Renate Nestvogel: Afrikanerinnen in Deutschland
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.12.2014

Renate Nestvogel: Afrikanerinnen in Deutschland. Lebenslagen, Erfahrungen und Erwartungen.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2014.
364 Seiten.
ISBN 978-3-8309-3086-0.
D: 39,90 EUR,
A: 41,10 EUR,
CH: 53,90 sFr.
Bildung in Umbruchsgesellschaften ; Bd. 11.
Zu den Lebenslagen von Afrikanerinnen in Deutschland
„Du Schwarz – ich Weiß“, diese mehrdeutige Werbeanzeige, bei der sich ein Weißer und ein Dunkelhäutiger gegenüber sitzen und aufeinander verweis(s)en, macht schon deutlich, dass es ungeklärte Unterschiede, Stereotypen, Vorurteile, sogar Fremdenfeindlichkeit und Rassismen in Mehrheitsgesellschaften gegenüber Minderheiten gibt. Besonders gravierend zeigt sich dies, wo Hautfarbe ein Merkmal für Distanz und Diskriminierung wird. Die Frage, wie die Deutschen zu den Fremden kamen (siehe dazu: www.socialnet.de/materialien/171.php) wird anthropologisch, soziologisch, politisch und weltanschaulich in zahlreichen Facetten und Differenzierungen diskutiert. Als antirassistische und postkoloniale Fragestellungen werden die vorfindbaren Wirklichkeiten in der sich immer interdependenter, entgrenzender und globalisierter entwickelnden (Einen?) Welt diskutiert. Als Critical Whitness Studies und Weißseinsforschung hat sich die Thematik im wissenschaftlichen Diskurs etabliert (Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt, Hrsg., Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast-Verlag, Münster 2005, 550 S.). Es sind immer die ein- und abschätzigen Blicke, gelegentlich auch von Neugier und Aufmerksamkeit bestimmten Einschätzungen, die Afrikanerinnen in Deutschland erleben. Ob aus Trotz oder einer sich selbst versichernden Identitätsgewissheit, machen sich vor allem junge, selbstbewusstere Afrikanerinnen und Afrikaner auf, um eigene Communities zu gründen und sich zusammen zu tun oder sich auf andere Weise zu artikulieren (Nicole Brown, Black girlhood celebration. Toward a hip hop feminist pedagogy, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7828.php); und zwar sowohl ab- und ausgrenzend als auch nach Integration strebend. Die afrodeutsche Künstlerin Noah Sow drückt dies in ihrem Gedicht „Keine Kommentare (über meine Haare)“ so aus: „du siehst gar nicht aus wie ich / und mit wem vergleiche ich dich /ich bin´s müde zu versteh´n / wo du Unterschiede siehst… wir sind millionen und überall / und du glaubst du bist normal / du bist nicht das einzig wahre / also keine kommentare über meine haare“ (Susan Arndt, Rassismus. Die 101 wichtigsten Fragen, 2012, S. 150, www.socialnet.de/rezensionen/14286.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Über die Schwierigkeiten bei der Sozialisation und Integration von ausländischen Frauen und Mädchen in unsere Mehrheitsgesellschaft gibt es eine Reihe von soziologischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen. Trotzdem stellt die Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbildern in der interkulturellen weiblichen Sozialisation ein bisher wenig beachtetes und bearbeitetes Thema dar (Renate Nestvogel, Weibliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse in Kindheit und Jugend, Beltz Verlag, 2002, 616 S.).Es sind die zunehmenden Migrationsbewegungen, die nicht mehr nur den arbeitenden männlichen Migranten oder Einwanderer in den Blick nehmen, sondern auch Migrantinnen aus afrikanischen Ländern, die entweder als Flüchtlinge und Asylbewerberinnen, oder aus ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen nach Deutschland kommen. Die dabei erkennbaren Lebensbedingungen und Probleme der Afrikanerinnen in Deutschland wurden z. B. in einigen lokalen und regionalen Studien (Essen 2003, Hamburg 2004) untersucht.
Die Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin von der Universität Duisburg-Essen, Renate Nestvogel, legt die Ergebnisse einer Studie vor, in der sie und ihre MitarbeiterInnen über einen Zeitraum von 1999 bis 2004 eine Bestandsaufnahme der vorhandenen, publizierten Forschungsergebnisse zu den Sozialisationsprozessen und Migrationsbedingungen von Mädchen und Frauen aus afrikanischen Ländern vornahmen und in einer quantitativen Befragung und Interviews 262 betroffene Personen aus Nordrhein-Westfalen zu Wort kamen. Der wichtige, herausgehobene Aspekt ist dabei, dass nicht über die Situation von Afrikanerinnen in Deutschland geforscht wurde, sondern mit ihnen! Das umfangreiche Untersuchungsmaterial besteht dabei in einen Fragebogen, der 207 Fragen und Interviewthemen enthält. Die Analyse und Auswertung der Ergebnisse, die sowohl die Transkription der teilweise in Englisch oder Französisch entstandenen Texte und Verlautbarungen ins Deutsche erforderte, als auch die qualitative und quantitative Auswertung betraf, wurde zeitweise auch dadurch verzögert, dass die Finanzierung des Forschungsprojektes nur mühsam gesichert werden konnte. Dadurch ist auch die späte Veröffentlichung der Forschungsergebnisse zu erklären.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung wird die Studie in neun Kapitel gegliedert und mit einem Fazit abgeschlossen. Im ersten Kapitel stellen Renate Nestvogel und Dela Apedjinou den Forschungsprozess mit Konzept und Methodik vor. Das zweite Kapitel thematisiert die Aspekte „Sozialisation unter Migrationsbedingungen“, und zwar sowohl unter Einbeziehung der Sozialisationsverläufe in den jeweiligen afrikanischen Herkunftsländern, als auch die Sozialisations- und Migrationserfahrungen in Deutschland. Dabei wird auch der Anspruch erhoben, die Ergebnisse als Folgerungen für die Sozialisationsforschung insgesamt zu werten, wie auch mit dem Anliegen verbunden, „Voraussetzungen und Hindernisse sozialer Emanzipation offen zu legen und darüber zu einer Demokratisierung der Gesellschaft beizutragen“. Im dritten Kapitel geht es um die Darstellung der Erfahrungen der Afrikanerinnen mit deutschen Bildungseinrichtungen, und zwar sowohl in Kindergärten, Schulen und Universitäten. Jeder Bestandsaufnahme sind Empfehlungen zur Verbesserung der überwiegend eher negativ notierten Erlebnisse, Diskriminierungen und Abwehrhaltungen beigefügt, die ohne Zweifel für die jeweiligen Institutionen hilfreiche Hinweise anbieten. Im vierten Kapitel werden die „Erfahrungen mit dem deutschen Arbeitsmarkt“ aufgewiesen. Dabei werden sowohl die Bildungsvoraussetzungen und Berufserfahrungen der befragten Afrikanerinnen ermittelt, als auch die Akzeptanz und Relevanz der Kompetenzen bei der Arbeitssuche und Tätigkeiten als „Stolpersteine“ in der Wirklichkeit des Arbeitsmarktes registriert. Afrikanerinnen erleben „in allen sozialen Räumen der Gesellschaft Diskriminierung und Rassismus“. Das fünfte Kapitel setzt sich mit den Untersuchungsergebnissen bei „Erfahrungen mit Beratungsstellen“ auseinander. Es sind wiederum überwiegend die mangelnden und unzureichenden, interkulturellen, emotionalen, empathischen und sozialen Kompetenzen in den Institutionen, die eine wirkliche, lebensweltliche Beratung eher unwirksam werden lassen. Im sechsten Kapitel werden die „Diskriminierungserfahrungen“ analysiert und in einen weiter gefassten Forschungsrahmen gestellt, also nicht nur erhoben, sondern auch mit Überlegungen zu tatsächlichen und erhofften „Bewältigungsstrategien“ unterfüttert. Mit dem siebten Kapitel werden die Erfahrungen zur „Integration in Deutschland“ thematisiert und mit den Erwartungshaltungen der Afrikanerinnen zu positiven Integrationsprozessen mit der tatsächlichen Integrationswirklichkeit verglichen. Die Analyse zu dieser Fragestellung bedingt naturgemäß und in Wirklichkeit eine zweigeteilte Antwort: Zum einen kommt es auf die Bereitschaft und die Aktivität an, wie und in welchem Maße sich Migrantinnen in die Mehrheitsgesellschaft integrieren wollen und können; zum anderen bedarf es ebenso einer stärkeren Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaftler, interkulturell und international zu denken und zu handeln. Dies aber wird sich nur realisieren lassen, wenn zivilgesellschaftliche und auf einer „globalen Ethik“, der Menschenrechte nämlich beruhende Einstellungs- und Verhaltensänderungen vollziehen. Im achten Kapitel werden „sensible Bereiche“ als Sonderfrage zusammengefasst, z. B. als Erfahrungen mit Anwälten, Ausbeutungs-, Gewalt-, Trennungserfahrungen, Prostitution, weltanschauliche Gründe.
Fazit
Trotz einiger durchaus auch positiver Erfahrungen von Afrikanerinnen in Deutschland, muss aus der Studie doch ein überwiegend negatives Ergebnis herausgelesen werden: „Laut Aussagen der befragten Afrikanerinnen besitzen … nur sehr wenige (weiße) Deutsche die Sensibilität, Diskriminierungen nachzuempfinden“. Diese Eindrücke bestätigen im übrigen auch eine Reihe von anderen Studien zu Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Höherwertigkeitsvorstellungen und Diskriminierung in Deutschland. Dieses erschreckende Ergebnis lenkt den Blick auf einen notwendige Entwicklungs- und Veränderungsbedarf in der Gesellschaft, nämlich Antidiskriminierungs- und Integrationskompetenzen zu erwerben! Das aber ist eine familiale, schulische und außerschulische Bildungsherausforderung!
Die umfangreich und differenziert aufgewiesenen Antworten und Kommentare der Interviewpartnerinnen zu ihren Lebenssituationen und -erwartungen stellen einen echten Fundus von Quellenmaterialien dar, die in der sozialwissenschaftlichen Forschung, wie auch im zivilgesellschaftlichen Umgang mit Fremden genutzt werden sollten. Denn es kommt darauf an, einen individuellen und gesellschaftlichen Perspektivenwechsel zu vollziehen, wie ihn z. B. die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995) eindringlich gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausg., Bonn 1997, S. 18); und das zu verwirklichen, was in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 in der Präambel zuvorderst steht: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48).
Die im Anhang der Studie „Afrikanerinnen in Deutschland“ präsentierten, statistischen Ergebnisse der 262 Interviewpartnerinnen zu den 207 Fragen des Fragebogens (S. 275 – 364) stellen eine Fundgrube von Daten dar, die für die praktische Informations- und Integrationsarbeit, wie auch für die Forschung genutzt werden sollten.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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