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Paul Mecheril, Susanne Arens et al. (Hrsg.): Migrationsforschung als Kritik? Spielräume kritischer Migrationsforschung

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 04.09.2014

Cover Paul Mecheril, Susanne Arens et al. (Hrsg.): Migrationsforschung als Kritik? Spielräume kritischer Migrationsforschung ISBN 978-3-531-18621-4

Paul Mecheril, Susanne Arens, Claus Melter, Oscar Thomas-Olalde, Elisabeth Romaner (Hrsg.): Migrationsforschung als Kritik? Spielräume kritischer Migrationsforschung. Springer VS (Wiesbaden) 2013. 287 Seiten. ISBN 978-3-531-18621-4. 39,99 EUR.

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Thema

Nach nunmehr etwa 40 Jahren Migrations- (und Integrations-)forschung in Deutschland wird hier der Versuch unternommen, diese als „Kritik“ bzw. als „kritische Migrationsforschung“ zu entwerfen. Dieser Versuch ist allerdings mit einem Fragezeichen im Titel verbunden! In jedem Fall impliziert der Titel jedoch, dass die bisherige (traditionelle, mainstreamartige) Migrationsforschung nicht „kritisch“ war oder sich nicht als „Kritik“ verstand. Da Paul Mecheril, der gegenwärtig wohl interessanteste und innovativste Migrationsforscher in Deutschland dem fünfköpfigen Herausgeberteam vorangestellt ist, kann auch angenommen werden, dass er der Wortführer, Ideenproduzent und Spiritus Rector des ambitionierten und vielversprechenden Projektes ist. Es kann aber hier schon „kritisch“ angemerkt werden, dass auf frühere und ähnliche Versuche einer „(Bilanz und) Kritik der Ausländerforschung“ (wie es lange Zeit hieß) oder das Konzept, die „Ausländerforschung vom Kopf auf die Füße zu stellen“ (vgl. exemplarisch Griese 1984) nicht eingegangen wird.

Es muss noch erwähnt werden, dass diese Publikation einen akademischen Zwilling hat, da ein zweiter Band vorliegt (vgl. die Rezension dazu), der von den selben Herausgebern, im selben Jahr, unter dem gleichen Titel, mit identischem Einführungsbeitrag (vgl. unten), aber mit dem Untertitel „Konturen einer Forschungsperspektive“ erschienen ist. Es handelt sich aber nicht um aufeinander aufbauende Konzepte bzw. Band I und Band II.

Herausgeber und Autoren

Die fünf Herausgeber sind alle an Hochschulen tätig.

  • Paul Mecheril ist Professor an der „Fakultät Bildungs- und Sozialwissenschaften“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg,
  • Mag. Oscar Thomas-Olalde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Innsbruck (an der Mecheril zuvor war!),
  • Dr. Claus Melter ist Professor für „Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft“ an der Hochschule Esslingen,
  • Dipl.-Päd. Susanne Arens ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Paul Mecheril in Oldenburg und
  • Mag. Elisabeth Romaner ist ebenfalls in Innsbruck an der Fakultät für Bildungswissenschaften forschend und lehrend tätig (alles dem Klappentext entnommen).

Über die übrigen 13 AutorInnen der insgesamt elf Beiträge in zwei Hauptkapiteln erfährt man in dem Band nichts, und es wäre verfehlt, wenn ich jetzt einige hervorheben würde.

Entstehungshintergrund

Dazu gibt es keine Hinweise. Zu vermuten ist, dass die Idee zu dem Reader bereits zu Mecherils Zeiten in Innsbruck zurückgeht, da zwei Mitherausgeber dort in Forschung und Lehre tätig sind. Für Paul Mecheril gilt, dass er seit geraumer Zeit an einer „kritischen“, teilweise provokanten und innovativen Migrationsforschung arbeitet.

Aufbau

Der Band besteht aus einem längeren programmatischen Einführungsartikel der Herausgeber (knapp 50 Seiten) zu „Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten“ sowie zwei Kapiteln zu „1. Wem nützt Kritik wodurch?“ mit einer kurzen Einleitung von Melter/ Romaner und sechs Beiträgen sowie zu „2. Kritik konkret: Schlaglichter empirischer Migrationsforschung“ mit einer Einleitung von Mecheril und weiteren sechs Beiträgen.

Ein Ausblick/ Resümee/ Fazit fehlt, ebenso ein Hinweis oder Bezug zum Zwillingsband.

Ausgewählte Inhalte und Erkenntnisse

Da ich auf die insgesamt zwölf Einzelbeiträge nicht eigens eingehen kann, konzentriere ich mich auf die umfangreiche und für den Band Ziel bestimmende „Erkundung eines epistemischen (Erkenntnis generierenden, H.G.) Anliegens in 57 Schritten“ der Herausgeber – auch wenn ich nicht alle „57 Schritte“ (!) berücksichtigen kann – sowie auf die beiden kurzen Einleitungen zu den Kapiteln und einen ausgewählten Beitrag zu „‚Interkulturelle Kompetenz‘ als Konzept kritischer Migrationsforschung?“ (man beachte wieder das?).

Die „Erkundung … in 57 Schritten“ unterteilt sich in sechs Unterkapitel zu „Migration als altes und neues Phänomen“, „Migrationsforschung als Normalisierungspraxis: historisch-systematische Anmerkungen“; sie schaut auf „Migrationsforschung als Nicht-Ausländerforschung – die Ausdifferenzierung einer Forschungsperspektive“, diskutiert den „Gegenstand der Migrationsforschung: Veränderungen des Verhältnisses von Individuen zu Ordnungen“, fokussiert sich auf „Kritik“ und zuletzt auf „Migrationsforschung als offenes Projekt der Kritik“.

Die Überschriften fassen die jeweiligen Inhalte und programmatischen Ziele präzise und bringen sie auf den Punkt, wobei der erste Satz der Einleitung die Richtung vorgibt: „Die Idee der Kritik, die die im vorliegenden Buch versammelten Analysen orientiert, verfolgt das Anliegen, Herrschaftsstrukturen zu untersuchen“ (S. 7). Dabei wird Migration als „historischer Normalfall“ und „universelle menschliche Praxis“ gesehen, die „im Kontext der globalen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit (! H.G.) analysiert werden“ muss (S. 9f). Andererseits werden in Politik, Öffentlichkeit, Medien und auch Forschung die „nicht-migrantischen Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse zum Normalfall stilisiert“, wodurch Migration als „Problem“ konstruiert wird (S. 12). Migrationsforschung wird als interdisziplinäres Querschnittsthema skizziert, das „mittlerweile im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses … angekommen ist“ (S. 14) und damit politisch ist und wird. Dabei gerät die Migrationsforschung in das Dilemma und fördert die „Gefahr, Prozesse des gesellschaftlichen Othering (durch ihre Defizit- oder Differenzperspektive, H.G.) zu re-/produzieren“ (S. 18). Die „Kritik“ versteht sich als Kritik am „methodologischen Nationalismus“ und postuliert eher eine „transnationale Perspektive“.

Weiter wird gefordert: Die „Analyse der Reproduktion sowie der Verschiebung der Differenz- und Zugehörigkeitsordnung“ mit der Folge, „Zugehörigkeiten nicht als natürliche Container zu verstehen“ und die Analyse der „Macht, die in und von diesen Ordnungen über Individuen ausgeübt wird“ (S. 28f) bzw. das „Aufzeigen dessen, was Menschen unterwirft“. Hier wird deutlich, dass die „kritische Migrationsforschung“ sich stark an Foucault anlehnt und kritische Selbstreflexivität auf ihre Fahnen schreibt/ zu schreiben vorhat. Vorläufiges Fazit: „Die Praxis der Kritik hat ihren Ursprung in der Tradition der Aufklärung als Kritik an Wahrheits- und Absolutheitsansprüchen“ (S. 33). Notwendig, so die Herausgeber, ist aber auch die „Kritik der Kritik“, d.h. die „Machteffekte der eigenen kritischen Rede einer kritischen Überprüfung zu unterziehen“ (S. 34). Die Sache, der Anspruch, wird also komplexer und damit komplizierter, da Wissen, Aufklärung und Kritik selbst in einer „konstitutiv-dialektischen Verbindung“ zur Macht stehen (Foucault). Zu Recht wird gefragt, wie man dann aus dem Teufelskreis hinauskommt: „Gibt es einen Ausweg aus dem kritischen Paradoxon?“ (S. 35) bzw. an welchen Kriterien, Maßstäben und Prinzipien (Prämissen – vgl. unten „Diskussion“) orientiert sich eine „(selbst-) reflexive Kritik“, „wenn Kritik mehr als ein partikulares Urteil sein soll“ (s. 38) und den üblichen Dualismus von „falsch(em) und richtig(em)“ Bewusstsein, Sein und Sollen, Wesen und Existenz des Menschen oder von „authentisch und entfremdet“ überwinden will. Zu fragen ist, ob man dann nicht zu den „Kerngehalten des Menschlichen“ und zum ahistorisch-universellen Wesen von Mensch und Gesellschaft vordringen muss (vgl. unten „Kulturelle Universalien“)? Liegen die erforderlichen Kriterien und Maßstäbe für eine „Kritik“, die selbstreflexiv und „kritik-kritisch“ ist, außerhalb von Gesellschaft und Geschichte oder sind sie aus der gesellschaftlichen Realität abzuleiten (vgl. exemplarisch „Verfassung und Verfassungswirklichkeit“).

Als „Grundmotiv der Kritik“ wird (S. 43f) das „Aufzeigen dessen bestimmt, was Menschen im Hinblick auf die Möglichkeit einer freien Existenz behindert, degradiert und entmündigt“ („Herrschaft des Menschen über den Menschen“), wobei der „Ausgangspunkt in einem Moment der Empörung“ zu sehen ist (vgl. den Aufruf „Empört Euch“ von Stephane Hessel 2010). Da Migrationsforschung meist „Problemforschung“ ist, ist sie politisch und gesellschaftlich relevant. Die Autoren treten für eine pluralistische Migrationsforschung und eine Vielfalt von Fragestellungen und theoretischen Zugängen ein, präferieren für sich allerdings eine Verengung auf „Kritik an Herrschaftsverhältnissen“ und eine „Aufhebung der irreführenden Entgegensetzung von Distanz und Engagement“ (S. 45).

Zuletzt (S. 48f) wird noch mal präzise zusammengefasst: „Einer vom Motiv der Kritik mobilisierten Migrationsforschung geht es somit um drei wesentliche Ziele: erstens um die Analyse migrationsgesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen … zweitens … eine kritische Analyse des Einsickerns und Eindringens von Macht in die Möglichkeit der Menschen … (konkret um, H.G.) Verhinderung, Einschränkung und Begrenzung oder auch Widerstand … drittens zielt kritische Migrationsforschung auch auf die Analyse von Möglichkeiten und Formen der Verschiebung und Veränderung von Zugehörigkeitsordnungen und Herrschaftsstrukturen, sowie des Widerstands gegen sie und in ihnen“. Diese so postulierte Migrationsforschung „(entsagt) sowohl einem Idealismus des Subjektes als auch einem Determinismus der Struktur“ (S. 49), ist also weder Mikro- noch Makrotheorie des Sozialen, sondern??? Das bleibt m. E. offen. Abschließend (S. 50) wird noch mal „genauer formuliert“: „Das Grundmotiv kritischer Migrationsforschung … wird genährt von einem moralischen Impuls, der die Legitimität jener migrationsgesellschaftlichen Phänomene zurückweist, die Menschen in ihren Möglichkeiten für eine freiere Existenz behindern, degradieren und entmündigen“. In anderen Worten: Es geht um Emanzipation (des Individuums und der Gattung Mensch). Kennzeichen sind „eine spezifische moralisch-ethisch begründete politische Ambition und die Präferenz eines bestimmten Untersuchungsbereichs, der durch Herrschaftsverhältnisse und Praxen ihrer Re-Produktion und Ab-Wandlung gekennzeichnet ist“.

In ihrer Einleitung in das 1.Kapitel (S. 59ff) betonen Melter/ Romaner die „soziale Wirkung“ einer kritischen Migrationsforschung, deren Folgen es dann allerdings auch „in einer selbstreflexiven und gesellschaftlichen Perspektive zu befragen gilt“. In jedem Fall sieht sich die kritische Migrationsforschung erkenntnistheoretisch mit ihrem Gegenstand vernetzt und in ihn involviert und agiert nicht in Distanz zu diesem. Sie intendiert eine Kritik und Reduzierung der von „materiellen Zugehörigkeits- und Diskriminierungsverhältnissen … ausgehenden Herrschaft“. Methodische Zielsetzung wird dann „engagierte Distanz“ bzw. „distanziertes Engagement“ – der „Positivismusstreit“ (Adorno u.a. 1969) lässt grüßen, wird aber im gesamten Reader nicht erwähnt.

Den Beitrag zur „Interkulturelle Kompetenz“ von Yesim Kasap-Cetingök aus dem 1. Kapitel „Wem nützt Kritik wodurch?“ habe ich gewählt, weil es hierbei um einen pädagogischen Leerformel-, Container- und Staubsaugerbegriff geht, die Fragestellung interessant und relevant klingt („als Konzept kritischer Migrationsforschgung?“) und weil die Autorin, ebenso wie Paul Mecheril, einen „Migrations(vorder)hintergrund“ hat. Ob dieses Merkmal allerdings Voraussetzung für eine „kritische Migrationsforschung“ ist (Betroffenheit, Sensibilität für Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Dazugehören, biographische Erfahrungen, Unterdrückung usw.), wäre noch zu diskutieren.

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die zweifellos zutreffende Feststellung: „In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion ist eine Umstellung von der Qualifikations- zur Kompetenzdiskussion zu beobachten“ (S. 63), wobei „professionelle pädagogische Kompetenz“ die Bereiche „Gesellschaftsanalyse, Situationsanalyse und Professionelles Handeln“ (nach Wolfgang Nieke) umfasst – sehr hoch gegriffen, wie ich meine, vor allem „Gesellschaftsanalyse“ (vgl. Pongs). Ihr Ziel ist es, „einen Widerstandspunkt innerhalb des interkulturellen Kompetenzdiskurses herzustellen“ (S. 65), wobei die interessanten Hinweise dazu in der Fußnote (ebd.) zu lesen sind. Es folgt eine an den „Antinomien der Moderne“ (Werner Helsper) angelehnte Professionalisierungsdebatte – einseitig am schulischen Kontext orientiert – um dann eine „reflexive Interkulturalität in der Migrationsforschung“ (vgl. Ulrich Beck: „Reflexive Modernisierung“) zu erörtern sowie die „pädagogische Professionalität im interkulturellen Kontext“ kritisch zu diskutieren. Schwerpunktmäßig wird hier Paul Mecherils Konzept der Reflexion gesellschaftlicher Machtverhältnisse referiert, welches auch die „Grenzen professionellen Handelns“ verdeutlicht. Fazit: Pädagogischer Handlungserfolg ist nur durch „Reflexion über die konstruierten Differenzen sowie die bestehenden Machtverhältnisse zwischen den Alltagswelten gesichert“ (S. 71). In anderen (Alltags-)Worten: Erst (nach)denken, dann handeln (vgl. „global denken, lokal handeln“, H.G.).

Sodann erfolgen organisationstheoretisch-kritische Gedanken in Anlehnung an Franz Hamburger (Ontologisierung von Differenz), Frank-Olaf Radtke und Mechthild Gomolla (Ethnische und Institutionelle Diskriminierung) und zuletzt Paul Mecheril (reflexive Orte und Reflexivität als Programm einer Organisation – vgl. dazu Jürgen Habermas´ Diskurstheorie, H.G.). Diese Überlegungen werden dann abschließend auf „die Organisation Schule und die pädagogische Professionalität“ bezogen (S. 74ff) – mit dem (banalen?) Ergebnis: „Das pädagogische Handeln (ist) von grundlegenden Spannungen vor allem zwischen der Interaktion und Organisation durchzogen. Die pädagogische Professionalität in interkulturellen Kontexten kann durch die Reflexion über diese Spannungen erreicht werden“ (vgl. früher: „Der Lehrer im Rollenkonflikt“).

Richtig ist zweifellos, dass der aktuelle Blick auf Kompetenz eingeschränkt und eindimensional ist und kritisch überwunden werden muss, ferner, dass Handlungskompetenz ohne Reflexionskompetenz nicht erreicht werden kann und „organisationales Handeln nachträglich reflektiert und auf seine Angemessenheit hin überprüft werden kann“, dass Reflexion sich auf die „Zusammenhänge zwischen der Selektion und Interkulturalität“ und organisationales Handeln richten sollte. Ob diese abstrakten theoretischen Überlegungen schon mal in der Praxis, d.h. in der LehrerInnen-Fortbildung (durch kritische Selbst-Reflexion von Lehrerhandeln im Kontext institutioneller Selektionspraxis) angewandt wurden oder wie das Konzept umzusetzen sei, bleibt leider unerwähnt.

Es folgen Beiträge zu „Plädoyer für Widersetzungen. Ein feministsches Essay“ von Birge Krondorfer, „Transfer kritischer Forschung: Zur ‚Nützlichkeit‘ kritischen Wissens für die Praxis“ von Brigitte Kukowetz und Annette Sprung, „Zur Bedeutung der Alltagsinteraktion für die Migrationsforschung. Eine durch Goffman und Laclau/Mouffe informierte Kritik am Migrationsdiskurs“ von Manuel Peters, „‚Klar kann man was machen!‘ Forschung zwischen Intervention und Erkenntnisinteresse“ von Wiebke Scharathow und „Postmigrantische Verortungspraktiken: Ethnische Mythen irritieren“ von Erol Yildiz.

„Einleitend“ (S.157) zum 2. Kapitel „Kritik konkret: Schlaglichter empirischer Migrationsforschung“ schreibt Paul Mecheril: „Das zentrale Interesse einer Migrationsforschung, die von der empirisch zu konkretisierenden Annahme ausgeht, dass migrationsgesellschaftliche Lebens- und Bildungswirklichkeit von Machtmomenten konstitutiv strukturiert sind, ist die Untersuchung der Wirkung von migrationsgesellschaftlicher Macht in unterschiedlichen Feldern“. Das Projekt „Migrationsforschung als Kritik“ zielt auf die Analyse von Macht und Herrschaft in migrationsgesellschaftlichen Kontexten und ist eine spezielle Art von „Spurenforschung“, da es um die „subjekt-, interaktions- und institutionskonstitutive Wirkung der Macht migrationsgesellschaftlicher Unterscheidungen“ geht (ebd.). Sie fragt aber auch nach „weniger machtvollen Alternativen“ und sucht nach Orten und Sprache einer „Schwächung dominanter Figuren migrationsgesellschaftlicher Unterscheidungen“.

Die folgenden Beiträge im 2. Kapitel sind: „Rot-Weiß-Rot exklusiv? Dialektische Diskriminierungen im Namen der Nation(alsprache)“ (Österreich, H.G.) von Sabine Gatt, „Migrationsforschung als transnationale, genealogische Ethnographie – Subjektivierungsprozesse von ‚InderInnen der zweiten Generation‘ aus der Schweiz“ von Rohit Jain, „Neither Strange nor Familiar. Vermittlung, Aneignung und Transformation in transnationalisierten Lebensentwürfen junger Erwachsener“ von Kathrin Klein-Zimmer, „Zähne zeigen. Humor in der kritischen Migrationsforschung“ von Darja Klingenberg, „Die Positionerung deutsch-türkischer Jugendlicher zwischen ethnisierenden Zuschreibungen und Alltagserfahrungen. Eine Kritik am dominanten Diskurs über Zugehörigkeit“ von Moritz Merten sowie „Integration – eine Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz“ von Annemarie Profanter und Claudia Lintner.

Diskussion

Manchmal wünscht man sich beim Lesen der Prämissen, der Idee und der einzelnen Beiträge zu einer „Migrationsforschung als Kritik“, wie sie hier von Paul Mecheril und KollegInnen vorgelegt wird, die klare, verständliche und präzise Sprache von Max Weber, dem Klassikers der Macht- und Herrschafts-Soziologie, vor allem, wenn die Kritik auch Konsequenzen für pädagogisches Reflektieren (was ja immer gefordert wird) und professionelles Handeln sowie für politisch alternative Konzepte und Reformen sein soll.

Bei der Suche nach Kriterien (vgl. oben) für eine „Migrationsforschung als Kritik“ kommt man m. E. nicht um eine philosophisch-anthropologische Diskussion herum, die aber nicht geführt wird. In anderen Worten: Welche anthropologischen Prämissen, welches Menschenbild liegt meiner Kritik zugrunde (z.B. die Orientierung an der 6. Feuerbach-These von Karl Marx: „Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlicher bilden“ oder das Konzept der „Kulturellen Universalien“) und von welchem Gesellschaftsbild gehe ich aus (vgl. Armin Pongs: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?), wenn ich „spezifische moralisch-ethisch begründete politische Ambitionen“ habe? Das ständige Wiederholen ähnlicher Formulierungen ohne konkrete Präzisierung (vgl. oben) und ohne Differenzierung (wie z.B. bei Max Webers „Typen der Herrschaft“) schärft nicht den Blick auf die komplexe und damit komplizierte Realität von Macht- und Herrschaftstrukturen in einer Einwanderungsgesellschaft.

Das Projekt einer „Migrationsforschung als Kritik“ ist mir äußerst sympathisch, mir fehlen aber die philosophisch-anthropologische Basis sowie die empirisch belegten gesellschaftstheoretischen Prämissen. Wenn man pädagogisch- politische Ziele hat wie „Herrschaftsstrukturen zu schwächen“, „Eigenschaften von Herrschaftsstrukturen, ihre Bedingungen und Konsequenzen zu untersuchen und theoretisch zu explizieren“ (S. 45), so bleibt das alles abstrakt, postulierend und – Entschuldigung für die Sprache – „ohne Fleisch am Knochen“.

Das Problem einer „Migrationsforschung als Kritik“, nämlich die „Aufhebung der irreführenden Entgegensetzung von Distanz und Engagement“ sollte als klassisches Problem einer kritischen Sozialwissenschaft am Beispiel des „Werturteilsstreits“ sowie „Positivismusstreits“ diskutiert werden, um zum einen aufzuzeigen, dass es typisch für engagierte Forschung ist sowie andererseits, ob bzw. wie man diesem Dilemma konkret in der Forschungspraxis zu entkommen glaubt. Hier bestünde die Chance, den „Positivismusstreit“ (in der Soziologie und später Erziehungswissenschaft) und das „Theorie-Praxis-Problem“ in einer Migrationsgesellschaft (!) neu auf die Tagesordnung zu setzen und eine Brücke zu schlagen zu allgemeinen methodologischen Fragen und Problemen der Soziologie und Erziehungswissenschaft. (Migrations-)Gesellschaften erkennt man in ihrem Wesen am besten daran, wie sie mit Integration und Selektion (Segregation), Dazugehörigkeit (Inklusion) und Exklusion, Unterprivilegierung und Chancengerechtigkeit (Zukunftsperspektiven) umgehen, diese vermeiden und bekämpfen oder eben produzieren und konstruieren.

Der Idee einer „Migrationsforschung als Kritik“ würde es m. E. nicht schaden, wenn sie auch Anleihen nähme vom Konzept der „strukturellen und kulturellen Gewalt“ (Galtung1975) bzw. der These, dass in verschiedenen Formen (strukturell, kulturell, physisch, psychisch) vorliegende Gewalt (der Begriff scheint mir konkreter als Macht und Herrschaft) immer dann vorliegt, wenn Menschen ihre Potentiale nicht realisieren können (vgl. mit Blick auf Bildungs- und Berufschancen von MigrantInnen Berlin-Institut mit ihrer Studie „Ungenützte Potenziale“).

Fazit

Paul Mecheril geht mit seinen alternativen, theoretisch faszinierenden Ideen und abstrakten Überlegungen zu einer „Migrationsforschung als Kritik“ voran und forciert das Projekt durch diese Publikation, in der etliche KollegInnen, mehr oder weniger im Rahmen des skizzierten Konzeptes, weitere konzeptionelle und empirisch fundierte Analysen beisteuern. Wer Interesse und Neugierde verspürt, sich außerhalb des Mainstreams der deutschsprachigen Migrationsforschung zu begeben, ist mit dem Band, vorausgesetzt, er liebt abstrakt-theoretisches Denken und Formulieren, sehr gut versorgt. Ob das Projekt einer „Migrationsforschung als Kritik“ praxistauglich und damit nachhaltig ist und wirkt, hängt sicher von der Umsetzung der Akteure ab – dazu muss man es aber kennen und verstehen. Von daher wünsche ich der Idee eine große Rezeption in Form von kritischen theoretischen Diskursen in der Scientific Community und praktischen Projekten der Umsetzung. Zuletzt meine ich daher, dass das Fragezeichen im Titel durchaus durch ein programmatisches und zukunftsweisendes Ausrufezeichen (!) ersetzt werden sollte!

Literatur

  • Adorno, Theodor W. u.a. (1969): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied und Berlin.
  • Berlin-Institut (2009): Ungenützte Potentiale. Berlin.
  • Galtung, Johann (1975 ): Strukturelle Gewalt. Hamburg.
  • Griese, Hartmut M. (Hrsg.) (1984): Der gläserne Fremde. Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und der Ausländerpädagogik. Opladen.
  • Hessel, Stephane (2010). Empört Euch. Berlin (Ullstein).
  • Pongs, Armin (2000): In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? 2 Bände. München.
  • Weber, Max (1988, zuerst 1922): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Darin: Soziologische Grundbegriffe (1921). Tübingen.

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.

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Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 04.09.2014 zu: Paul Mecheril, Susanne Arens, Claus Melter, Oscar Thomas-Olalde, Elisabeth Romaner (Hrsg.): Migrationsforschung als Kritik? Spielräume kritischer Migrationsforschung. Springer VS (Wiesbaden) 2013. ISBN 978-3-531-18621-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17206.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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