Bernd Ahrbeck: Inklusion. Eine Kritik
Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 20.01.2015
Bernd Ahrbeck: Inklusion. Eine Kritik. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2014. 160 Seiten. ISBN 978-3-17-023930-2. 22,99 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Bernd Ahrbeck ist Professor für Rehabilitationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Verhaltensgestörtenpädagogik und lehrt an der Humboldt Universität zu Berlin. Die öffentliche wie auch wissenschaftlich-akademischen (teilweise heftig) geführten Diskussionen zu Inklusion sind Inhalt und Gegenstand des Buches.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung besteht das Buch aus acht weiteren Kapiteln, in denen verschiedenste Aspekte, die mit Inklusion Berührung haben, diskutiert und erörtert werden.
Bereits die Einleitung umreißt den Spannungsbogen des Buches: von radikalen Positionen, die Inklusion als Modell für eine grundsätzlich neue Gesellschaftsform sehen bis zu denjenigen, die Inklusion in der Schule als Beginn eines behutsamen Veränderungsprozesses sehen. Die Position des Verfassers wird hier bereits deutlich: „Die Inklusion kann im Spannungsfeld von Gleichheit und Besonderheit, allgemeiner und spezieller Förderung Schwerpunkte anders als bisher setzen. Die Paradoxien und Antinomien, die dem Erziehungs- und Bildungsgeschehen immanent sind, vermag sie jedoch ebenso wenig zu lösen wie alle vorgegangenen Reformen. Substantielle und beständige Fortschritte wird sie nur dann erzielen, wenn sie nicht mit Erwartung, Ansprüchen und Hoffnungen überfrachtet wird, die sich bei realistischer Betrachtung als unerfüllbar erwiesen“ (S. 9).
Im ersten Kapitel geht es um den „gegenwärtigen Stand schulischer Inklusion“. Dabei geht es nicht nur um die Unterschiede zwischen den Bundesländern, sondern auch um die Frage, wie die Abbildung des Einzelfalles im Kontext vermeintlich objektivierbarer Empirie gelingt (oder auch nicht) bis hin zur (schwierigen) Vergleichbarkeit sog. Inklusionsquoten. Außerdem richtet der Verfasser den Blick über Deutschland hinaus und diskutiert die Befunde zur sonderpädagogischen Beschulung diverser europäischer Länder, natürlich auch die immer als Vorbild dargestellten skandinavischen Länder. Das Kapitel schließt mit einer Feststellung aus dem ersten Weltbehindertenbericht (2011) der WHO(2011, 205): „Pädagogische Bedürfnisse müssen im Hinblick darauf beurteilt werden, was für den Einzelnen das Beste ist“ (S. 21).
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit „Inklusion und Exklusion“ und zeigt anhand dieser Begrifflichkeiten die Polaritäten und Disparitäten auf. Neben der Schule als Ort von Bildung und als System der Betreuung Heranwachsender spielt natürlich auch Gesellschaft eine Rolle, wobei es nicht die Gesellschaft gibt, sondern ein Gebilde aus diversen Teilsystemen. Außerdem bleibt zu fragen, inwieweit Schule mit ihrem unterschiedlichen Angebotsformen auf dem Weg zu Inklusion mit speziellen Beschulungsformen möglicherweise exkludiert.
Die Diskussion von Polaritäten setzt sich im dritten Kapitel mit „Vielfalt, Normalisierung, Anerkennung“ fort. So steht Normalisierung bei manchen Kritikern unter dem Verdacht einer Gleichmacherei und Relativierung unterschiedlichster individuellen Bedingungen. Damit würde aber auch der Notwendigkeit einer spezifischen Förderung möglicherweise eine Absage erteilt. Ahrbeck weist in diesem Zusammenhang auf das RTI-(response-to-intervention) Modell hin, was auf Rügen angewandt wird und für ihn die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Prävention und Inklusion aufwirft. Hinter diesen Debatten geht es nicht nur um politische/systemische/wissenschaftliche Positionen, sondern auch um Haltungen. So wird von einigen Autoren zur Umsetzung von Inklusion eine spezifische Haltung gefordert (S. 51f.). Mit dem Begriff Anerkennung verhält es sich nicht ganz so komplex, weil sie als eine zentrale Referenztheorie einen hohen Stellenwert einnimmt.
Ob wir „auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft“ sind, ist fraglich und Inhalt des vierten Kapitels. Wie eine inklusive Gesellschaft überhaupt aussehen müsste/ könnte, lässt sich kaum auf einen Punkt bringen. Eines wird unter (Sozial-) Wissenschaftlern aber sicher einig sein: unter dem Aspekt von Kapitalismus als ein zentrales Moment von Gesellschaft in seiner jetzigen Form ist der Weg derzeit fast ungehbar.
„Bedrohliche Differenzen“ sieht Ahrbeck im fünften Kapitel, das die Leistungsbeurteilung und damit auch Konkurrenz zum Inhalt hat. „In Teilen des Inklusionsdiskurses besteht an diesem Punkt ein elementares Missverständnis. Nämlich immer dann, wenn eine unumgängliche Konkurrenz umstandslos mit einer archaischen, vernichtenden Rivalität gleichgesetzt wird. (ausführlich: Ahrbeck 2006; 2013). Erst diese reduktionistische Annahme erlaubt es, dass Schüler, insbesondere leistungsschwächere, von interindividuellen Maßstäben fern gehalten werden sollen“ (S. 85).
Im Zusammenhang mit Inklusion wird (wieder) auch die Frage nach „Bildungsgerechtigkeit“ gestellt und ist deshalb im sechsten Kapitel besonders thematisiert. Im Kontext von PiSA und IGLU spielt die Schule als Institution dabei eine große Rolle, wenngleich auch klar ist, dass Schule selber keine Bildungsgerechtigkeit herstellen kann. Schule ist ein Produkt unterschiedlicher politischer Positionen und so wird in Deutschland leidenschaftlich über die richtige Schulform gestritten, aber die Debatte über die Qualität der pädagogischen Arbeit vor Ort und deren Verbesserung bleibt dabei oft aus (vgl. S. 106f.) Außerdem kommen weiteren Sozialisationsinstanzen wie Familien u. a. erhebliche Bedeutung neben der Schule zu, so dass der Fokus auf Schule allein eine unzuverlässige Reduktion ist.
Unter der Überschrift „gute“ und „schlechte“ Menschen diskutiert Ahrbeck im siebten Kapitel, welche Kinder sind „tragbar“ und welche nicht. Dabei geht es nicht um einen abschließenden Katalog von „Auffälligkeiten“, sondern um ein (verstecktes) Plädoyer für schulische Sonderformen, die Kindern mit herausfordernden Verhalten bzw. besonderen Förderbedarf besser gerecht werden können/sollen. Damit greift er auch die in Printmedien geführten Debatten auf, die z.B. aufgrund der Befragung von Eltern entstanden sind.
Im achten Kapitel bilden „abschließende Überlegungen“ den Abschluss des Buches. Wie an diversen Stellen vorher schon angedeutet bezieht Ahrbeck so etwas wie eine Position mit Augenmaß. Er erteilt der inklusiven Schule als Wegbegleiter zu einer veränderten (inklusiven) Gesellschaft eine Absage. Er plädiert für ein Vorgehen der kleinen Schritte und kommt zu der (nicht verwunderlichen) Aussage: „eine gemeinsame Beschulung erfordert erhebliche Kräfte und Bedarf einer intensiven Unterstützung. Dazu gehört – als entscheidende Größe – eine ausreichende personelle und sächliche Ausstattung. Nach den bisherigen Erfahrungen spricht wenig dafür, dass eine kostenneutrale Lösung möglich ist. Insofern ist es nur zu berechtigt, wenn sich Lehrerinnen und Lehrer, Gewerkschaften und Berufsverbände für angemessene Arbeitsbedingungen einsetzen. Erst wenn dies sichergestellt ist, dürfte die Inklusion eine wirkliche Chance auf ein gutes Gelingen haben“ (S. 143)
Diskussion
Ahrbeck gelingt es mit diesem Buch die Skizzierung eines Zwischenstandes zur Inklusionsdebatte. Diese Debatte wird sicher nie vollständig zu erfassen sein, weil neben der breiten akademischen Debatte, die sich hier im Wesentlichen auf Schule beschränkt, auch die politische Diskussion ergänzend herangezogen werden müsste. Die unterschiedlichen Polaritäten werden gut sichtbar und ermöglichen dem Leser, eigene Positionen zu bilden oder diese zu überdenken. Ob man Ahrbeck in seiner Argumentation folgen möchte, bleibt dem Leser selbst überlassen, er wird aber nicht zwingend zu einer bestimmten Schlussfolgerung geführt. Hinter den aufgeführten Positionen und Polaritäten verbirgt sich noch eine andere Diskussion: Muss sich (Sonder-) Pädagogik in ihrem Selbstverständnis neu definieren und welche Rolle nimmt sie im Kontext von Gesellschaft ein? Diese Frage wird angedeutet, sie ist zu Recht aber nicht Inhalt des Buches.
Fazit
Das Buch eignet sich insbesondere für Studenten der verschiedensten pädagogischen Studiengänge, aber auch für Lehrer diverser Schulformen und insbesondere für administrative und politische Entscheidungsträger im Bereich Schule, damit diese ihre eigenen Positionen über das tagesaktuelle Geschehen hinaus als Vision fundiert formulieren können.
Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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Es gibt 95 Rezensionen von Stefan Müller-Teusler.
Zitiervorschlag
Stefan Müller-Teusler. Rezension vom 20.01.2015 zu:
Bernd Ahrbeck: Inklusion. Eine Kritik. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2014.
ISBN 978-3-17-023930-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17190.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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