Teresa Koloma Beck, Klaus Schlichte: Theorien der Gewalt zur Einführung
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 03.03.2015

Teresa Koloma Beck, Klaus Schlichte: Theorien der Gewalt zur Einführung. Junius Verlag (Hamburg) 2014. 187 Seiten. ISBN 978-3-88506-080-2. D: 13,90 EUR, A: 14,30 EUR, CH: 20,50 sFr.
Thema
Nach dem Eindruck des Rezensenten widerspricht der Untertitel dieses neuen Bandes in Teilen der programmatischen Erklärung der bewährten Junius-Einführungen, einen „verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit“ (S.6) an die Hand zu geben. Die Einführung in Theorien der Gewalt, die Beck/Schlichte geben wollen, führt manchmal ins Labyrinthische, manchmal aber in geometrisch gegliederte Übersichtlichkeit. Beides zusammen kann den widerspruchsvollen Reiz eines großangelegten Parks ausmachen.
Aufbau und Inhalt
Labyrinthisch liest sich die zwölfseitige „Einleitung“, die die Leser in die Grenzen einweist, die die Autoren um die Behandlung ihres Themas ziehen. Sie wollen „Gewalt“ als Thema in Sozialtheorien darstellen, die „Gewalt als Problem in Prozessen sozialer Ordnungsbildung“ (S.11) oder als Faktor „in Prozessen von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung“ (S.12) betrachten. Dabei wollen sie Gewalt „1.“ als soziales Phänomen, also „nicht von Individuen, sondern die soziale Dynamik der Gewalt selbst“ und „2.“ die „Prozesse der Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnungen in den Mittelpunkt“ (12) stellen. Das hat zur Folge, dass die Autoren ihren Fokus auf sozialwissenschaftliche Theorien setzen, welche als normative Theorien „1.“ die Legitimität von Gewalt diskutieren, und auf solche, die „2.“ die „empirischen Dynamiken von Gewalt rekonstruieren und erklären.“ (S.14/15)
Für ihre Ausführungen legen sie einen reduzierten Gewaltbegriff zu Grunde, der die „absichtliche Verletzung menschlicher Körper ins Zentrum“ stellt. Damit reihen sich die Autoren in die Verfahrensweise der meisten politikwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema ein. [1] Als Abschluss dieser programmatischen Erklärungen erscheint es den Autoren „sinnvoll, drei…Problemkomplexe zu unterscheiden“, die das Problem der Kontrolle, das Problem der Legitimität und das Problem der wissenschaftlichen Theorien und Methoden von Gewalt in Sozialtheorien traktieren. So viel Ausgrenzung verursacht als solche Verwirrung und erspart sich die Irritation durch Analysen zu faktischer politischer oder sozialer Gewalt wie Krieg, Revolution, Terrorismus und Vergewaltigung.
Was dabei durch Eingrenzung als Thema bleibt, ist dann im zweiten Kapitel allgemein, in Kapitel drei und vier sozialtheoretisch und empirisch-theoretisch unter dem Obertitel „Gewalt als sozialwissenschaftliches Problem“ beschrieben.
Gesetzt, dass es einen großen Leserkreis mit Orientierungsbedarf auf diesem Feld gibt, etwas Fundiertes über Gewalt als Topos von sozialwissenschaftlicher Theorie und nicht als Topos Erklärungen von faktischer Gewalt zu erfahren, dann lässt sich der Ertrag dieses Kapitels in dem Satz zusammenfassen: „Gewalt“ wird nicht zu einem unabhängigen, eigenständigen Thema der okzidentalen social theory, weil social theory abhängig vom modernen Projekt ist, eine humanere, d.h. gewaltfreie Gesellschaft durch Planung und Reform und Selbstkontrolle zu entwerfen und praktisch hervorzubringen. „Gewalt“ erscheint der modernen Theorie deshalb als „Störfall“ bzw. „Gewalt passt in dieses Selbstbild nicht“ (S.25) und markiert gewissermaßen den blinden Fleck der modernen Theorie. Immerhin weisen Beck/Schlichte daraufhin, dass das auch der Grund sei, weshalb das „Gewaltthema“ sozialtheoretisch stets nur als abhängige Variable und nicht als eigenständiges Phänomen reflektiert worden ist. Eine solche Orientierung muss indessen oberflächlich bleiben, da sie die mühevolle und ertragreiche Lektüre der Primärtexte nicht ersetzen kann.
Kapitel drei zur „Rechtfertigung und Kritik der Gewalt“ und Kapitel vier zu „Erklärende(n) Gewalttheorien“ sind demgegenüber deutlich übersichtlicher gestaltet und präsentieren ihre Themen tiefergehender für die Leser als Einleitung und zweites Kapitel.
Im dritten Kapitel wird das Gewaltphänomen als Verstaatlichung von Gewalt sozialtheoretisch nachgezeichnet, wobei der Einstieg über die Soziologie des Staates von Max Weber gut gelingt, weil es dessen Kriterium für Staatlichkeit das Gewaltthema ins Zentrum seiner Auffassung rückt. Staatsbildung und damit Ordnungsbildung läuft über die Herstellung eines Monopols physischer Gewaltsamkeit, dem von der überwiegenden Mehrheit der (un-)freiwilligen Mitglieder der „Staatsanstalt“ (Max Weber) Legitimität zugeschrieben wird. Mit diesem Kriterium wird jene herrschaftsförmige Ultrastabilität erklärbar, die wir in der abendländischen Tradition seit dem Sieg des Nationalstaats- über das Imperialstaatsprinzip und über das Städtebundprinzip gewohnt sind. Daran schließen die Autoren abschnittsweise all jene Staatstheoretiker an, die in Begriffen von Souveränität den Staat als Hüter und Anwender organisierter Gewalt entwickeln, immer in Reaktion auf die politischen Verhältnisse ihrer Zeit, was dem Gewaltthema ein je spezielles theoretisch-historisches Kolorit verschafft. Bodin, Hobbes, Locke und Kant werden behandelt, sodann die Weimarer Debatte zwischen Carl Schmitt und Hermann Heller vorgestellt. Es folgen die marxistisch geprägten Kritiker der verstaatlichten Gewalt, die Frage des Widerstandsrechts gegen Staatsgewalt und die anti-kolonialistischen Theorien von Fanon und die Guerilla-Strategien von Mao und Che Guevara. Besonders gelungene Abschnitte, die m.E. die Intention der Einleitung unter restriktiven Bedingungen gut realisieren, sind die Abschnitte zum Thema „Krieg“, die den Bogen vom „gerechten Krieg“ bis zur pazifistischen Generalablehnung jedweden Krieges schlagen.
Im vierten Kapitel über „Erklärende Gewalttheorien“ kommen empirische Theorien politischer Gewalt zu ihrem Auftritt. Und dieser Überblick erlaubt die Sicht auf ein interessantes Feld der Forschung. Erneut von Webers staatlichem Idealtypus ausgehend, für dessen Institutionalisierung, wie erwähnt, „Legitimität“ zentral ist, passieren Heinrich Popitz, Hannah Arendt, der Popitz-Schüler Trutz von Trotha, der Apokalyptiker unter den Gewaltforschern Wolfgang Sofsky, Jan Philipp Reemtsma, der Autor Klaus Schlichte selbst, Stathis Kalyvas, Georg Elwert, Michael Mann, Randall Collins, Norbert Elias, Michel Foucault u.a. mit ihren jeweils extrem unterschiedlichen Auffassungen zur Gewaltthematik Revue. Hier gelingt es den Autoren den Wandel in der sozialtheoretischen Konzeption von Gewalt mit den materiellen Veränderungen ihrer konkreten Praxis auf so zu verknüpfen, dass die Gewaltidiosynkrasie der Moderne plausibel wird.
Einen interessanten Ansatz legen die Autoren in Selbstzitaten vor, den sie die „Subjektdynamiken der Mobilisierung“ (154ff) verlässlicher Gewalt nennen. Damit zielen sie auf die Erforschung spezifischer „Subjektstrukturen“ (Beck/Schlichte), die mit gewohnheitsmäßiger Gewaltausübung in den Gewaltexekutoren unmittelbar greifbar sind, in ihnen als Mentalitäten sich kontinuieren und zu Lebensformen verfestigen, wie sie z.B. die Subkulturen der Gettho-Gewalt in den USA oder die der Kriegsunternehmer von gestern und heute hervorbringen.
Im Schlusskapitel plädieren die Autoren für eine Intensivierung der Gewaltthematisierung in der Sozialtheorie. Wie sie immer wieder betonen, fehlt eine breitere Theoretisierung von Gewalt als eigenständigem Gegenstand in modernen Gesellschaften. Hier, wo monopolistische Staatsgewalt Legitimität errang, konnte sie aus dem Alltagsbild verbannt und verdrängt werden. Dennoch ist sie als allzumenschliche Möglichkeit keineswegs aus den Köpfen und den Taten verschwunden, wie einerseits die Ausschreitungen der Fußballfans, Gewaltdemonstrationen und der typisch rational organisierte Schüleramok zeigen, andererseits die Ausweitung des Gewaltbegriffs selbst, der sich mit Konzepten wie die der strukturellen, symbolischen oder psychischen Gewalt immer neue Verhaltensbereiche sprachpolitisch erschließt.
Fazit
Wer sich tatsächlich für das Thema „Gewalt“ interessiert, wie es in gesellschaftswissenschaftlichen Theorien traktiert und vor allem auf dem Gebiet der Makrorealitäten von Politik und Gesellschaft zur Ordnungsbildung oder zum Chaos beiträgt, wird in Kapitel drei und vier eine lesbare Einführung finden. Die Einleitung und das zweite Kapitel fallen durch zu viele Pirouetten der Unterscheidungen und Unterteilungen eher verwirrend als klärend aus: Etwas weniger Didaktik und akademische Respektsbezeigung wäre mehr Freiheit und mehr Einführungslust auch für die Leser gewesen. Aber wie eingangs gesagt, es ist eine Einführung in das weite Feld einer Parklandschaft sehr heterogener Theorien aus sehr heterogenen Zeiten und sehr heterogenen Blickwinkeln. Und Parklandschaften leben vom Kontrast des geometrisch geordneten Kosmos mit dem geometrisch geregelten Chaos, was zwar mitunter die Orientierung erschwert, aber auch reizvoll sein kann.
[1] Vgl. Birgit Enzman Handbuch Politische Gewalt…
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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