Christian Wulff: Ganz oben, ganz unten
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Überall, 21.07.2014

Christian Wulff: Ganz oben, ganz unten. Verlag C.H. Beck (München) 2014. 255 Seiten. ISBN 978-3-406-67200-2. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 30,50 sFr.
Thema
Christian Wulff zieht eine vorläufige Bilanz seiner politischen Karriere. Neben seiner subjektiven Schilderung der Debatte rund um seinen Rücktritt zeichnet er ein persönliches Bild der deutschen Medien- und Politik-Landschaft.
Autor
Der Autor ist Alt-Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und früherer Ministerpräsident (CDU) von Niedersachsen.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist knapp nach dem gerichtlichen Freispruch Wulffs von Korruptionsvorwürfen erschienen, die seinerzeit zu seinem Rücktritt geführt hatten. Wulff verarbeitet in dem autobiographisch geprägten Werk die gesammelten Erfahrungen mit dem „Politik-Geschäft“.
Aufbau
Das Buch ist streng chronologisch aufgebaut, beschrieben mit äußerst knappen Kapitelbezeichnungen:
- „Die Wahl“,
- „Der Kandidat“,
- „Der Präsident“,
- „Die ersten hundert Tage“,
- „Zwölf Kerzen“,
- „Die Jagd“,
- „Die letzte Kugel“ und
- „Das Recht“.
Inhalt
Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen, die Christian Wulff in seinem (Selbst-) Erklärungswerk anstellt und beschreibt, ist der Moment, an dem er sich „ganz unten“ fühlte – sein Rücktritt. Darauf laufen alle Erläuterungen heraus: Die Schilderung von Verhaltensweisen und Details des politischen Geschäfts, die Erfahrungen mit den Medien und der Versuch einer autobiographischen Nachzeichnung des Wulff’schen Seelenlebens. Der Politiker berichtet darüber, wie schwer es ihm emotional gefallen ist, die Affäre um Korruptionsvorwürfe durchzustehen. Es stelle sich die Frage, ob unter solchen Umständen noch jemand bereit sei in die Politik zu gehen. Der Dialog mit den Menschen sei ihm immer wichtig gewesen, erläutert Wulff. Die Reaktionen von Journalisten und Politikern nach seiner Nominierung und auch nach der Wahl seien aber unfair gewesen. Wulff bezeichnet vor allem die Vorwürfe, die zu seinem Rücktritt geführt haben, als „Tsunami“.
Christian Wulff bezieht in diesem Buch auch klare politisch-inhaltliche Positionen, die zuweilen von seiner Partei CDU abweichen. So sei der Atomkompromiss nur zustande gekommen, weil die Union nach Fukoshima die Debatte über Kernenergie gescheut habe. Wulff kritisiert mögliche Interessenkonflikte durch „zu viele Beratungsdienstleister“ in der Politik und spricht im Zusammenhang mit dem NSU-Skandal von einem „auffälligen Versagen von Polizei, Justiz und Verfassungsschutz“.
Der Alt-Bundespräsident setzt sich in seinem Werk durchweg warnend mit der Medienszene Deutschlands auseinander. Die Personalisierung politischer Debatten sei damit verbunden, dass viele Journalisten Streit und Kritik in den Mittelpunkt ihrer Berichte stellen. Manche Medien hätten den Wunsch, selbst Politik zu machen. Die Macht der Medien sei durch Beschleunigung der Berichterstattung „in Orwell´sche Dimensionen vorgestoßen“, so Wulff. Das sei mit mangelnder Recherche verbunden. Vor dem Privatleben werde kaum Halt gemacht, wie der Umgang mit Wulffs Ehefrau gezeigt habe. Sein persönliches Verhältnis zur „Bild“-Zeitung beschreibt Wulff als „fatale Abfolge gegenseitiger Irritationen“.
Auf juristischem Gebiet geißelt Wulff das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen ihn, mit dem sich die Behörde dem „medialen Druck“ gebeugt habe. Der erfolgte Freispruch könne die öffentliche Vorverurteilung nicht aufwiegen. Christian Wulff berichtet über teure Ermittlungen, zum Teil „frei erfundene“ Vorwürfe, das Ignorieren von Fakten, die Nicht-Vernehmung von Zeugen sowie mehrfache Hausdurchsuchungen (für letztere steht Wulff dem Gerichtsurteil zufolge, das der Autor zum Schluss seines Buches zitiert, eine Entschädigung zu). Der Alt-Bundespräsident zeigt aber auch in seinem Abschlusskapitel, wie wichtig es für ihn ist, (wieder) ein positives Bild in der Öffentlichkeit abzugeben: So habe er bei seinem Strafprozess immer darauf geachtet, sich erst auf die Anklagebank zu setzen, wenn die Fotografen den Saal verlassen hatten. Vorher sollten auch seine Anwälte nicht ihre Roben anziehen. So wollte er Bilder mit negativer Konnotation in den Medien verhindern.
Diskussion
Christian Wulff gibt einen dosierten Einblick in seinen Gefühlshaushalt, er räumt sogar freimütig ein, Fehler gemacht zu haben. An der einen oder anderen Stelle mag man ihm zustimmen, an anderen fällt das schwer. Die Vorwürfe, die gegen ihn aus seiner Zeit als Ministerpräsident erhoben wurden, waren zum Teil tatsächlich substanzlos. Andere dagegen waren strafrechtlich nicht zu ahnden, stellen aber ein moralisches Problem dar. Die Verteidigung in solchen Fällen gelingt Wulff zuweilen nicht hinreichend. Gleichwohl scheut er sich nicht davor, politisch Position zu beziehen und die Integrationspolitik als für ihn besonders wichtigen Bereich bewusst zu machen.
Fazit
Alt-Bundespräsident Christian Wulff hat Geschichte geschrieben – unfreiwillig. Nun hat er freien Willens seine Interpretation der Ereignisse präsentiert. Gleichzeitig zeichnet er ein streng subjektives Sittengemälde von Politik und Medien in Deutschland. Darin liegt der besondere Reiz dieses Buches: Es gibt empirische Einblicke in gesellschaftliche Sphären, die sich für Normalbürger und oft genug auch die Wissenschaft hinter verschlossenen Türen abspielen.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Überall
Medien- und Politikwissenschaftler an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft; www.politikinstitut.de
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