Henning Laux: Soziologie im Zeitalter der Komposition
Rezensiert von Prof. Dr. rer. hort. habil. Herbert Schubert, 12.01.2015

Henning Laux: Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2014. 335 Seiten. ISBN 978-3-942393-57-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Die Netzwerkrhetorik breitet sich inflationär aus, und die Landschaft der Netzwerkforschung ist inzwischen unübersichtlich geworden. Vor diesem Hintergrund folgt die Publikation drei Leitfragen: Was ist ein Netzwerk? Welche theoretischen Positionen, Vorzüge und Potenziale ergeben sich aus der Netzwerkperspektive? Und welche sozialen Entwicklungen sorgen für das plötzliche Auftauchen der Netze?
Autor
Henning Laux ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Soziologie der Universität Bremen. Er gehört dort der Arbeitsgruppe „Soziologische Theorie / Gesellschaftliche Differenzierung und Governanceregime“ (Leitung: Uwe Schimank) an und leitet in den Jahren 2013 bis 2016 das DFG-Forschungsprojekt „Desynchronisierte Gesellschaft? Politische Herausforderungen an den Schnittstellen des Sozialen“.
Entstehungshintergrund
Die Publikation repräsentiert die Dissertationsschrift „Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer relational-dynamischen Netzwerktheorie“ (Gesamtprädikat: summa cum laude), mit der Henning Laux an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bei Hartmut Rosa und Uwe Schimank zum Dr. phil. promoviert wurde.
Aufbau
Das Buch besteht aus vier Teilen und insgesamt 24 Kapitel.
- Der erste Teil ist mit „Laboratorium Netzwerktheorie“ überschrieben. In acht Kapiteln wird die Spaltung der Netzwerkforschung in die Stränge der Akteur-Netzwerk-Theorie und der Phänomenologischen Netzwerktheorie vergleichend rekonstruiert, um sie sozialtheoretisch zu den beiden – relationalen und operativen – Seiten einer umfassenden Netzwerktheorie zu integrieren.
- Im zweiten Teil werden „die sozialtheoretischen Koordinaten der Netzwerkforschung“ diskutiert und entwickelt. In sieben Kapiteln wird entlang von soziologischen Kernproblemen herausgearbeitet, dass die Netzwerkmetapher einen sozialtheoretischen Mehrwert bietet und eine tragfähige Alternative zu den etablierten Ansätzen der Soziologie bereitstellt.
- Im dritten Teil wird die Gegenwart auf der Basis der zuvor konzipierten Sozialtheorie unter der Überschrift „Die gesellschaftstheoretischen Koordinaten der Netzwerkforschung“ modernisierungstheoretisch und zeitdiagnostisch neu bestimmt. In fünf Kapiteln wird das Assoziationsmuster des Netzwerks als dominante Sozialform der Spätmoderne dargestellt, die auf gemeinschaftliche Assoziationen in der Vormoderne und auf nationalstaatliche gesellschaftliche Gefüge in der Moderne folgt.
- In den vier Kapiteln des vierten Teils werden „Baustellen und Potenziale einer Soziologie im Zeitalter der Komposition“ mit Blick auf eine intensivierte Zusammenarbeit zwischen Akteur-Netzwerk-Theorie und Phänomenologischer Netzwerktheorie kenntlich gemacht, indem die Desiderate des theorievergleichenden ersten Teils, des sozialtheoretischen zweiten Teils und des gesellschaftstheoretischen dritten Teils verdeutlicht werden.
Inhalt
Zu Beginn wird ein kurzer Abriss der beiden Theorieschulen Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und Social Network Analysis (Phänomenologische Netzwerktheorie – PNT) gegeben, die Bruno Latour und Harrison White als Protagonisten geprägt haben. Der Autor Henning Laux zeigt im Vergleich der beiden Schulen einen Lösungsweg auf, wie deren übliche Separierung und scheinbare Inkompatibilität überwunden werden können. Dabei will er die beiden Netzwerkkonzepte nicht nur kombinieren, sondern „eine vollwertige Alternative zu den bereits etablierten Paradigmen der Soziologie anbieten“ (S. 34) – damit meint Laux u.a. die Kritische Theorie, die Systemtheorie, die Rational Choice Theorie und die Praxeologie. Die zentralen Elemente der beiden Theorien werden integriert, um die Potenziale der Netzwerkmetapher auszuschöpfen. „Die terminologischen Konvergenzen der beiden Ansätze münden … in einen methodologischen Prozessualismus (…)“ (S. 41), bei dem soziale Strukturen und Identitäten nur in actu und nicht abstrakt existieren.
Die formale Netzwerkperspektive wird anhand von soziologischen Schlüsselproblemen zu einer relational-dynamischen Netzwerktheorie weiterentwickelt. Dazu werden die dualistische Textur und das bipolare Vokabular des grundbegrifflichen Instrumentariums der Soziologie in Frage gestellt. Henning Laux bringt dafür Foucaults Poststrukturalismus, Deweys Pragmatismus, die Philosophie Mitterers und Latours Verständnis von Erkenntnis als unendliche Transaktion zu einer Synthese. In der Abgrenzung zum Realismus und Konstruktivismus als klassische Modelle der Erkenntnis leitet Laux daraus den „Transformismus“ als netzwerktheoretisches Erkenntnismodell ab: „Gegenstand und Beschreibung sind weder klar voneinander getrennt (Dualismus) noch bilden sie eine untrennbare Einheit (Monismus), sondern sie stehen in einem reduktionistischen Übersetzungsverhältnis, die Referenz zirkuliert“ (S. 98).
In einem weiteren Schritt wird in Anlehnung an Bruno Latour das „anthropologische Grenzregime“ der Soziologie hinterfragt (S. 102), wodurch Soziales von Nicht-Sozialem getrennt wird. Das anthropozentrische Dogma des Natur-/Kultur-Dualismus wird von Henning Laux verworfen. In einer Revision der Soziologie wird das methodologische Symmetrieprinzip formuliert: Darin wird der konstitutive Einfluss der nichtmenschlichen Wesen auf das Soziale anerkannt, die materiellen Beiträge menschlicher und nichtmenschlicher Körper werden verbunden erfasst. Gemäß der symmetrischen Handlungstheorie verlaufen die Beziehungen der Menschen über nichtmenschliche Wesen und Artefakte. An die Stelle der sozialtheoretischen Urszene der doppelten Kontingenz in personalen Dyaden tritt ein polyadisches Netzwerk von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen. Symmetrisch heißt dabei, dass auf eine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem Handeln und einer materiellen Welt verzichtet wird. Menschliche und nichtmenschliche „Akteure handeln nicht ausgehend von ihrer jeweiligen Position im Netz, sondern Akteure sind Netze, sie sind ‚Akteur-Netzwerke‘, da sie immer im Verbund mit anderen agieren“ (S. 137). Laux arbeitet heraus, dass Handeln kein individuelles Ereignis ist, sondern ein Effekt assoziierter Entitäten.
Der stenographisch auf Dualismen verkürzenden Soziologie (vgl. z.B. Mikro/Makro, Gemeinschaft/ Gesellschaft, Ego/Alter, Akteur/Struktur) wird ein methodologischer Relationismus gegenüber gestellt: Er löst alle Ereignisse und Strukturen in Knoten und Relationen auf, so dass mikrologische Handlungen und makrologische Gebilde keine voneinander getrennten Ebenen mehr bilden, sondern unterschiedliche Etappen auf einem Kontinuum der Strukturbildung. Statt weiterhin von solchen Oppositionspaaren auszugehen, deren Deutungspotenzial erschöpft ist, nimmt Laux ein Kontinuum an, das zwischen offenen und geschlossenen Situationen verläuft. Es „wird nicht mehr nach der praktischen Verzahnung zweier Ebenen im Sinne einer Sozial- und Systemintegration gefragt, sondern danach, welche Mechanismen und Instrumente die Öffnung oder Schließung einer Situation veranlassen. In ‚offenen Situationen‘ prozessieren Aktivitäten frei und kreativ (…). In ‚geschlossenen Situationen‘ gibt es hingegen keine Spielräume (…)“ (S. 157f.).
Die mechanismische Vorstellung eines Kontinuums zwischen offenen und geschlossenen Situationen wird anhand von vier „Ordnungsmechanismen“ konkretisiert: Die „wichtigsten Phasen im Leben einer Struktur“ lassen sich nach den „Mechanismen der Kollision, Komposition, Institutionalisierung und Dekonstruktion“ bestimmen (S. 160). Bei der Kollision entwickelt sich das Soziale aus dem Zusammenprall und dem relationalen Gemenge heterogener Elemente. Bei der Komposition handelt es sich um die Strukturgenese, wobei sich Elemente anordnen, assoziativ verflechten und durch Narrationen eingebettet werden (Etablierung geteilter Stories). Durch den Mechanismus der Institutionalisierung formiert sich die Assoziation über eine klar definierte Innen-Außen-Grenze zu einer stabilen, auf Dauer gestellte Struktur. Der Prozess der Dekonstruktion eröffnet den Blick auf die Reversibilität der Struktur; eingeschriebene Routinen und Gewissheiten werden gebrochen, so dass Transgressionen und Innovationen möglich werden.
Im Kontrast zu den gesellschaftstheoretischen Theoremen von z.B. Tönnies, Durkheim, Weber und Simmel über Luhmann, Habermas und Bourdieu bis hin zu Beck, Giddens und Castells wird die gegenwärtige Transformation des Sozialen mit der relational-dynamischen Netzwerktheorie zeitdiagnostisch interpretiert. Der sozialtheoretisch fundierte Gegenvorschlag begreift Netzwerke als „transhistorische Fundamente von Sozialität“ (S. 236). Die Koordination von Aktivitäten ergibt sich in der Gegenwart „weniger aus körperlicher Nähe (Gemeinschaft) oder aus der Zugehörigkeit zu einer territorial abgeschlossenen Einheit (Gesellschaft), sondern sie resultiert aus geteilten Verbindungen (Netzwerk)“ (S. 243). Vor diesem Hintergrund scheint der Gesellschaftsbegriff für die Soziologie nicht mehr nützlich zu sein – Henning Laux schlägt deshalb vor, die „hereinbrechende Zivilisation“ mit dem Netzwerkbegriff zu analysieren (S. 244). Nur so lassen sich die Dekonstruktion moderner Institutionen angemessen erfassen und Systeme im Sinne Luhmanns als reversible Endpunkte erfolgreicher Netzbildungsprozesse verstehen. „Der soziologische Gegenstandsbereich hat sich mit dem Eintritt in die Spätmoderne erheblich verändert. Im Zeitalter der Komposition verringert sich daher automatisch der Realitätsgrad von soziologischen Paradigmen, die auf vormoderne oder moderne Kollektive referieren“ (S. 265).
Weil sich in der Gegenwart im Rahmen von Hybridisierung und Flexibilisierung die Elemente des Sozialen neu anordnen, bezeichnet Laux die hegemoniale Sozialform der Gegenwart als „Zeitalter der Komposition“. Die gesellschaftlichen Institutionen geraten gegen Ende des 20. Jahrhunderts unter Dekonstruktionsdruck, wobei die freigesetzten Elemente kollidieren und sich zu neuen Assoziationen verketten, so dass es zur Neujustierung von Nationen, Sozialsystemen, Märkten, Bildungseinrichtungen, Familien, Geschlechtergrenzen und Kommunikationsformen kommt (S. 278). Er formuliert dabei eine Antithese zu Castells´ „Zeitalter des Netzwerks“, weil Netzwerke nicht zeitdiagnostisch aufgefasst werden, sondern als ahistorisches und universelles Modell der offenen Strukturbildung bzw. als Prozess der Transformation auf dem Kontinuum der Ordnungsmechanismen im Übergang zur Institutionenbildung.
Diskussion
Die Publikation von Henning Laux fasziniert diejenigen Leserinnen und Leser, die neue Trampelpfade der Erkenntnis suchen und die eingefahrenen Spuren der Mainstream-Soziologie verlassen möchten, weil sie zeitdiagnostisch nicht mehr zielführend sind. Das Versprechen, eine vollwertige Alternative zu den etablierten Paradigmen der Soziologie zu entwickeln, wird eingelöst. Alles in allem gelingt der ambitionierte Versuch, eine integrative Netzwerktheorie zu entwerfen. Allerdings stehen noch empirische Programme aus, in denen die Viabilität des vorgeschlagenen Modells in der Beschreibung der Wirklichkeit veranschaulicht wird.
Im Ergebnis weist Laux´ Theorie sogar über die sozialtheoretischen Netzwerkansätze von Bruno Latour und Harrison White hinaus, weil mit den vier Mechanismen der Ordnungsbildung eine praktikable und deutungsstarke netzwerktheoretische Heuristik für die gesellschaftstheoretische Analyse entworfen wurde. Es ist zuzustimmen, wenn Henning Laux seine relational-dynamische Netzwerktheorie als „Update“ bewertet, „das die Soziologie mit frischen Positionen für die Bereiche Erkenntnistheorie (Transformismus), Methodologie (Relationalität, Prozessualität, Symmetrie), Handlungstheorie (Proposition, Aktant, Faitiche, Handlungsprogramm) und Ordnungstheorie (Mechanismen: Kollision, Komposition, Institution, Dekonstruktion) versorgen will“ (S. 275).
Fazit
Nützlich ist das Buch für alle, die sich mit der Netzwerkthematik beschäftigen, sowie für diejenigen, die ein neues soziologisches Paradigma kennen lernen wollen, mit dem sich die aktuellen sozialen Verwerfungen und Destabilisierungen viabler erfassen lassen als mit herkömmlichen soziologischen Theoremen von der Systemtheorie über die Rational-Choice-Theorie und die Praxistheorie bis hin zur Kritischen Theorie. Zu empfehlen ist die Publikation auch für den Einsatz in sozialwissenschaftlichen Studiengängen, damit sich die Studierenden frühzeitig mit diesem Entwurf einer umfassenden soziologischen Netzwerktheorie auseinandersetzen können. Denn es ist wahrscheinlich, dass im kommenden Jahrzehnt in dieser Richtung der Netzwerkforschung weitere interessante Arbeiten folgen werden.
Rezension von
Prof. Dr. rer. hort. habil. Herbert Schubert
Ehem. Direktor des Instituts für angewandtes Management und Organisation in der Sozialen Arbeit (IMOS) an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln
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