Rolf Arnold, John Erpenbeck: Wissen ist keine Kompetenz
Rezensiert von Dr. Winfried Leisgang, 07.01.2015
Rolf Arnold, John Erpenbeck: Wissen ist keine Kompetenz. Dialoge zur Kompetenzreifung. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2014. 142 Seiten. ISBN 978-3-8340-1318-7. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,90 sFr.
Autoren
Prof. Dr. Rolf Arnold ist Professor an der TU Kaiserslautern im Fachgebiet Pädagogik (insbesondere Berufs- und Erwachsenenpädagogik).
Prof. Dr. John Erpenbeck hat den Lehrstuhl Kompetenzmanagement an der School of international Business und Entrepreneurship (Herrenberg/Berlin) inne.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel. Jedes enthält einen Brief eines Autors an den anderen. Der andere antwortet auf die Ausführungen und so entsteht ein Dialog, in dem sie sich und dem Leser das Feld und das Thema zunehmend erschließen.
Inhalt
Der erste Brief von Rolf Arnold zeigt auf, welche vielfältigen Perspektiven mit einem modernen Kompetenzdenken eröffnet werden und warum die Illusion von der Wissens„vermittlung“ eben diese Vielfalt einengt. Am Ende wird deutlich, wie sich der Autor eine Veränderung weg von der Wissensvermittlung vorstellt. Notwendig erscheint in den Bildungsinstitutionen Schule und Universität eine Umkehr. Vom Input hin zur Infrastruktur, mit der Öffnung der Fachsystematik hin zur Situationsdynamik, sowie eine Abkehr von der Belehrung hin zum selbstgesteuerten Lernen.
Im zweiten Brief erläutert John Erpenbeck, dass die traditionelle Wissensvermittlung wenig bringt. Erwiesenermaßen findet nur ein sehr geringer Prozentsatz Eingang in das Handeln der Lernenden. Ungeachtet dessen wird der Kompetenzbegriff nach wie vor abgewertet. Im Anschluss formuliert er vier grundlegende Erklärungscluster der Kompetenz, in denen sich die Abwertung zeigt: Kompetenz als ökonomisierte Variante von Bildung, als allgemeiner Handlungsrahmen, als kognitive Leistungsdefinition und als kreative Selbstorganisationsfähigkeit. Nur die letzte Variante ist in der Lage, pädagogische Prozesse neu zu gestalten. Den Abschluss bildet ein Zitat von Hüther: „Ohne Gefühl geht gar nichts“. Er bildet das Grundaxiom jeder Kompetenzentwicklung (S.20).
Im dritten Brief zeigt Arnold, warum Kompetenz allgegenwärtig ist und wie moderne Kompetenzentwicklung ausgestaltet sein könnte. Wissen und Qualifikation fehlen das Erleben in der erfolgreichen Anwendung – eine „Erfahrung der Selbstwirksamkeit“ (S.22). Entscheidend für erfolgreiches Anwendungslernen ist ein „tiefenwirksames Emotionslernen“, das wirklich identitätsbildend wirkt. Es geht über das reine Veranschaulichen von Wissen hinaus und beinhaltet ein Lernerleben zweiter Ordnung (in inszenierten Lernumgebungen) und dritter Ordnung (reales Erleben, das zusätzlich reflektiert wird) (S.28).
Der vierte Brief klärt die Zusammenhänge von Kompetenzentwicklung, Selbstorganisation und Wissensverständnis. Ausgehend von den vier Grundkompetenzen (personale, aktivitätsorientierte, sozial-kommunikative und fachliche) geht Erpenbeck dem pädagogischen Grundproblem von Führen und Wachsen lassen (S.32) nach. Er stellt sich im Sinne der Reformpädagogik einer Mechanisierung der Pädagogik entgegen. Der Unvorhersehbarkeit vieler Prozesse einer hochkomplexen Gesellschaft kann nur selbstorganisiert und kreativ begegnet werden. Er führt das Münchner Wissensmodell (Mandl, Reinmann-Rothmeier) ein. Wissen als Information hat den Aggregatszustand von Eis (es lässt sich abgrenzen und portionieren), im Alltag wird es anwendungsbezogen flüssig und im Aggregatszustand von Dampf bringt es Arbeitsleistung hervor. Alle Aggregatszustände sind Wissen (S. 38). Ergänzt werden die Ausführungen mit der „Eisberg“-Analogie, die explizites Wissen und implizites Wissen unterscheidet. Hier wird deutlich, dass Wissen auch wertegebunden ist. Werte sind keine reine Information, sie werden von Einzelnen, Gruppen und Völkern geteilt und sind damit handlungsleitend. Der Weg der Umwandlung von nur Gelerntem zu verinnerlichten Werten verläuft über die Emotion. Ohne „emotionale Labilisierung“ (S. 43) findet keine Kompetenzentwicklung und damit auch keine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten statt. Damit erhält die Kompetenz und nicht das Informationswissen die wichtigere Rolle im Lernprozess.
Der fünfte Brief nimmt die Bedeutung von Emotionen auf und beschreibt, welche Schritte zu einer Kompetenzreifung führen. Arnold plädiert dafür, die bisher vorgenommene Unterscheidung zwischen informellem und formellem Lernen zu überwinden. Damit lässt sich auch informelles Lernen als Outcome darstellen, ohne die Fehler mechanistischen Inputdenkens zu übernehmen. Er fordert eine „Anregung zum Selbstlernen“ (S.56) und skizziert ein Konzept akademischer Kompetenzentwicklung.
- Lernen ist Aneignung, sodass Gelegenheiten für ein reflexives Lernen geschaffen werden müssen.
- Das Eigene ist mächtig, es kann nicht übersehen oder dementiert werden. Die emotionale Identität lässt uns Lernsituationen individuell verarbeiten und gestalten.
- Kompetenzentwicklung gibt es nur in Eigenregie des lernenden Subjektes. Gerade deshalb sind zu Beginn Zielabsprachen nötig.
- Lehren ist eine Inszenierung von Erfahrungsräumen. Besonders die Erfahrungen des elearnings zeigen, dass diese Räume mit flankierenden Maßnahmen von den Lernenden produktiv genutzt werden.
Im sechsten Brief behauptet Erpenbeck, dass Humboldts Bildungsverständnis dem modernen Kompetenzverständnis sehr nahe kommt. Der Autor geht auf drei Themenfelder ein:
- Wie lassen sich Kompetenzentwicklung und informelles Lernen aufeinander beziehen? Er plädiert, wie Arnold, für eine „Informalisierung des Lernens“ als Leitidee der Kompetenzentwicklung (S. 60). Immerhin werden 75% des Wissens informell und damit kompetenzbasiert erworben.
- Es gilt das Verhältnis von Selbstorganisationstheorie und Subjekt- und Kompetenzentwicklung vor dem Hintergrund kritischer Einwände weiter vertieft zu beleuchten. Heutzutage gelingt es mit Hilfe der Informationstechnologie immer schneller, Informationswissen zu speichern und abzurufen. Im Gegensatz dazu wird es immer schwieriger Handlungsfähigkeit und Können aufzubauen. Historisch Bezug nehmend auf Humboldt und Goethe plädiert Erpenbeck für eine „Entmechanisierung des Weltbildes“ (S. 71). Schon immer standen dem Menschen unterschiedliche Methoden zur Verfügung, Realität zu erfassen. Um weitere Prozesse aufzuspüren ist die Selbstorganisation mittlerweile unerlässlich. Daran schließt sich eine längere Ausführung an, was Selbstorganisation ausmacht.
- An den Universitäten muss die Frage geklärt werden, wie aus Fachwissen eine Fachkompetenz werden kann. Die Didaktik der Zukunft wird eine Ermöglichungsdidaktik sein. Kompetenzen werden im direkten Praxisbezug (Coaching, Mentoring) und mit motivationsschaffenden Erlebnis- und Ereignisformen angeeignet werden.
Der abschließende siebte Brief
von Arnold diskutiert, wie Kompetenzdenken in die Didaktik an
den Hochschulen installiert werden kann und fragt, was professionelle
Sozialwissenschaftler tatsächlich können müssen?
Für ein
sozialwissenschaftliches Kompetenzprofil ist Selbstreflexion
unerlässlich. Sozialwissenschaftler haben keinen objektiven
Gegenstand, sondern sind Teil des zu erforschenden Bereichs.
Bezugnehmend auf Erpenbecks Ausführungen geht er noch einmal
auf die drei grundlegenden Voraussetzungen einer individuellen
Kompetenzreifung ein (Ermöglichen von Kompetenzreifung, Fachwissen
ist keine Fachkompetenz, notwendige Validierung von
Kompetenzbeurteilungen). Zusätzlich zu allgemeinen akademischen
Kompetenzen (erkenntnisbasiert, disziplinär organisiert, bezogen auf
komplexe, neuartige (Problem)Situationen, tätigkeitsfeldbezogen),
geht der Autor auf die Besonderheiten der Sozialwissenschaften ein.
Handlungsleitend geht es um spezifische Formen im Umgang mit
Gewissheit (S. 99). „Sozialwissenschaftliche Professionals
analysieren nicht nur das soziale Handeln … sondern beraten auch
soziale Akteure und gestalten soziale Kontexte“ (S. 101). Arnold
beklagt, dass bis jetzt keine tragfähigen Konzepte eines reflexiven
sozialwissenschaftlichen Lernens vorliegen., weshalb er im Anhang
eine Systematisierung eines solchen Kompetenzlernens integriert,
bezogen auf die Kategorien der Evidenz, Transparenz, der Stringenz
und der Kohärenz. Die abschließenden Ausführungen beziehen sich
auf die Mängel des Deutschen Qualitätsrahmen (DQR) in Bezug auf die
Kompetenzreifung von Studierenden.
Diskussion
Das Anliegen der Autoren ist für alle, die mit nutzlosem, nicht anwendungsbezogenem Wissen vollgepumpt wurden, nachvollziehbar: Weg vom Wissenslernen und dem „Wissenstrichter“ hin zu einem selbstverantworteten, individuellem Lernen, das zu einer messbaren Kompetenzentwicklung führt.
Wie wichtig und aktuell der pädagogische Diskurs ist, zeigt die Diskussion zum Bologna Prozess. Ein wesentliches Grundanliegen der Vordenker aus Bologna von 1988 ist mittlerweile vergessen und funktionalisiert worden. Gemeint ist das Ziel, das Studium an die Interessen der Studierenden auszurichten. Das wäre im Sinne der Autoren eine Steilvorlage für die Kompetenzreifung. Stattdessen orientieren sich die Hochschulen und Studenten mittlerweile überwiegend an den Creditpoints um möglichst schnell und ohne Umwege zum Studienabschluss zu kommen (siehe FAZ, http://m.faz.net/aktuell).
Der Ansatz der Kompetenzreifung bleibt an einer Stelle funktionalistisch: im Umsetzen der Kompetenzen auf das Berufsleben. Bereitet Bildung in den Schulen und Hochschulen nur auf den Beruf vor, in den dann alle Kompetenzen zum Wohle des Arbeitgebers genutzt werden? Hier wird die Bildung ökonomischen Interessen geopfert. Wenn man sich für eine Erweiterung des Fachwissens hin zur Fachkompetenz einsetzt, hätte ich doch eine kritischere Reflexion dieser Facette erwartet. Eine ökonomisch ausgerichtete Kompetenzreifung verpasst die Chance, gesellschaftliche Werte, wie z.B. Solidarität, zu reaktivieren, die in unserer mittlerweile von der Ökonomie dominierten Welt, verloren gegangen sind.
Schließlich sind die Autoren mit einem grundsätzlichen Problem des Bandes konfrontiert: Wie lässt sich selbstorganisiertes Lernen und Kompetenzreifung mit Hilfe der analogen Form eines Buches sowohl wirkungsvoll thematisieren als auch veranschaulichen? Hier bleiben die beiden Autoren ganz offensichtlich in einem wissenschaftlichen Diskurs gefangen, der ihnen nicht ermöglicht, ihre durchaus nachvollziehbaren und überzeugenden Argumente jenseits einer kognitiven, wissenschaftlichen Ebene zu verankern. Oder anders ausgedrückt: Lassen sich die konservativen Pädagogen kognitiv von neuen Kompetenzentwicklungsstrategien überzeugen? Das scheint ein schwieriges, langwieriges Unterfangen, dem man Erfolg wünscht.
Fazit
Ein lesenswertes Buch für alle Lehrenden, aber auch Studierenden, die sich ernsthafte Gedanken zu Alternativen zum tradierten Hochschulbetrieb und dessen Pädagogik machen. Sie finden dort die aktuellen Diskurslinien kompakt aufbereitet.
Rezension von
Dr. Winfried Leisgang
Dipl. Soz.-Päd., Master of Social Work (M.S.W.)
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Zitiervorschlag
Winfried Leisgang. Rezension vom 07.01.2015 zu:
Rolf Arnold, John Erpenbeck: Wissen ist keine Kompetenz. Dialoge zur Kompetenzreifung. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2014.
ISBN 978-3-8340-1318-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17188.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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