonstruktionen zu Identitäten und Altersbildern. Mit der Typenbildung bietet die Studie Erkenntnisse in einer Verdichtung, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorzufinden waren. „Alter und Altern bei Homosexuellen“ ist ein lohnendes Buch, eines, das dazu motiviert, weitere Fragen zu dieser nach wie vor untersuchungsbedürftigen Thematik zu stellen.
Rezension von
Prof. Dr. Daniel Gredig
Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten
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