Jim Holt: Gibt es alles oder nichts?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.08.2014

Jim Holt: Gibt es alles oder nichts? Eine philosophische Detektivgeschichte. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2014. 448 Seiten. ISBN 978-3-498-02813-8. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.
Ist die ultimative „Warum“ – Frage zu beantworten?
Wer mit sich und der Welt nicht zufrieden ist, muss philosophieren; wem wohl ist, erst recht; und gar, wer Phantasie entwickeln will! Man muss entweder Metaphysiker, also Philosoph sein, oder ein Kind, die sich die Frage zu stellen trauen: „Warum ist etwas und nicht nichts?“. Ob dabei eine Mauer blockt, oder eine Brücke lockt, hängt entscheidend davon ab, wie das Individuum im Frage stellen und im In-Frage-stellen geübt, geschult und frei ist. Nicht selten sind philosophische, weil existentielle Fragen möglich oder nicht möglich wegen festgelegten und mit gegebenen Weltanschauungen, Ideologien und Werte-Einstellungen. Vielfach herrscht die Überzeugung vor, dass „Warum“-Fragen entweder verboten und gefährlich, oder sowieso unnötig sind. Der konsequent Gläubige etwa ist überzeugt, dass es das Nichts nicht gibt, weil Gott Alles erschaffen hat; während für den konsequenten Atheisten die Frage wertlos und von daher abstrus und sinnlos ist.
„Warum“-Fragen sind vertrackte Neugier. Wenn jemand die Frage stellt – „Wer bin ich?“ – vielleicht sogar mit dem rückbezüglichen Hintergedanken nach dem „Wenn ja, wie viele?“, und dabei die abendländischen Traditionen der Kantischen Fragen – „Was kann ich wissen?“ „Was soll ich tun?“ „Was darf ich hoffen?“ bemüht, begibt er sich zwar auf eine „philosophische Reise“ (Richard David Precht, Wer bin ich – und wenn ja wie viele? 2007, www.socialnet.de/rezensionen/9462.php); er entgeht dabei aber nicht der Falle, die der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster mit der Feststellung bedenkt: „Sage mir etwas über den Ursprung des Universums, und ich sage dir, wer du bist!“ (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php); oder dem Dilemma, dass die Wahrheits(suche) eine Form des risikoreichen Lebens ist (Peter Brüger / Jörg Lau, Hrsg., Sag die Wahrheit! Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind, MERKUR. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken hrsg. von Karl Heinz Bohrer und Kurz Scheel, Heft 9/10, September/Oktober 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12494.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Die Frage nach der menschlichen Existenz und den Urgründen seines universalen Daseins ist ein „brut fact“. Es ist der humanen Verstandesfähigkeit geschuldet, für Zustände, Dinge und Wirklichkeiten eine Erklärung zu finden, zumindest aber eine Frage danach zu stellen. Die aristotelische Frage nach den Ursachen – „Zu wissen glauben (wir), wann immer wir die Ursachen wissen“ – hat ja mit der Warum-Frage zu tun, was bedeutet, dass die Anzahl der Arten von Ursachen „dieselbe Anzahl wie die der Bedeutungen (ist), die die Frage nach dem Warum anzunehmen vermag“ (U. Nortmann, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 15ff). Wenn wir bei dieser Suche danach fragen, was uns die Philosophie und die Philosophen dabei zu sagen haben, kommen wir zu der Feststellung, dass Philosophie als Kultur der Nachdenklichkeit zu bezeichnen ist ( Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13290.php).
Der US-amerikanische Autor und Essayist Jim Holt hat 2012 das Buch „Why Does the World Exist? An Existential Detective Story“ veröffentlicht, das sofort nach Erscheinen auf der Bestsellerliste der „New York Times“ landete und sowohl bei der philosophisch geschulten Leserschaft, wie in der breiten Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit fand. Der Rowohlt-Verlag legt nun die deutsche Übersetzung des Buches durch Hainer Kober vor. Auch hier fand die „Tour d´Horizon über das Rätsel der Existenz… als unterhaltsame Mischung aus Philosophie und Naturwissenschaften, Reisereportage und persönlichem Erfahrungsbericht“ bald Beachtung (z. B.: Hannes Stein, „Wie gibt´s denn so was?“, DIE WELT, 12.07.2014, S. 3).
Aufbau und Inhalt
Es ist die „Leichtigkeit des Seins“, die nur durch Neugier und Frage-Bereitschaft entstehen kann, ohne banal und unglaubwürdig zu werden, die Jim Holt zu der Feststellung veranlasst, „dass etwas sein muss und nicht nichts sein kann“. Bereits als Prolog seines Nachdenkens über die Frage „Gibt es alles oder nichts?“ argumentiert er geradezu entwaffnend und naiv anmutend: „Nehmen Sie an, es gebe nichts. Dann gäbe es keine Gesetze; denn Gesetze sind schließlich etwas. Gäbe es keine Gesetze, wäre alles erlaubt. Wäre alles erlaubt, wäre nichts verboten. Wenn es also nichts gäbe, wäre nichts verboten. Also schließt nichts sich selbst aus. Folglich muss es etwas geben“. Es sind die aus dem Alltag, aus wissenschaftlichen Forschungen und dem Nachdenken über das menschliche Denken und Mühen um die Frage nach dem Existentiellen beinahe mit Leichtigkeit hergeholten Kausal- und Umkehrschlüsse, die der Autor gewissermaßen in 14 Schritten formuliert und zwischendurch unterbricht oder auflockert durch Gedanken, die er als „Zwischenspiel“ bezeichnet und in denen er den wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs aus den Sphären des Theoretischen auf die Erde herunter holt; etwa, wenn er darüber spekuliert, ob unsere Welt von einem Hacker geschaffen worden sei, „dem einfach danach zumute war“. Sein populär formulierter Überblick über das intellektuelle Bemühen, dem „Nichts“ auf die Spur zu kommen. Natürlich findet er dabei keine allgemeingültige, alleinige Antwort (denn das wäre doch eigentlich ganz und gar unphilosophisch und zudem ideologisch); vielmehr schlüsselt er den aktuellen Diskurs um die Brute fact – Frage auf, indem er feststellt, dass die „denkende Zunft“ sich in drei Lager aufteilt: „Die ‚Optimisten‘ vertreten die Ansicht, dass es einen Grund für die Existenz der Welt geben müsse und wir sehr wohl in der Lage seien, ihn zu entdecken. Die „Pessimisten“ glauben, dass es einen Grund für die Existenz der Welt geben könnte, aber dass wir ihn nie mit Sicherheit erkennen würden… Und schließlich die ‚Verweigerer‘, die hartnäckig dabei bleiben, dass es keinen Grund für die Existenz der Welt geben könne und dass daher schon die Frage selbst sinnlos sei“.
Ohne dass sich Jim Holt von vornherein einer Auffassung anschließt, nimmt er die kontroversen Meinungen, um in einer wirklich unterhaltsamen Weise eine „kurze Geschichte des Nichts“ zu erzählen und dabei sowohl hoch intellektuelle und wissenschaftliche Argumentationen diskutiert, als auch Beispiele aus den Volksweisheiten, Märchen und Sagen anführt. Seine Schilderungen über seine Auseinandersetzungen mit dem „große(n) Verweigerer“, dem Philosophen und Religionskritiker Adolf Grünbaum, lassen sich als intelligentes, durchaus psychisch schmerzhaftes und argumentatives Exempel lesen, die Fragen nach dem „Nichts“ nicht mir Resignation, sondern mit der hoffnungsvollen Aussicht einer „Spontaneität des Nichts“ zu beantworten.
Die Fragen nach Endlichkeit oder Unendlichkeit des Kosmischen konfrontieren zwangsläufig mit den großen Denkern; etwa mit Leibnitz, Sartre, wie auch mit lebenden Kritikern, wie etwa Richard Dawkins (Der Gotteswahn, Berlin 2007, Berliner Literaturkritik, Jos Schnurer); oder Richard Swingurne, der mit seiner Theorie feststellt, „dass die einfachste Erklärung höchstwahrscheinlich auch wahr ist“, ein geradezu einfacher Satz, der zum Widerspruch und zur Auseinandersetzung herausfordert. Und der zu Behauptungen führt, dass „das Erklärbare grenzenlos wäre“, was wiederum sowohl metaphysisch als auch quantentheoretisch als „Quantenmultiversum“ zu erklären wäre. Wie in einem Kaleidoskop bringt Jim Holt Denker, Behaupter und Spekulierer ins Bild, die ihm mit ihren Meinungen versichern und verunsichern. Es sind diejenigen, die „Eine Welt“ erkennen, und die anderen, die „Viele-Welt-Hypothesen“ aufstellen.
In diesem Wirrwarr und multiversen Spekulationen und Beweisführungen kommen Zweifel auf, ob naturwissenschaftliche Denkzugänge überhaupt sinnvoll und nützlich sein können, und ob uns antike und aktuelle philosophische Gedanken weiter helfen. Was ist mit der (platonischen und aristotelischen) Logik? Oder sind wir alle „Mathematiker“? Da stellen sich zwangsläufig Fragen nach der „Wirklichkeit“ und dem, was wir für „Wirklichkeiten“ halten oder konstruieren. Das Denk-Abenteuer endet längst nicht bei den Provokationen von einst, die sich (möglicherweise) als Gewissheiten von heute darstellen (Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php); es stellt sich dabei auch die Frage, ob „der fundamentale Stoff der Wirklichkeit Geiststoff ist“ und sich als „Panpsychismus“ darstellt und von Spekulativem durchzogen ist.
Die Gedankenexperimente um naturwissenschaftliche, ethische und spekulative (Er-)Klärungsversuche landen immer wieder bei Denkern, die über „Das Sein und das Nichts“ (Sartre) nachgedacht haben, und bei Hegel, der formulierte: „Das reine Sein macht den Anfang“ und damit ein philosophisches Fundament für die Unruhe legt, die notwendig ist, um das „Nichts“ denken zu können. Hier kommen die Methoden und Gewohnheiten ins Spiel, die Denken möglich machen. Bei unserer Fragestellung ist es zum einen die traditionelle Frage: „Warum ist die Welt und wie ist sie? Es kommt also zuerst die „Warum“ – Frage. Wie wäre es denn, würde man die Reihenfolge verändern und zuerst die „Wie“ – Frage stellen, um zum „Warum“ zu kommen? Ein faszinierender Denkversuch, den der englische Philosoph Derek Parfit unternimmt und seine Theorie von den „Alle-Welten-Möglichkeiten“ propagiert und seinen „Selektor“ ins Spiel bringt. Die Aufregung steigert sich: „Wenn Einfachheit die letzte Erklärung der Dinge wäre, würde dies auch zeigen, warum der tatsächliche Kosmos so enttäuschend durchschnittlich erscheint: eine indifferente Mischung aus Gut und Böse, Schönheit und Hässlichkeit, Kausalordnung und zufälligem Chaos, unbegreiflich groß, aber doch weit hinter der ganzen Fülle möglichen Seins zurückbleibend“.
Holts Erinnerungen an das Gespräch, das er während seiner Recherchen zum Buch mit dem US-amerikanischen Schriftsteller John Hoyer Updike wenige Monate vor seinem Tod (2009) geführt hat, und der vorab bekannte: „Eigentlich habe ich keinen Schimmer; aber wer liebt das Universum nicht?“, zeigen eine weitere Variante des Denkens über das Nichts: Die Wirklichkeit ist kein „kleiner Fleck auf nichts“. Das Spekulative verbindet sich mit dem real Existierenden; und dadurch wird die Frage nach dem Selbst sogar einfacher, nämlich dass sich „die Existenz dieses Kosmos ( ) sich vollständig nur durch die Annahme erklären (lässt), dass er in jeder Hinsicht durchschnittlich ist“. Für Phantasten mag dies eine unbefriedigende Erklärung sein; für Idealisten wie für Realisten aber kann es hilfreich sein, sich eine Welt mit mir und ohne mich vorzustellen und zu begreifen, „dass die Welt in den unendlichen Zeiträumen bis zu dem unwahrscheinlichen Augenblick, da ich unverhofft zum Leben erwachte, ganz wunderbar zurechtkam und dass ihr das auch weiterhin gelingen wird, wenn der unausweichliche Moment kommt, da ich in diese Nacht zurückkehre“.
Diese Weisheit kann dazu beitragen, nicht der Illusion der „Unsterblichkeit“ zu verfallen, sondern die eigene Endlichkeit als eine Tatsache zu begreifen. Die rührende Schilderung Holts über seine Gefühle, die er beim Sterben seiner Mutter erlebte, klingen für diejenigen, die Sterbens-Erlebnisse bei Angehörigen und Freunden nicht erleben, beinahe kitschig: „Ich würde mit meinen Eltern erst wiedervereint werden, wenn auch ich in das Nichts eingegangen war, das sie bereits aufgenommen hatte. Denn das ist in Wahrheit unsere ewige Heimat“. Wer aber Sterben von lieben Menschen erlebt hat, kann sich darin bestätigt fühlen.
Fazit
In einer Fernsehsendung unterhält sich der französische Fernsehmoderator Bernard Pivot mit einem Dominikanerpater, einem Physiktheoretiker und einem buddhistischen Mönch über die Leibnitzsche Frage: Pourquoi y-a-t-il quelque chose plutôt que rien?“ – Warum ist etwas und nicht nichts? Der Kleriker äußert natürlich, dass die Wirklichkeit göttlichen Ursprungs sei; der Physiker erläutert forsch, dass sich die Existenz des Universums rein zufällig vorhandenen Quantenfluktuationen verdanke. Der Buddhist lächelt und sagt mit sanfter Stimme, er glaube, dass das Universum keinen Beginn habe, denn ein Nichts könne niemals Sein hervorbringen. Mit dem buddhistischen Pfad der Erleuchtung könne es Menschen gelingen, dem Rätsel des Seins auf die Spur zu kommen. Mit diesen Widersprüchen beendet Jim Holt sein Buch. Er hat keine Antwort auf die Frage „Gibt es Alles oder Nichts?“ gegeben; wer hätte das auch erwartet! Vielmehr findet er die Definition in Anbrose Bierce´s „Des Teufels Wörterbuch“ bestätigt: Philosophie ist eine Route aus vielen Straßen, die von nirgendwo nach nichts führen!
Damit aber drückt er nicht NICHTS aus; vielmehr verhilft er den Lesern zu einer Reihe von Erkenntnissen, die sein eigenes Philosophieren zu einem lustvollen, intellektuellen und zudem hoffnungsvollen Unterfangen machen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 11.08.2014 zu:
Jim Holt: Gibt es alles oder nichts? Eine philosophische Detektivgeschichte. Rowohlt Verlag
(Reinbek) 2014.
ISBN 978-3-498-02813-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17222.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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