Markus Wochnik: Aufbruch in dieselbe Welt (Jugendliche im ländlichen Raum)
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Monika Alisch, 26.01.2015

Markus Wochnik: Aufbruch in dieselbe Welt. Bleibestrategien von Jugendlichen im ländlichen Raum. Tectum-Verlag (Marburg) 2014. 267 Seiten. ISBN 978-3-8288-3342-5. 29,95 EUR.
Thema
Die Frage, warum Jugendliche, die in ländlichen Räumen aufgewachsen sind, mit dem Abschluss der Schulzeit und dem Beginn der Ausbildung möglichst schnell in eine für sie „neue (Lebens)Welt“ aufbrechen, ist im Zusammenhang mit den sozialräumlichen Folgen des demographischen Wandelns als wesentlicher Faktor „schrumpfender“ Regionen schon ausführlich beantwortet worden. Das Buch von Markus Wochnik interessiert sich für die, die bleiben: Aus einer berufs- und wirtschaftspädagogischen Perspektive fragt der Autor nach den Strategien und Handlungsmustern von Jugendlichen, die auch in einer peripherisierten ländlichen Region bewusst bleiben. Anhand der so identifizierten Bedingungen des Verbleibs wird gefragt, „welche Innovationen im Bereich der beruflichen Bildung zu diesem Verbleib durch Attraktivitätsgewinn beitragen können“ (S. 19).
Autor
Markus Wochnik ist seit dem Jahr 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Berufsbildung, Berufs- u. Wirtschaftspädagogik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Kassel. Für seine Dissertation „Aufbruch in dieselbe Welt“ wurde Markus Wochnik 2014 mit dem „Wissenschaftspreis des Handwerks“ der Handwerkskammer Kassel ausgezeichnet.
Aufbau und Inhalt
Die Untersuchung von Markus Wochnik geht der Kernfrage nach, ob Jugendliche im ländlichen Raum ihre Mobilitätsentscheidungen im Kontext der Ausbildungsplatzsuche treffen und fragt danach, welche habituell begründeten Strategien und Handlungsmuster sie dazu nutzen. Dabei wird auch gefragt, ob diese Entscheidung wirklich zwangsläufig eine bloß passive Alternative zum Abwandern darstellt. Seine Untersuchung legt der Autor als qualitative Studie mit biographisch narrativen Interviews mit insg. 15 Jugendlichen an, die sich in der Ausbildung eines Handwerksberufs befinden. Der Zugang über die berufsbildenden Schulen in den drei ländlich geprägten Untersuchungslandkreisen im Land Hessen (Odenwaldkreis, Werra-Meißner-Kreis und Vogelsbergkreis) ist dann auch eine Begründung dafür, dass vorwiegend junge Männer für die Interviews gewonnen werden konnten (obwohl ein klassischer Frauenberuf wie der der Friseurin ebenfalls ein Handwerk ist).
Theoretisch-konzeptionell ordnet Markus Wochnik seine Fragestellung in Bourdieus Habitus-Feld-Konzept, das Konzept der Biographie sowie Theorien der Migration und der Migrationsentscheidung ein.
Der Aufbau des Buches folgt nach der Einleitung in den Kapiteln 2 bis 4 diesen Theoriekonzepten.
In Kapitel 2 wird erläutert, inwiefern das Habitus-Feld-Konzept Pierre Bourdieus geeignet ist, die Bleibestrategien Jugendlicher in ländlichen Räumen zu untersuchen und Aussagen über „deren innere Zusammenhänge und Struktur“ (S. 28) zu treffen, die dann später analytisch gefasst werden. Es wird verdeutlicht, inwiefern so der Habitus das übergeordnete theoretische Denk- und Strukturmuster der Untersuchung ist. Dabei bestimmt der Habitus das Denken und Handeln auf einer nicht bewussten Ebene. Die Untersuchung interessiert sich deshalb für die praktischen Strategien, mit denen die Jugendlichen in Bezug auf den Verbleib am Ort an der Schwelle in das Berufsleben ihre Lebensbedingungen organisieren. Aus den Grenzen des Habitus-Feld-Konzepts, in welchem „Subjektivität als relevanter Entscheidungsfaktor quasi gänzlich ausgeblendet ist“ (S. 39) leitet der Autor seine beiden anderen theoretisch-konzeptionellen Bezüge ab: „insbesondere durch das Konzept der Biographie [könne] ein Gesamtmodell erstellt werden, das es ermöglicht, die Aussagen zu den Bleibestrategien und den unterschiedlichen Strategietypen zu ordnen“ (ebd.).
Im Kapitel 3 wird das Konzept der Biographie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive eingeführt. Das Konzept wird zum einen im Hinblick auf biographische Verläufe und dort insb. auf die (Selbst-)Sozialisation der Jugendlichen diskutiert und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Rational Choice Ansatz der Zusammenhang von Rationalität und biographischen (Entscheidungs-)prozessen verhandelt.
Damit ist der Bogen geschlagen zu Migration und Migrationsentscheidungen, die in Kapitel 4 thematisiert werden. Hier wird die Analyse der konkreten Entscheidungsprozesse und Mechanismen der Entscheidungsfindung vorbereitet, die bei den untersuchten Jugendlichen zur Nicht-Migration geführt haben. Makro- und mikrotheoretische Migrationstheorien werden ausführlich diskutiert, bevor mit der Frage nach dem Zustandekommen von Migrationsentscheidungen (als Prozess), insb. bei Jugendlichen und mit Blick auf den Einfluss von Institutionen auf solche Entscheidungen, die migrationsentscheidungstheoretische Perspektive wieder mit dem Konzept der Biographie und dem Einfluss des Habitus zusammengeführt werden.
Konsequent wird am Ende des Theorieabschnittes ein erweitertes Modell zu Migrationsentscheidungen angeboten, das versucht „dem komplexen Zusammenspiel der Faktoren, die bei Migration und Migrationsentscheidungen auf individueller Ebene eine Rolle spielen, möglichst gerecht zu werden“ (S. 78). Dieses theoretische Modell wird später entlang der Ergebnisse der biographisch-narrativen Interviews überprüft.
Nach der kurzen Darstellung der drei Untersuchungslandkreise in Kapitel 5, wird im Kapitel 6 ausführlich das Erhebungsverfahren des biographisch-narrativen Interviews in Theorie und Untersuchungspraxis sowie die Auswertungsstrategie der Grounded Theory und die Typenbildung bzw. -konstruktion erörtert. Die Zuordnung der Fälle zu den herausgearbeiteten Typen erfolgt in der Studie durch eine Fallkontrastierung.
Im Kapitel 7 werden dann drei exemplarische Einzelfallstudien vorgestellt, die als Referenzfälle für die Strategietypen gelten. Anhand dieser drei Fälle werden die von Wochnik anhand des Interviewmaterials herausgearbeiteten Strategien im Umgang mit der Frage des Gehens oder Bleibens exemplarisch aufgezeigt (vgl. S. 131). Die Falldarstellungen folgen einem einheitlichen Muster: Eine kurze Fallbeschreibung liefert die Eckdaten aus der jeweiligen Biographie. Danach folgt eine Analyse der Erzählstruktur des Falls, bevor jeweils die die Erfahrungsverarbeitung am und vor dem Übergang in die Ausbildung rekonstruiert wird. Diese Rekonstruktion erfolgt entlang folgender Elementarkategorien:
- Schullaufbahn und -erfolg,
- Wunschberuf und Bewertung von Beruf,
- berufliche und betriebliche Karriere(planung,
- monetäre Begründungszusammenhänge,
- Dorf- und Stadtbilder,
- Konstruktion von Heimat und Selbstbild,
- Partnerschaft, Familie, Verwurzelung sowie
- Verwertung sozialen und inkorporierten Kapitals (vgl. S. 131).
Abschließend werden die jeweils zugeordneten Strategietypen, die aus der Fallkontrastierung herausgearbeitet wurden, in ihren „typischen Strategiedimensionen“ (ebd.) zusammengefasst.
Die „Bleibestrategien von Jugendlichen im ländlichen Raum“ bilden im Kapitel 8 den Kern der Analyse, indem die drei Strategietypen „Der Heimatverbundene“, „der Zögerliche“ und „der (rationale) Planer“ in die Theoriekonzepte von Habitus, Biographie und Migration rückgebunden werden. Hier (insb. in Abschnitt 8.2) und im 9. als Fazit und Ausblick bezeichneten Kapitel werden die Konsequenzen aus den Erkenntnissen über Bleibestrategien von Jugendlichen an der ersten Schwelle im ländlichen Raum zur Diskussion gestellt und das auf der Grundlage der Ergebnisinterpretation konkretisierte Migrationsmodell bewertet. Hier wird vor allem deutlich, dass sich die eingangs vermuteten Einflüsse von Habitus und Biographie auf die Nicht-Migration der Jugendlichen – unabhängig von den Strategietypen konkret nachweisen lassen, auch wenn die Analyse von drei Strategietypen sicher nicht vollständig ist, sondern auch verschiedene Übergangstypen zuließe.
Diskussion
Mit dieser Studie wird eindeutig eine unangemessen große Lücke in der Erforschung von Migrationsentscheidungen geschlossen. Vor dem Hintergrund, dass gerade jene Jugendlichen, die in einer ländlichen, sonst vielleicht schon als schrumpfend etikettierten, peripherisierten Region bleiben, um dort ihr Berufsleben zu beginnen, eben gerade kein Problem darstellen, wurde den Mechanismen ihrer Entscheidungsprozesse bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei konnte die Studie von Markus Wochnik sehr deutlich zeigen, dass die Entscheidungen nur sehr unzureichend mit quantitativ messbaren Rationalitäten zu erklären sind, sondern vielmehr höchst individuelle, in die Biographien eingeschriebene Mechanismen von „Heimatbezug“ wirken, wenn die Bleibeentscheidung gefällt wird. Daraus, dass dieser Bezug zur „Heimat“ quer zu den herausgearbeiteten Strategien der Jugendlichen Bedeutung hatte, lassen sich pädagogische wie regionalentwicklungspolitisch wesentliche Schlüsse ziehen. So zeigt die Analyse der biographischen Interviews mit den Jugendlichen, dass auf den Wunschberuf verzichtet wird, wenn sich dieser Wunsch in der Region nicht realisieren lässt. Die Jugendlichen stehen vor der nicht leichten Aufgabe, diesen Kompromiss in ihr Selbstkonzept einzuarbeiten. In der Auseinandersetzung mit dem nicht realisierten Wunschberuf reflektieren sie eher dessen Nachteile und heben die Vorteile des ergriffenen Berufs hervor. Da es hier um Jugendliche geht, deren Biographie noch nicht sonderlich lang ist, ist die so erkennbare biographische Kompetenz erstaunlich und bietet dem Autor zu Recht die Vorlage für den Vorschlag, biographische Kompetenzen auch als Lernziel in den Schulen zu verankern, um so die Entwicklung eines eigenen Relevanzsystems zu erleichtern. Die Ambivalenz, die sich gerade aus der symbolischen Ortsbezogenheit – oder eben dem Heimatbezug – der Jugendlichen ergibt, wäre sicher in einem interdisziplinären Diskurs weiter zu untersuchen, d.h. es wäre der Frage nachzugehen, ob dieser Habitus, nämlich das Verlassen der Heimat als emotional bedrohlich zu empfinden und deshalb zu bleiben, sich auf der individuellen Ebene negativ auswirkt oder ob sich daraus – wie der Autor am Ende des Fazits schreibt, eher eine Chance für ländliche Regionen ergibt, diesen Jugendlichen mit gezielten bildungs- und ausbildungspolitischen Maßnahmen eine berufliche Perspektive zu bieten, die mehr ist als ein Kompromiss.
Fazit
„Aufbruch in dieselbe Welt“ zu den „Bleibestrategien von Jugendlichen im ländlichen Raum“ bezieht sich räumlich auf drei Landkreise im ländlichen Hessen, deren Beschreibung in dem ganzen Werk gerade einmal zehn Seiten einnehmen. Dies erscheint zunächst irritierend mit Blick auf die große Bedeutung der Ortsbezogenheit in der Biographie der Jugendlichen. Allerdings steckt hierin auch ein wesentlicher Gewinn dieser Studie: Sie ist methodisch und konzeptionell übertragbar auf andere ländliche Räume, denn sie eröffnet eine berufspädagogisch wie regionalentwicklungspolitisch neue Perspektive auf die junge Generation, die bleibt und mit entsprechenden partizipativen Verfahren in die Gestaltung künftiger Ausbildungs- und Berufskonzeptionen eingebunden werden kann. Das Buch verbirgt nicht, dass es sich hier um die Veröffentlichung einer Dissertation handelt, aber auch wenn dies nicht der Fall wäre, würde ich mir diese sehr differenzierte, sehr gut strukturierte Erläuterung insb. des Forschungsdesigns und der Methodologie auch in jeder anderen Forschungspublikation so wünschen.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Monika Alisch
Hochschule Fulda, Fachbereich Sozialwesen, Hessisches Promotionszentrum Soziale Arbeit, Sprecherin des CeSSt – Wissenschaftliches Zentrum Gesellschaft und Nachhaltigkeit.
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