Margrit Stamm, Seraina Leumann u.a.: Erfolgreiche Migranten
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 16.06.2015

Margrit Stamm, Seraina Leumann, Jakob Kost: Erfolgreiche Migranten. Ihr Ausbildungs- und Berufserfolg im Schweizer Berufsbildungssystem. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2014. 126 Seiten. ISBN 978-3-8309-3049-5. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Wenn Wissenschaft und Politik Jugendliche mit Migrationshintergrund als Bildungsbenachteiligte betrachten, werden Probleme und Defizite thematisiert, nicht aber (auch) deren Potentiale. Deshalb ist diese Studie aus der Schweiz denjenigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund gewidmet, die ihre Berufsausbildung mit großem Erfolg absolviert haben,
Autorinnen und Autor
- Dr. Margrit Stamm ist Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg/Fribourg.
- Seraina Leumann MA ist Doktorandin an der Universität Jena.
- Jakob KostMA ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Erziehungswissenschaften in Freiburg.
- Dort ist auch Dr. Michael Niederhauser tätig, dessen Mitwirkung im Vorwort lobend erwähnt wird.
Entstehungshintergrund
Das Schweizerische Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SFBI) hat 2009-2012 eine Längsschnittstudie unter dem Titel „Migranten als gesellschaftliche Aufsteiger“ (Mirage) finanziert, deren Ergebnisse hier zusammengefasst werden.
Aufbau
Die Publikation ist in sieben Abschnitte gegliedert. Nach Vorwort und Einleitung wird der Stand der Forschung in der Schweiz und Deutschland referiert. Sodann werden die Anlage der Studie und ihre Ergebnisse vorgestellt, abschließend auch pädagogische und politische Konsequenzen diskutiert.
Inhalt
Bekanntlich werden die Bildungswege in der Schweiz wie in Deutschland immer noch durch die soziale Herkunft bestimmt. So erreichen 38% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schweiz (Deutschland: 31%) keinen Berufsabschluss, bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund sind es 10-15 %.
Es gilt, die Perspektive von der Defizit- zur Ressourcenorientierung zu wechseln und die migrantischen Jugendlichen nicht nur als „Risikogruppe“ zu betrachten, sondern als Begabungsreserven (wie einst das sprichwörtliche katholische Mädchen aus der Arbeiterfamilie vom Lande).
Ausgangspunkt ist die aktuelle Forschung in den deutschsprachigen Ländern. Diese hat ein ganzes Bündel von Faktoren ausfindig gemacht, die für Bildungserfolg sorgen, an erster Stelle die Unterstützung der Familie, vor allem durch deren Bildungsaspirationen, auch durch ältere Geschwister. Das so wichtige Selbstvertrauen kann auch mit Widerstand (Resilienz) und Diskriminierung wachsen. Jugendliche mit Migrationshintergrund können besondere Kompetenzen erwerben, etwa im Umgang mit Ambiguitäten und neuen Herausforderungen. Die vorliegenden Daten weisen daraufhin, dass junge Migranten im Bildungssystem besser vorankommen, wenn sie als Kind, also in jungen Jahren eingereist sind und sich ihre Eltern keine Rückkehroption offenhalten.
Die Mirage-Studie will nun die Merkmale herausarbeiten, die Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund (Kriterium: ein Elternteil im Ausland geboren) „leistungsstark“ machen. Dazu sind, nach Kantonen gewichtet, die besten Absolventinnen und Absolventen der drei- und vierjährigen Berufsausbildung im Jahr 2009, insgesamt 1.600 Personen zur Mitwirkung eingeladen worden. Diese bestand zunächst darin, einen detaillierten Fragebogen auszufüllen, der auch dazu geeignet war, Migrationshintergrund festzustellen. Bei einem Rücklauf von fast 50% konnten zwei Gruppen gebildet werden, die „Einheimischen“ und die Personen mit Migrationshintergrund. An den zwei folgenden Befragungen beteiligten sich jeweils weniger Jugendliche, zunächst noch 541, letztlich waren es dann 2011 noch 171 Jugendliche mit Migrationshintergrund und 305 autochthone. Die sog. Panelmortalität wurde durch einige Teilnahmeanreize, z.B. Verlosung von iPods, in Grenzen gehalten.
Die Eltern der Migrantengruppe hatten nach Angaben der Jugendlichen selbst, wieder im Vergleich mit den Einheimischen, deutlich höhere Bildungsambitionen. Zugleich waren es die leistungsstarken Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die seltener den Kindergarten besucht, aber öfter eine Klasse wiederholt hatten. Dies und die Tatsache; dass auch spät eingereiste Kinder zu den leistungsstärksten Absolventinnen zählten, weisen daraufhin, dass sie manche Umwege und Anstrengungen mehr unternahmen. Tatsächlich betonten die Absolventen mit Migrationshintergrund gleichermaßen, dass es ihre Selbstkompetenz, also Ehrgeiz, Fleiß, Zielorientierung, war, die sie zum Ausbildungserfolg brachte. Nach der letzten Befragung zu urteilen haben die migrantischen Absolventen denn auch höheren Status und Einkommen erzielt als ihre einheimischen Peers.
Die Befragung der Ausbildungsbetriebe wie auch der Auszubildenden selbst ergibt demgegenüber, dass das sehr gute Betriebsklima und die starke Unterstützung der Auszubildenden zum Erfolg in der Berufsausbildung beitrugen, ohne dass irgendwie nach Herkunft und Hintergrund differenziert worden sei. Die „leistungsstarken“ migrantischen Jugendlichen fühlen sich, ihren Aussagen zufolge, in der Schweiz gut und sehr gut akzeptiert.
In ihrer Bilanz heben die Autorinnen und der Autor noch einmal hervor, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund durchaus Bildungsaufsteiger werden können, trotz aller „Brüche in ihrer Schullaufbahn“, ja vielleicht gerade weil sie dabei besondere „Bewältigungskompetenzen“ erworben haben. Allerdings kann daraus, wie Schramm und Kollegen betonen, nicht individualisierend abgeleitet werden, dass sich die Kinder und ihre Eltern bloß anzustrengen bräuchten, dann würde es schon klappen. Diese Ausbildungserfolge haben ja gesellschaftliche Voraussetzungen, zuallererst die, dass jede „Marktbenachteiligung“ beseitigt wird und stattdessen die interkulturellen und mehrsprachigen Kompetenzen leistungsstarker Migranten genutzt werden. Dies sollte umso leichter fallen, je mehr Ausbildungspersonal mit Migrationshintergrund gewonnen werde und als Vorbild fungieren könne.
Da migrantische Familien hohe Erwartungen an ihre Kinder haben und sie in jeder Hinsicht unterstützen wollen, sollte das Bildungssystem viel mehr auf sie zugehen, die Eltern intensiv informieren und beraten.
Die Publikation schließt mit der Aussage, dass mit der Studie Migranten als ein beträchtliches Potential an Begabungsreserven bestätigt worden sei. Daher sollten Förderprogramme gezielt potentiell leistungsstarke Jugendliche mit Migrationshintergrund suchen, die bislang unterfordert sind.
Diskussion
Die vorlegende Studie beeindruckt durch den soliden Aufbau und ein Forschungssetting, das in drei Durchgängen recht aufwändig gestaltet und solide durchgeführt worden ist.
Absolut vernünftig scheint der Ansatz, leistungsstarke Jugendliche mit Migrationshintergrund daraufhin zu befragen, was sie dazu gebracht hat, ihre Potentiale auszuschöpfen. Deren Selbstreflexion ist sicher eine wichtige Erkenntnisquelle.
Weniger nachvollziehbar ist jedoch, dass Mirage autochthone (einheimische) Jugendliche, die ebenfalls sehr gute Ausbildungszeugnisse erhalten haben, als Vergleichsgruppe gewählt hat. Warum sollten die sich von den allochthonen Jugendlichen unterscheiden? Haben letztere „mehr“ Selbstvertrauen nötig? Und wenn? Dieses „mehr“ zu messen, kann doch nicht aus der getrennten Befragung heraus stattfinden.
Die Frage ist doch eher die, was die „leistungsstarken“ migrantischen Jugendlichen den weniger erfolgreichen Peers mit Migrationshintergrund voraus haben. Dann könnte auch die immer wieder benannte, aber nicht realisierte Unterscheidung innerhalb der Allochthonen greifen; bekanntlich übertreffen z.B. Kinder und Jugendliche aus vietnamesischen Familien ihre Altersgenossen (übrigens auch die autochthonen) an Aspirationen und faktischen Bildungserfolg erheblich.
Letztlich gelangen die Autoren doch auch wieder zu einem Punkt, wo es um die individuelle Förderung von Jugendlichen geht, und zwar – vor allem? – derjenigen, die leistungsstark sein könnten, wenn nur das Bildungssystem auf ihre Potentiale achtet.
Fazit
Die Studie fordert zurecht und vehement Bildungspolitik und Jugendhilfe dazu auf, die Potentiale und Ressourcen von Kindern und Jugendlichen zu sehen, gerade auch derjenigen mit Migrationshintergrund.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
Mailformular
Es gibt 128 Rezensionen von Wolfgang Berg.
Zitiervorschlag
Wolfgang Berg. Rezension vom 16.06.2015 zu:
Margrit Stamm, Seraina Leumann, Jakob Kost: Erfolgreiche Migranten. Ihr Ausbildungs- und Berufserfolg im Schweizer Berufsbildungssystem. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2014.
ISBN 978-3-8309-3049-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17216.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.