Daniel Seddig: Soziale Wertorientierungen, Bindungen, Normakzeptanz und Jugenddelinquenz
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 10.02.2015
Daniel Seddig: Soziale Wertorientierungen, Bindungen, Normakzeptanz und Jugenddelinquenz. Ein soziologisch-integratives Erklärungsmodell.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2014.
312 Seiten.
ISBN 978-3-8309-3073-0.
D: 39,90 EUR,
A: 41,10 EUR,
CH: 53,90 sFr.
Kriminologie und Kriminalsoziologie, Bd. 13.
Thema
Die vorliegende Studie, von der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie 2013 als Dissertation angenommen, beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung jugendlicher Delinquenz aus kriminologiesoziologischer Perspektive. Daniel Seddig nähert sich dem Thema mit einem differenzierten Erklärungsansatz, der unterschiedliche theoretische Aspekte der ätiologischen Devianzsoziologie integriert, zu einem Analysemodell formuliert und durch empirische Forschung überprüft, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung beim Einfluss sozialer Wertorientierungen, Bindungen und deren Akzeptanz von Normen auf die Delinquenzentwicklung im Jugendalter liegt.
Autor
Daniel Seddig, Dr. phil. ist Assistent am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Studium der Soziologie und Promotion an der Universität Bielefeld. Zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Kriminalität in der modernen Stadt“ am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster.
Aufbau und Inhalt
Die Dissertationsschrift ist in neun Kapitel gegliedert, beinhaltet neben einer Einleitung zwei Grundlagenkapitel zu Theorien abweichenden Verhaltens und zum Themenkomplex Sozialstruktur, Werte und Normen, drei Kapitel zu Forschungsaufbau, Analysemodellen und zum analytischen Vorgehen, zwei Kapitel zur Darstellung der Auswertungsergebnisse und ein zusammenfassendes Kapitel mit Schlussfolgerungen und Ausblick.
Einleitung
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Kritik an eindimensionalen Erklärungsansätzen zur Entstehung kriminellen Verhaltens bei Jugendlichen, die vorwiegend auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale oder genetische Dispositionen abzielen. Seddig stellt dem die Möglichkeiten eines mehrdimensionalen, auf biologische, psychische und soziale Faktoren abzielenden Erklärungsmodells gegenüber, welche auch in den modernen Kriminologie- und Kriminalsoziologieschulen weit verbreitet sind und als integrative Erklärungsansätze diskutiert werden. Dem Autor geht es u. a. darum, dynamische Aspekte der Entwicklung von Delinquenz zu erfassen und zu beschreiben, also die Merkmale, welche durch Entwicklung und soziale Prozesse generiert werden, z. B. Wirkfaktoren der sozialen Kontrolle. Entsprechend benennt der Autor für sein Erklärungskonzept die Bereiche „individuelle Ebene“ (Persönlichkeit, Einstellung, Verhalten), „Sozialstruktur“ (soziale Schichtmerkmale, Milieus, Lebensstil, Sozialisationsinstanzen und die damit verbundenen sozialen Bindungen) und „soziale Kontrolle“ (justizielle Kontrollinterventionen). Gegenstand der folgenden Ausführungen sind die dynamischen Prozesse die sich im Zusammenwirken dieser Ebenen ergeben.
Theorien abweichenden Verhaltens
Kapitel zwei führt in die theoretischen Grundlagen gängiger devianzsoziologischer und sozialpsychologischer Erklärungsansätze zur Jugenddelinquenz ein. Erläutert werden u. a. die Anomie- und daraus weiter entwickelte Straintheorie, kontroll- und soziale lerntheoretische Ansätze, die soziale Bindungstheorie (Hirschi), Theorie der Selbstkontrolle (Gottfredson & Hirschi) und die aus diesen Ansätzen entwickelten Erklärungsansätze und integrativen Theorien, u. a. die Strain-Kontroll-Perspektive von Elliot, welche Bindungs- und Integrationsaspekte und Lernprozesse miteinander verbindet.
Sozialstruktur, Werte und Normen
In diesem Kapitel werden die Grundlagen für die kriminologisch relevante Unterscheidung verschiedener Ebenen sozialer Struktur erörtert. Seddig greift hier die zentrale Begriffe Sozialstruktur, Werte und Normen und deren theoretisch-wissenschaftliche Definition und Verwendung im Kontext der Kriminalsoziologie auf, um sie dann in makrosoziale (Gruppen, Familien, Milieus) und sozialstrukturelle Kontexte einzubetten. Der Autor führt hier in verschiedene vertikale Differenzierungsmodelle (Klasse, Stand, Schicht) und vertikale Betrachtungsansätze (kulturelle und normative Präferenzen, soziale Milieus, Lebensstil) ein, wobei die zugrunde liegende Bezugsliteratur (u. a. Marx, Bourdieu) überblicksartig zusammengefasst und in Bezug zur kriminalsoziologischen Fragestellung gesetzt wird. Im Sinn einer Ordnung werden mit Rückgriff auf Typenbildungen bei Wippermann und Calbach (2007) verschiedene Jugendmilieus formuliert, deren typische Ziele, Charakteristika, Bildungsniveaus und Grundorientierungen (z. B. „Konsum-Materialisten“, „Traditionelle“ oder „Moderne Performer“) dargestellt werden.
In drei Abschnitten wird dann ausführlich auf den Aufbau der Studie eingegangen, indem die forschungsleitenden Hypothesen, die Struktur der verwendeten Daten (welche aus dem mit DFG-Mittel geförderten Forschungsprojekt „Kriminalität in der modernen Stadt“ übernommen wurden) und die Analysemethoden der Studie (Quer- und Längsschnittanalysen anhand exploratorischer Faktorenanalyse, autoregressive Markovmodelle, latente Wachstumsmodelle etc.) erläutert werden. Für den Rahmen dieser Rezension erscheinen die sechs formulierten forschungsleitenden Hypothesen relevant: „1. Soziale Wertorientierungen wirken indirekt auf delinquentes Verhalten, indem sie die Bindungen an unterschiedliche Sozialisationsinstanzen sowie die Akzeptanz von Normen direkt beeinflussen. … 2. Bindungen an unterschiedliche Sozialisationsinstanzen beeinflussen direkt die Akzeptanz von Normen sowie das Verhalten. … 3. Die Akzeptanz von Normen beeinflusst direkt das Verhalten. 4. Soziale Wertorientierungen als distale, strukturbasierte Erklärungsfaktoren und soziale Bindungen weisen während der Adoleszenz im Vergleich zu der direkt mit dem Verhalten assoziierten proximalen Normakzeptanz eine höhere Stabilität auf. …5. Hinsichtlich der Bedeutung einzelner Erklärungsfaktoren ist im Verlauf der Adoleszenz eine Veränderung der postulierten Erklärungsstruktur zu erwarten. … 6. Insbesondere zwischen den Erklärungsfaktoren der Bindungs-, Norm- und Verhaltensebene bestehen reziproke Beziehungen, die auf ein System gegenseitiger delinquenzrelevanter Bekräftigung und Kommunikation hindeuten.“ Ausführlich wird hier auch auf die Operationalisierung der untersuchten theoretischen Dimensionen (z. B. „Wertorientierung“, „Bindung an die Eltern“ etc.) eingegangen.
Befunde und Analysen
Die Kapitel sieben und acht beinhalten die äußerst detaillierte und gut protokollierte Darstellung der Befunde, sowie die Analysen im Quer- und Längsschnitt. Seddig stellt hier umfangreiches Material aus den statistischen Analysen zur Verfügung, welche einen Einblick in die Struktur der verwendeten Variablen und deren Ausmaß erlauben.
Das abschließende neunte Kapitel fasst die zuvor ausführlich dargestellten Forschungsergebnisse zusammen, wobei die eingangs formulierten Hypothesen hinsichtlich ihrer Bewährung diskutiert werden. Seddig stellt u. a. folgendes dar:
- Die Wertorientierung Tradition/Konformität steht mit starken Bindungen an die Schule und empathische Eltern, sowie schwachen Bindungen an delinquente Peers in Verbindung.
- Die Bindung an empathische Eltern beeinflusst positiv die Akzeptanz konventioneller und negativ die Akzeptanz gewaltbefürwortender Normen. Ähnliche Effekte bestehen bezüglich einer engen Schulbindung.
- Die Akzeptanz sowohl konventioneller als auch gewaltbefürwortender Normen wirkt jeweils direkt verhaltensrelevant und damit als delinquenzfördernd, bzw. -verhindernd.
- Soziale Wertorientierungen als distale, strukturbasierte Erklärungsfaktoren und soziale Bindungen weisen während der Adoleszenz im Vergleich zu der direkt mit dem Verhalten assoziierten proximalen Normakzeptanz eine höhere Stabilität auf.
- Die Bedeutung der Bindung an soziale Strukturen (z.B. Schule) für die Wertorientierung nimmt im Längsschnittverlauf zunächst ab, später wieder dezent zu (meist im Übergang von Schule zu Berufsausbildung).
- Zwischen den Erklärungsfaktoren der Bindungs-, Norm- und Verhaltensebene bestehen reziproke Beziehungen, die auf ein System gegenseitiger delinquenzrelevanter Bekräftigung und Kommunikation hindeuten.
Insgesamt, so schlussfolgert Seddig, ergeben sich durch die Bindung an intakte Sozialisationsinstanzen wie Schule und Elternhaus starke Effekte für die Wertorientierung und die Ausbildung eines sozial normativen Verhaltens. Je brüchiger diese Bindungen und je intensiver die Bindungen an dysfunktionale Peers mit fehlender Norm- und Wertorientierung bestehen, desto stärker wird der Einfluss auf die Delinquenzentwicklung. Diese Zusammenschau der umfangreichen Datenanalysen beschreibt Seddig zusammenfassend als „Pfad in die Konformität“, bzw. als „Pfad in die Gewaltdelinquenz“ (263).
Zielgruppe
Fachkräfte der (angewandten) Sozialwissenschaften, (Sozial)psychologie, Pädagogik, Kriminologie und der Rechtswissenschaften, die an differenzierten Erklärungsansätzen zur Entstehung der Jugendkriminalität interessiert sind. Aufgrund der umfangreichen Darstellung statistischer Analysen und Berichte empfiehlt sich das Werk weniger für Studienanfänger der genannten Disziplinen.
Diskussion
Die Studie fokussiert auf den Zusammenhang zwischen sozialer Wertorientierung, sozialen Bindungen und der Akzeptanz von Werten und Normen auf die Entstehung und Entwicklung delinquenten Verhalten im Jugendalter. Damit liegt ein weiterer Beitrag zu Differenzierung der Ausformulierung Kriminologie-ätiologischer Ansätze vor, eine fruchtbare Entwicklung, die in letzter Zeit eine Reihe unterschiedlicher Modelle und Theorieansätze in die Diskussion um die Entstehung von (Jugend)delinquenz erbrachte (vgl. die Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/17449.php oder www.socialnet.de/rezensionen/17031.php). Der hier verwendete Forschungsansatz zielt auf psycho-soziale Aspekte der Delinquenzgenese, indem der Hintergrund zwischen sozialer Einbettung (Bindung) in verlässliche Sozialisationsinstanzen, die damit zusammenhängende Orientierung an deren Werte und Normen und der Einfluss dysfunktionaler Peers hinterfragt wird. Die aus der Pädagogik, Entwicklungs- und Sozialpsychologie bekannten Erklärungsansätze erfahren hier eine datenbasierte Grundlage, die hinsichtlich Datenbreite und -dichte, als auch Analyseumfang überzeugt. Auch wenn die dadurch generierten Erklärungsansätze nicht neu sind, ergibt sich ein differenzierter Blick auf den Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und Aspekten der Persönlichkeit, bzw. Persönlichkeitsentwicklung. Spannend wäre gewesen die Rolle der in der Studie benannten Sozialisationsinstanzen hinsichtlich möglicher Ansätze für Förderung, Entwicklung und Prävention zu hinterfragen und zu konzeptionieren, was allerdings nicht der Gegenstand dieser rein soziologischen Studienarbeit war. Umso mehr ist der Studie die notwendige Aufmerksamkeit in den angrenzenden (handlungs)wissenschaftlichen Disziplinen zu wünschen.
Fazit
Eine bemerkenswert dichte und sehr gut protokollierte Studie, die psycho-soziale Aspekte des Zusammenhangs zwischen Person und sozialer Umgebung auf die Entstehung von Jugenddelinquenz belegt und damit die empirische Grundlage für Präventionskonzepte in diesem Bereich liefert.
Literatur
- Wippermann, C. & Calmbach, M. (2007). Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U27. Düsseldorf
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 10.02.2015 zu:
Daniel Seddig: Soziale Wertorientierungen, Bindungen, Normakzeptanz und Jugenddelinquenz. Ein soziologisch-integratives Erklärungsmodell. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2014.
ISBN 978-3-8309-3073-0.
Kriminologie und Kriminalsoziologie, Bd. 13.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17220.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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