Marianne Leuzinger-Bohleber, Heinz Weiß: Psychoanalyse - die Lehre vom Unbewussten
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff, 18.09.2014

Marianne Leuzinger-Bohleber, Heinz Weiß: Psychoanalyse - die Lehre vom Unbewussten. Geschichte, Klinik und Praxis. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2014. 230 Seiten. ISBN 978-3-17-022322-6. 24,99 EUR.
Einführende Vorbemerkung
Das Buch „Psychoanalyse – die Lehre vom Unbewussten“ ist in der Reihe „Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Klinische Erfahrungen, Theorie, Forschung, Anwendungen“ erschienen. In dieser Buchreihe sollen „die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemein verständlich dargestellt werden“ (S. 5). Grundsätzlich stellt sich die Frage, wozu ein weiteres Buch zur Bedeutung der Lehre vom Unbewussten verfasst werden muss; dazu gibt es seit den ersten freudschen Formulierungen hunderte von Veröffentlichungen.
Leuzinger-Bohleber und Weiß formulieren zu dieser Frage zum einen das Ziel, „Studierenden, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, aber auch einer interessierten fachfremden Leserschaft Einblicke in aktuelle Kontroversen um dieses zentrale Konzept der Psychoanalyse zu vermitteln“ (S. 11). Dabei sollen die Diskurse, wie sie in den letzten Jahren geführt wurden und die zu einem „Theorienpluralismus“ geführt haben, ebenso aufgegriffen werden wie „Entwicklungen in anderen psychoanalytischen Fachgesellschaften (wie z. B. der Jungianischen oder Adlerianischen Psychoanalyse)“ (ebd.) dargelegt werden.
Die Erforschung des Unbewussten wird dabei nicht nur als wesentlicher Kern, sondern als „Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse“ betrachtet (S. 17). Freud hat „mit seiner Entdeckung des ´dynamischen Unbewussten’ zur dritten großen Kränkung der Menschheit [nach dem kopernikanischen Weltbild und den Entdeckungen von Darwin, der Verfasser] beigetragen“ (S. 18).
Dabei verfolgt das Buch insbesondere den Anspruch, die verschiedenen psychoanalytischen methodischen und erkenntnistheoretischen Diskurse darzustellen, aber auch den „interdisziplinären Dialog mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen [zu suchen]…, um sich der Besonderheit der eigenen Forschungsmethoden und -erkenntnisse bewusst zu werden und diese offensiv zu vertreten“ (S.35). Die plurale Vielfalt der bestehenden psychoanalytischen Theorien zum Unbewussten soll als besondere Chance gesehen werden, die eigene Wissenschaft weiterzuentwickeln – dieser intra- und interdisziplinäre Anspruch wird auch besonders betont: „Ansonsten bekommt die Zugehörigkeit zu der psychoanalytischen Gemeinschaft Züge einer religiösen Glaubensgemeinschaft, eine Gefahr, die immer wieder in der Geschichte der Psychoanalyse … zu beobachten war“ (S. 24).
Positiv hervorzuheben ist vorab, dass das Buch grundsätzlich als Lehrbuch konzipiert ist. So werden in jedem Kapitel Lernziele vorangestellt. Es wird weiterführende Literatur empfohlen und es erfolgen mehrfach sinnvolle Zusammenfassungen und Zusammenführungen; diese didaktische Aufbereitung ist sinnvoll und gelungen.
In dieser Vorbemerkung sei erwähnt, dass die Rezension des Buches von einem Autor erfolgt, der selber eine psychoanalytische Ausbildung in einem Adlerianischen Institut durchlaufen hat, viele Jahre praktisch-psychotherapeutisch tätig war und als klinischer Psychologe und Entwicklungspsychologe deutlich eine über den Einzelfall hinausgehende empirische Fundierung psychotherapeutischer Konzepte und Methoden fordert.
Aufbau und Inhalt
Grundsätzlich ist das Buch in zwei Hauptteile gegliedert, die auch jeweils von den beiden AutorInnen verfasst wurden.
Teil 1 von Marianne Leuzinger-Bohleber – Leiterin des Sigmund-Freud-Instituts und Professorin an der Universität Kassel – befasst sich mit Konzepten und Kontroversen zum Unbewussten in der pluralen, internationalen Psychoanalyse. Dieses Kapitel wird eingeleitet von einem Überblick zum Thema „Das Unbewusste im Kaleidoskop des Theorienpluralismus der heutigen Psychoanalyse“ (S. 43). Dazu stellt die Autorin zunächst ausführlicher ein gut nachvollziehbares Fallbeispiel dar. Dabei werden deutlich das einfühlsame Vorgehen der Analytikerin und vor allem die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Gegenübertragungsprozessen dargestellt. Leuzinger-Bohleber zeigt hier mehrfach, dass die Gegenübertragungsgefühle nicht nur ausschließlich durch die von der Patientin präsentierten Inhalte geprägt sind, sondern auch verwoben werden mit eigenen Anteilen. Es gelingt der Autorin, diesen Prozess der (Selbst-)Auseinandersetzung und der hilfreichen Beziehungsgestaltung im therapeutisch-analytischen Prozess mit der Patientin sorgfältig und nachvollziehbar darzulegen.
Im Folgenden referiert Leuzinger-Bohleber dann in Form einer Übersicht die Bedeutung des Unbewussten in verschiedenen theoretischen Konzeptionen: der klassischen Ich-Psychologie, den verschiedenen Objekt-Beziehungstheorien und der psychoanalytischen Selbstpsychologie. Nach einer Zwischenbilanz werden Bezüge zu empirischen Erkenntnissen aus der Säuglings-, Bindungs-, Mentalisierungs- und Genderforschung hergestellt und damit der Bogen geschlagen zu neuen aktuellen und mit anderen empirischen Zugängen gewonnenen Erkenntnissen. Auch wenn manche theoretische und empirische Ansätze etwas bruchlos nebeneinander zu stehen scheinen – beispielsweise das Nebeneinander von Melanie Kleins Konzeptionalisierungen der Ich-Entwicklung und den entwicklungspsychologisch fundierten Konzepten von Daniel Stern – ist dieser Teil von großer Stringenz getragen. Es werden insbesondere die Chancen einer breiteren Herangehensweise an „das Unbewusste“ im Sinne des von der Autorin beschriebenen Kaleidoskops ersichtlich.
Zusammenfassend löst die Autorin den eigenen Anspruch, nämlich warum ein „Umgang mit unterschiedlichen theoretischen Perspektiven für das Verständnis unbewusster Phantasien und Konflikte in komplexen klinischen Situationen (oder früher Entwicklungsprozesse) als fruchtbar erachtet“ wird, ein (S. 101). Leuzinger-Bohleber arbeitet auch die Gemeinsamkeiten dieser verschiedenen Therapieansätze heraus. Das sind zum einen die „Bedeutung der klinisch-psychoanalytischen ´Feldforschung’ in den intensiven psychoanalytischen Behandlungen“ (S. 101) und zum anderen die „hohe Relevanz früher Beziehungserfahrungen für die Entwicklung einer basalen Affekt- und Impulsregulation für geschlechtsspezifische (Selbst-) Identität, Beziehungsfähigkeit, kreativer, kognitiver und affektiver Problemlösungsprozesse und psychosomatischer, psychosozialer und psychischer Gesundheit“ (S. 101f).
Im zweiten Hauptteil stellt Heinz Weiß – Chefarzt der Abteilung für psychosomatische Medizin am Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart und kommissarischer Leiter des medizinischen Fachbereichs am Sigmund-Freud-Institut – „Konzeptualisierungen des Unbewussten in der Weiterentwicklung der Theorien Freuds“ (S. 110) im Sinne vertiefender Überlegungen vor.
Weiß referiert dazu systematisch zum einen die „Rezeption des Unbewussten in den Sozial- und Geisteswissenschaften“ (Kap. 4), zum anderen stellt er unterschiedliche „Konzeptualisierungen des Unbewussten“ (Lacan, Klein, Segal, Winnicott, Bion, Green und Loch) vor. Diese Kapitel sind sehr unterschiedlich differenziert. Teilweise werden sehr viele, vor allem philosophische, Ansätze in Beziehung gesetzt ohne diese tiefergehend zu erläutern – dies erfordert ein hohes Grund- bzw. Vorwissen des oder der LeserIn, das sicherlich nicht immer vorausgesetzt werden kann.
Bei den „Vertiefungen“ begrenzt sich Weiß ausschließlich auf psychoanalytische Ansätze in der Nachfolge Freuds. Es werden eben keine Bezüge zu (empirischen) Konzepten, Theoriebildungen oder empirischen Erkenntnissen aus anderen psychoanalytischen Denkrichtungen oder außeranalytischen Forschungstraditionen herangezogen. Dieser Teil des Buches hat eine Bedeutung für Leserinnen und Leser, die sich mit der Geschichte der psychoanalytischen Theoriebildung auseinandersetzen wollen.
Weiß vertieft dann „Überlegungen zur psychoanalytischen Behandlungstechnik“ anhand des erweiterten Verständnisses der Gegenübertragung „als Wahrnehmungsorgan für unbewusste Prozesse“ (S. 158ff) und der Theorie des Enactments (S. 163ff). Das Kapitel schließt mit einem klinischen Beispiel, „Einblick in die behandlungstechnischen Schwierigkeiten einer Psychoanalyse“ (S. 179). Dieses Beispiel wird umfassend dargestellt. Deutlich werden auch die potentiellen Verstrickungen durch die Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse. Allerdings fehlt diesem Kapitel der Blick auf den analytischen Prozess im Sinne eines Kaleidoskops und auch die Selbstreflexivität, wie sie im Behandlungsbeispiel von Leuzinger-Bohleber dargelegt wird.
Diskussion
Das Buch gibt einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Theoriebildung in der freudianischen Psychoanalyse, fokussiert auf die Konzepte des Unbewussten und seiner Entstehung sowie deren Bedeutung für den therapeutischen Prozess. Dabei werden – zum Teil in beiden Hauptteilen leider wiederholt – die Entwicklung vom Triebkonzept zu einer sich als interpersonal begreifenden Psychoanalyse deutlich.
Während im ersten Teil versucht wird, die verschiedenen theoretischen Ansätze miteinander in Verbindung zu bringen und zumindest ansatzweise das von den AutorInnen dargestellte „Kaleidoskop“ mit Blick auf den therapeutisch-analytischen Prozess zu realisieren, bleiben im zweiten Teil diese Ansätze weitestgehend nebeneinander stehen. Hilfreich ist insbesondere das erste ausführliche Beispiel einer psychoanalytischen Behandlung von Leuzinger-Bohleber. Im zweiten Beispiel von Weiß wird der Anspruch eines erweiterten Blicks auf den therapeutischen Prozess nur rudimentär eingelöst. Dieses Fallbeispiel ist – unter einem theorieübergreifenden Blick – unterkomplex bearbeitet. So wäre es unbedingt nötig gewesen, moderne traumatherapeutische Konzepte (die auch aus psychoanalytischer Sicht formuliert sind, z. B. Sachsse) zu berücksichtigen. Ebenso wird ein möglicher Blick auf das Störungsbild unter der Perspektive einer dissoziativen Störung nicht realisiert.
Der deutlich formulierte Anspruch einer interdisziplinären und auch über die freudianische Psychoanalyse hinausweisenden Betrachtung des Gegenstandes des Unbewussten wird gleichfalls nur rudimentär eingelöst. Die aufgeführten Autorinnen und Autoren und auch der entsprechende Diskurs beziehen sich ausschließlich auf VertreterInnen der freudianischen Theoriebildung. Andere Ansätze, zum Beispiel Adlerianische oder Jungianische oder auch darüber hinausgehende Konzepte werden nur gestreift bzw. in der Regel überhaupt nicht berücksichtigt.
Einen guten Ansatz stellt der Bezug zur Schlafforschung dar (Kap. 5), der aber nicht ausgeweitet wird. Über die Analyse hinaus hätten bspw. die empirisch fundierten Erkenntnisse von Daniel Stern zur Selbstentwicklung vertiefter aufgegriffen werden können als dies der Fall ist. Ebenso bieten die moderne Gedächtnis- bzw. Informationsverarbeitungstheorie (und entsprechende Forschung) wichtige Ansatzpunkte, die gut in Bezug zu den Konzeptualisierungen des Unbewussten hätten gesetzt werden können.
Besonders kritisch ist auch zu sehen, dass Systematisierungen im Sinne beziehungsanalytischer Ansätze nicht weiter berücksichtigt werden (z. B. Bauriedl). Besonders in der Betrachtung der Fallbeispiele wird deutlich, dass ein wesentliches Element psychotherapeutischer und besonders psychoanalytischer Praxis, das reflektierte Anbieten ‚korrigierender emotionaler Beziehungserfahrungen‘ – in Sinne von French und Alexander bzw. Cremerius – darstellt. Dieser Begriff taucht im gesamten Buch nicht auf, genauso wie die schon 1979 von Cremerius gestellte Frage: „Gibt es zwei psychoanalytische Theorien“, die zur gewandelten Bedeutung des Konzepts der Gegenübertragung führte.
Ebenso wird insbesondere bei der Betrachtung des zweiten Behandlungsbeispiels nicht auf moderne traumatherapeutische Konzepte und deren entsprechende empirische Fundierungen zurückgegriffen. Die Erkenntnisse von Huber, von Sachsse oder auch Reddemann gehen grundlegend von psychodynamischen Ausgangsüberlegungen aus und wären gut kompatibel zu den dargestellten Fällen gewesen.
Das Unbewusste manifestiert sich vor der Symbolisierungsfähigkeit in Form von Sprache in nichtsprachlichen Elementen, insbesondere auch durch frühe Körpererfahrungen. Auch hier gibt es sehr fundierte Konzeptualisierungen (z. B. von Heisterkamp), die in dem Band leider keine Erwähnung finden.
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Grenzen der freudianisch-psychoanalytischen Theoriebildung leider nicht überwunden wurden und daher die Gefahr des Sich-Befassens mit der eigenen Religion nicht gebannt wurde.
Fazit
Wie erwähnt, ist das Werk von Leuzinger-Bohleber und Weiß ein sinnvolles Lehrbuch, dass die Entwicklung freudianisch-psychoanalytischer Theoriebildung der letzten Jahrzehnte referiert. Hilfreich auch für die Betrachtung moderner psychoanalytischer Behandlungstechnik ist insbesondere der erste Teil. Der Anspruch einer stärker interdisziplinären Betrachtung, des Brückenschlagens zu anderen empirischen und theoretischen Konzepten, wird nur an wenigen Stellen eingelöst. Dennoch ist das Buch für Lernende und PraktikerInnen zu empfehlen, die ein Interesse an diesem Prozess der freudianisch-analytischen Theoriebildung haben und eigene (Be)Handlungsoptionen hier verorten wollen.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff
Ehem. hauptamtlicher Dozent für Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der EH Freiburg. Approbation als Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Abgeschlossene Ausbildungen in Psychoanalyse (DGIP, DGPT), Personzentrierter Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (GwG), Gesprächspsychotherapie (GwG). Supervisor bzw. Dozent/Ausbilder bei verschiedenen Psychotherapie-Ausbildungsstätten. Gemeinsam mit Prof. Dr. Dörte Weltzien und Prof. Dr. Maike Rönnau-Böse Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung an der EH Freiburg; Forschung im Bereich Jugendhilfe, Pädagogik der Kindheit, Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen.
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