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Sabine Klinger: (De-)Thematisierung von Geschlecht

Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 01.09.2014

Cover Sabine Klinger: (De-)Thematisierung von Geschlecht ISBN 978-3-86388-057-6

Sabine Klinger: (De-)Thematisierung von Geschlecht. Rekonstruktionen bei Studierenden der Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 367 Seiten. ISBN 978-3-86388-057-6. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.

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Autorin

Die Autorin Dr. Sabine Klinger MA ist zurzeit Universitätsassistentin an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Diese empirische Studie zur Frage, wie Studierende der Erziehungs-und Bildungswissenschaften zu Geschlechterfragen stehen, ist ihre Dissertation.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit ist in sieben Kapitel gegliedert: zunächst geht es um die theoretische Fundierung der Fragestellung (Kapitel 1-4), dann um sie Darstellung der empirischen Untersuchung und ihrer Ergebnisse (Kapitel 5-6) und zum Schluss erfolgt eine Ergebnisdiskussion (Kapitel 7).

Ihre Fragestellung verankert Sabine Klinger in der geschlechtertheoretischen Diskussion: sie möchte herausfinden, was und wie Studierende der Erziehungs- und Bildungswissenschaften über „Geschlecht“ und Geschlechterfragen sprechen. Die Universität wird als der gemeinsame (konjunktive) Erfahrungsraum der Studierenden definiert. Dabei sucht sie nach habituellen Praxen der Thematisierung und (De-) Thematisierung sowie nach geschlechterreflektierenden Haltungen als Teil des studentischen Habitus. Speziell fokussiert sie auf Muster der De-Thematisierung, die auf eine Gleichheitsrhetorik hinweisen, dabei aber gleichzeitig Ungleichheiten und Benachteiligungen zwischen den Geschlechtern verdecken.

Um diese Forschungsfragen genauer zu entwickeln, setzt sie sich aus drei Perspektiven mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung auseinander:

  1. In der ersten Perspektive liefert sie einen knappen Abriss der Bedeutung von Geschlecht in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften.
  2. In der zweiten Perspektive stellt sie die Entwicklung geschlechtertheoretischer Diskurse vor.
  3. In der dritten Perspektive umreißt sie die Relevanz eines praxeologischen Ansatzes. Hier nutzt sie die These von Angelika Wetterer von der „rhetorischen Modernisierung“, den Ansatz des „Verdeckungszusammenhanges“ des Tübinger Instituts für Sozialforschung und die These vom „neuen Geschlechtervertrag“ von McRobbie als Folien der Interpretation. Allen drei Ansätzen ist gemeinsam, dass sie bei der verbreiteten Thematisierung von Geschlecht die Gefahr der Individualisierung und Entpolitisierung strukturell angelegter Problemlagen sehen. Eine solche Thematisierung trägt dazu bei, dass gesellschaftliche und vergeschlechtlichte Strukturen verborgen und damit stabilisiert werden.

Empirisch wurden diese Fragen durch vier Gruppendiskussionen an zwei verschiedenen Universitäten, an denen insgesamt 14 Studierende teilnahmen, untersucht. Das Protokollmaterial wurde mit der dokumentarischen Methode ausgewertet.

Im Ergebnis stellt Sabine Klinger Fallstudien der einzelnen Gruppen vor und vergleicht die Gruppen, die zu einer Universität gehören. Als zentrale Orientierungen, auch habituelle Konstruktionen genannt, findet sie heraus: Studierende neutralisieren soziale Ungleichheiten und verdecken deren Wirkungszusammenhang. Eine geschlechterreflektierende Haltung oder geschlechterreflektierendes Handeln ist nicht notwendiger Teil eines erziehungswissenschaftlichen Habitus. Vielmehr bestätigt sich die Vermutung, dass die Studierenden von einer generellen Gleichheit der Geschlechter ausgehen und dass sie ihre eigene Betroffenheit von Ungleichheit als individuelle Belastung interpretieren. Geschlecht setzen sie mit Frausein und Benachteiligung gleich. Der Vergleich zu „früher“ bestätigt, dass junge Frauen heute die volle Autonomie und Selbstbestimmung haben. Durchaus erwähnte, persönliche Diskriminierungserfahrungen finden keinen Platz in dem öffentlichen Diskurs über Geschlecht. Geschlechtergerechte Sprache, Quotenregelungen oder die Hervorhebung der Kategorie Geschlecht werden als „extrem“ und unnötig angesehen. Angesichts dieses, auch die Autorin erschreckenden Befundes, plädiert sie in der Ergebnisdiskussion dafür, in der Universität einen geschlechterreflexiven Erfahrungsraum zu schaffen, der über die Angebote der Gender-Studies hinaus Möglichkeiten bietet, die eigene Person als Pädagog_in zu reflektieren. Auf diese Weise soll gelernt werden, gesellschaftskritische und geschlechterkritische Perspektiven und Praxen zu entwickeln.

Diskussion

Auch wenn die Arbeit sich manchmal etwas mühsam lesen lässt, weil sie als Dissertation geschrieben und damit den universitären Ansprüchen an Genauigkeit in theoretischen Ableitungen und methodischem Vorgehen genügen muss: die Fragestellung dieser Arbeit ist in der geschlechterpolitischen Debatte sehr bedeutsam: wo, wenn nicht im Bildungssystem können die Erkenntnisse und Einsichten vermittelt werden, dass Geschlecht immer noch eine Ursache von sozialer Ungleichheit ist und dass viele Strukturen vergeschlechtlicht sind. Und da liegt es nahe zu prüfen, welches Bewusstsein angehende Pädagog_innen zu Geschlechterfragen haben. In der Geschlechterforschung gibt es bereits einige Ansätze, die auf einen Neokonservatismus hinweisen und ihn auch erklären. Diese greift die Autorin auf und findet sie auch bestätigt. Sabine Klinger will keine verallgemeinernden Aussagen über Studierende treffen, dazu ist ihre Stichprobe mit 14 Studierenden an 2 Universitäten auch viel zu klein. Vielmehr untersucht sie an ganz wenigen, wie die (De-)Thematisierung von Geschlecht und Geschlechterfragen funktioniert. Die Frage, wie verbreitet dieses Denken als habituelle Praxis unter allen Studierenden ist, bleibt offen, kann auch nicht über Gruppendiskussionen beantwortet werden. Spannend sind die Analysen der Gruppendiskussionen, in denen durch die systematische Bearbeitung vorgeführt wird, wie der gemeinsame Erfahrungsraum der Universität in Bezug auf Geschlechterfragen eher zu einer verbreiteten (De-) Thematisierung führt und wie schnell die Studierenden sich teilweise einigen können: so ist zum Beispiel die Tatsache, dass Erziehungs- und Bildungswissenschaften ein feminisierter Studiengang ist, für sie der Beleg dafür, dass es hier keine „Geschlechterfragen“ geben kann.

Für alle, die an geschlechterkritischem und gesellschaftkritischem Bewusstsein von Studierenden arbeiten wollen, bietet diese Studie einige Hinweise, wo anzusetzen und vor allem, mit welchen Mechanismen und Argumentationsfiguren zu rechnen ist: Binäre Geschlechternormen sind verbreitet, eine Orientierung an lebenslanger stabiler Geschlechtsidentität bleibt bestehen und die Legitimität und Relevanz von Geschlechterfragen nimmt generell ab. Darüber hinaus bietet diese Dissertation mit dem 3. Kapitel eine hervorragende Zusammenfassung der geschlechtertheoretischen Diskurse. Mit dem Aufgreifen der drei Ansätze von Wetterer, dem Tübinger Institut und von McRobbie vermittelt sie einen tauglichen Interpretationsrahmen, um die Oberfläche der Rede von der Gleichheit der Geschlechter und die Widersprüche zwischen erlebter Wirklichkeit und sozialer Praxis aufzudecken: Ohne geleitete Reflexionen, die auch die eigenen Erfahrungen ernst nimmt und öffentlich macht, kann ein geschlechterkritisches Bewusstsein kaum entwickelt werden.

Fazit

Die Arbeit liest sich insgesamt mit Gewinn, theoretisch und auch in der Veranschaulichung. Ihr Ergebnis lässt eher Erschrecken zurück. Allerdings kann das ja auch zu neuen Anstrengungen führen: allen im Raum der Universität, besonders in der Pädagogik und den Bildungswissenschaften Arbeitenden kann sie als didaktischer Leitfaden dienen. Aber auch Bildungsarbeiter_innen in anderen Feldern bietet sie eine Fülle von Anregungen, wie Gespräche mit jungen Erwachsenen über Geschlecht zu führen wären, damit der Glaube an die Gleichheit nicht länger die realen Verhältnisse übertüncht.

Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 48 Rezensionen von Barbara Stiegler.

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ISSN 2190-9245