Bernhard Giesen, Werner Binder u.a.: Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral
Rezensiert von Arnold Schmieder, 05.09.2014

Bernhard Giesen, Werner Binder, Marco Gerster, Kim-Claude Meyer: Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2014. 287 Seiten. ISBN 978-3-942393-64-5. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
In allen Beiträgen des Sammelbandes geht es im engeren oder weiteren Sinne um Kultur als „Tiefengrammatik sozialen Handelns“. Sie hält die „Prinzipien der sozialen Ordnung latent“ und bei der Analyse dieser Latenz steht zu vermuten und zeichnet sich ab, dass „auch der angestrengte Versuch zu genauer Regelanwendung das Ungefähre der Übersetzung der Regel in einen konkreten Fall nicht auflösen kann.“ Es geht um Ausnahmen von der Regel im unspektakulären Alltagsleben, mit denen die Gültigkeit des Regelhaften nicht infrage gestellt wird, die jedoch „normative Erwartungen elastisch gegenüber Fällen“ halten, die ihnen „scheinbar zu widersprechen scheinen“, konturieren die Autoren ihre Thematik (S. 7 f.), wobei in einigen Beiträgen auch solche Regelverletzungen behandelt werden, die durchaus spektakulär sind und gegenüber denen kulturell eingebettete Deutungsmuster erklärungsschwach bis vergeblich bleiben. Aber auch im Hinblick auf Phänomene wie Amok und Folter, Hooligans und Bürgerkriege etwa gelingt es den Autoren, „präzise zu zeigen, dass es Wirklichkeiten gibt, wo die Exaktheit der Beschreibung eine Wiedergabe von Unschärfe im Gegenstandsbereich ist“, testiert Alois Hahn in seinem Nachwort. (S. 261)
Aufbau und Inhalt
Der Band beinhaltet neben Einleitung und Nachwort vierzehn Beiträge, von denen Bernhard Giesen acht verfasst hat, die sich – wie alle anderen auch – auf Spurensuche nach dem ‚Ungefähren’ machen. Giesen diskutiert am Beispiel der RAF ‚politische Gewalt und das kollektive Unbewusste’ und zeigt, dass jene ödipale Auflehnung gegen den Vater „Grundlage der modernistischen Revolte gegen die Herrschaft der Vergangenheit“ ist bzw. sein kann. (S. 30) Ebenso auf Freud nimmt der Autor Bezug, wo er unter dem Titel ‚Bürgerkrieg und kollektives Trauma’ vor allem im Hinblick auf Leugnung und Abspaltung der Gräuel des Nationalsozialismus sowie Schuldanerkenntnis und Durcharbeitung des Traumas argumentiert, dass vergleichbar der Latenzphase des individuellen Traumas „auch hier das traumatisierende Ereignis von der Oberfläche des kollektiven Bewusstseins in den Abgrund einer unaussprechlichen Unwirklichkeit verdrängt worden“ ist (S. 41), wobei er die Formen der ‚Durcharbeitung’ (u.a.) an den APO-Aktivisten als revolutionäre „Gründungshelden der neuen deutschen Demokratie“ (S. 44) und dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau exemplarisch erläutert.
Um Amok und Folter kreisen die Beiträge von Marco Gerster und Werner Binder. Der Schwierigkeit, Amokläufe zu verstehen, deren Geschichte und Bedeutung in verschiedenen Kulturen sowie ihr neueres Auftreten in modernen Gesellschaften Gerster ausführlich darstellt und analysiert, versucht der Verfasser über den Begriff der Liminalität zu begegnen (der Begriff geht auf den Ethologen Turner zurück und meint einen ‚Schwellenzustand’ nach ritueller Lösung von der herrschenden Sozialordnung). In kritischer Distanz zu Baudrillards These von der „Todesrevolte“, auf die das ‚System’ keine Antwort finden könne, argumentiert er dann doch, dass sich das Phänomen Amok „einer eindeutigen Zuordnung zu den Kategorien ‚Risiko’ und ‚Gefahr’“ entziehe und „genau in dieser Zwischenlage gründet das kollektive Unsicherheitsempfinden und die öffentliche Empörung.“ (S. 61) Was bleibt, ist, dass Amok „in der modernen westlichen Welt angekommen“ ist, sich als „kulturelles Muster“ vergleichbar seinen Ursprungsformen zu verfestigen beginnt und „allmählich differenzierten Normalisierungstendenzen unterworfen“ wird. (S. 65) Vergleichbar ist die Argumentationsfigur bei Binder, der unter dem Blickwinkel von Folter als Performanz diese als ‚souveräne’ Überschreitung im Krieg gegen den Terror untersucht, als der „Ausnahmezustand (…) den Souverän (ermächtigt)“ (S. 71) und ein „probates Mittel der Herstellung von Souveränität“ ist (S. 77), wobei der Folterer, sich über moralische Werte und Legalität hinwegsetzend, seine möglichen Skrupel dadurch kognitiv überwindet, dass er der „Verantwortungsethik statt der Gesinnungsethik“ folgt (S. 79), dabei gleichsam die Ohnmacht des Staates dokumentierend und zugleich kompensierend – „denn Gewalt fängt da an, wo Macht aufhört.“ (S. 74) Binder entwickelt (u.a.) am 11. September 2001, dem Anschlag auf das World Trade Center, und dem Abu-Ghraib-Skandal, dass zum einen die „Existenz des absoluten Folterverbots (…) zugleich die Möglichkeit seiner souveränen Überschreitung“ schafft und zum anderen „die Anwendung von Folter den Nimbus der ‚heiligen Gewalt’“ bis auf Weiteres verloren haben dürfte. Daraus zieht er mit Blick auf die „These der Zwischenlagen“ den verallgemeinernden Schluss, dass gesellschaftliche Maßnahmen, „die auf die Beseitigung von Störungen und die Tilgung von Ambivalenzen abzielen, (…) unweigerlich neue Störungen und Ambivalenzen nach sich“ ziehen. (S. 86f.)
Um Hooligans und danach um Moral und kollektive Emotionen und schließlich um Moral, Ambivalenz und Narration geht es in den folgenden drei Beiträgen von Kim-Claude Meyer und Marco Gerster sowie Bernhard Giesen und danach Werner Binder. Im Hooliganismus ist Gewalt in der Freizeit eine legitime Handlungsoption und Hooligans sind insofern Grenzgänger, so Meyer und Gerster, als sie sich durch kollektive Gewalt vergemeinschaften und daraus ihre ‚Heldenmythen’ spinnen. Die Gewaltausübung muss immer ‚intrinsisch’ motiviert bleiben, wodurch sie dem Beobachter als „entsetzlich, sinnlos und unmenschlich“ erscheint. (S. 98) Darum, weil die Gewalt unbegründet erscheint, sind sie für die Gesellschaft ein Problem und auch, weil „die Referenz auf den Sport (…) eher zweitrangig ist“: „‚Fußball war früher, jetzt ist Schlägerei’“, wird ein Hooligan zitiert. (S. 106) Mit Moral und kollektiven Emotionen setzt sich Giesen zunächst theoriefokussiert (u.a. Kant, Durkheim) auseinander und leitet dabei mit glättenden Floskeln ein (wie: „Kann schon einmal passieren…“), mit denen moralische Verfehlungen ‚entschärft’ und von zu großer Peinlichkeit weggerückt werden. Er schlägt dann den Bogen zu Schadenfreude und Eigennützigkeit und erklärt den scheint´s paradoxen Umschlag in moralische Entrüstung und Mitleid auf kollektiver Ebene aus dem Bestreben, „seine eigenen sündigen Neigungen zu verbergen, das diese Umschlagseffekte in moralische Kommunikation erzeugt.“ Das ruht auf geläufigen individuellen Dispositionen auf: „Wer nämlich sein Innenleben vor Entdeckung schützen möchte, tut dies am besten dadurch, dass er öffentlich und nachdrücklich das Gegenteil vorspielt“. (S. 119) Moralsysteme, so Binder in seinem Beitrag weiter, könnten zum einen „nicht zugleich widerspruchsfrei und vollständig sein, zum anderen unterliegt auch das einzelne moralische Urteil einer Logik des Ungefähren, einer Logik der situativen und narrativen Angemessenheit“ (S. 120), was er an einem Bruchstück der Ethik Kants unter dem Blickwinkel einer „Tyrannei des kategorischen Imperativs und das vermeintliche ‚Unrecht’ zu lügen“ zu verdeutlichen versucht. (S. 124 ff.) Auch damit will er seine These belegen, dass sich moralische Fragen „nicht allgemein und abstrakt beantworten (lassen), sondern (…) auf eine Kontextualisierung und Konkretisierung angewiesen (sind), die sich unter anderem über Narrationen herstellen lässt, die ihrerseits wieder auf mythischen Fundamenten ruhen.“ (S. 137)
Hexenverfolgung, Wahnsinnige und der ‚geborene Verbrecher’, Holocaust, Terrorismus und ‚sinnlose’ Gewalt sind Beispiel und Bezugspunkte für Marco Gerster, um die „(Am)Bivalenz des Bösen“ – so der Untertitel – zu erklären, wobei er gegenüber einer „Vorherrschaft des Reinen“ (also Guten) gerade in einer „‚schmutzverneinenden’ Gesellschaft“ Vorbehalte äußert, da es (wissenschaftlich) gelte, „nicht in die normative Falle der ‚Vorherrschaft des Reinen’“ zu geraten, da das Problem des Bösen nicht nur eine Frage der Klassifikation sei, „sondern auch eine Frage der Perspektive, also eine Frage nach denjenigen, die die Klassifikation anwenden.“ (S. 165) „Unheimlich“, so anschließend Giesen in seinem Beitrag über die Krise der Repräsentation, seien Zwillinge auf mehrfache Weise: „Sie werfen die Frage auf, welcher der beiden Körper als Sitz des autonomen Selbst und der individuellen Identität zu gelten hat und ob der andere Körper, der dann eben nicht mehr selbstbestimmt sein kann, nur als unheimlicher Schein des Lebendigen in einer leblosen Hülle zu gelten hat.“ (S. 166 f.) Wohl als Metapher zu verstehen, kommt er von diesem Zwillings-Beispiel auf das Phänomen, dass und wie durch Medien und Berichterstattungen aus zweiter Hand und über dritte usw. „simulierte Nähe“ erzeugt wird und selbst „Kommunikation durch Fernmedien möglich macht.“ Berichte spiegeln immer andere Berichte und was sie einzig eint, sind „die von den Zuschauern erwarteten Erzählungen“ – über Katastrophen, Krisen u.a.m. (S. 174) Auch der folgende Beitrag über „Vier Grundfiguren des Mythos“ stammt aus der Feder von Bernhard Giesen und macht darauf aufmerksam, dass der Mythos – hier Blumenberg zitierend – „Distanz zum ‚Absolutismus der Wirklichkeit’“ schafft, zugleich aber die mythische Erzählung das Außerordentliche so behandelt, „als ob es etwas Normales wäre“: „Veränderungen im Gewohnten werden erklärt, indem man sie auf mythische Figuren zurückführt und damit als Wiederholung eines vergangenen Geschehens ausweist.“ (S. 190)
Krise und Kollaps, ebenfalls von Bernhard Giesen, Verschwörungstheorien von Kim-Claude Meyer, die Rückkehr der Religion und das dritte Projekt der Moderne sowie Culture Matters, beide Beiträge wiederum von Bernhard Giesen, beschließen den Band. Über den kultursoziologischen Tellerrand und die Öffentlichkeit als „Arena des Krisenbewusstseins“ hinaus, wirft Giesen einen Blick auf die „Handlungslogik der Märkte“ (S. 195), die er relativiert, um auf der Folie der Bedenken gegenüber ihrer Wirkmächtigkeit auf „historische Zwischenlagen“ und „komplexe Prozesse der Evolution“ zu sprechen zu kommen, „die eben nicht auf einen einzigen Wettbewerbsvorteil zurückgeführt werden können“, weil kulturelle „Evolution (…) selten extreme Steigerungen“ prämiert, um abschließend einzuräumen, welch wesentliche Rolle „einem Wechsel von Eliten und Herrschaftssystemen“ zukommt. (S. 199) Am Beispiel von älteren wie aktuellen Verschwörungstheorien macht Kim-Claude Meyer darauf aufmerksam, dass sie ins Aktionistische umschlagen können und am „Anfang vieler Gewaltexzesse, Pogrome und ethnischen Säuberungen standen“. (S. 227) Unter anderem wird eine Parallele zur Krisendiagnostik gezogen, welche die Stelle von Verschwörungstheorien eingenommen hätten, wiewohl die „narrative Überzeugungskraft“ (S. 233) letzterer weit größer sei. Anders als komplexe Erklärungen machten Verschwörungstheorien einen ‚Schuldigen’ dingfest und würden so „Verstehensbarrieren einer überforderten Zuhörerschaft“ überwinden, was dem Verschwörungstheoretiker eine Aussicht ließe, „die den meisten modernen apokalyptischen Narrativen fremd geworden ist: das Hoffen auf eine bessere Welt, ein happy end.“ (S. 234) In der modernen Religionssoziologie wird die These vertreten, der Glaube an die kapitalistische Ökonomie habe religiöse Orientierungen absterben lassen. Ohne darauf näher einzugehen, widerspricht Bernhard Giesen mit seiner These zur Rückkehr der Religion insofern, als sie „ebenso eine Formation im Diskursraum der Moderne“ sei „wie die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts und der innerweltlichen Emanzipation.“ (S. 237) Worum es den ‚Neureligiösen’ geht, ist „Gemeinschaft und Begeisterung“, ist körperliche „Anwesenheit und performative Teilhabe am Ritual“, die so „als die unüberbietbaren Quellen des Selbstbewusstseins“ auftreten. (S. 242 f.) Das religiöse Erlebnis begegnet körperlich, lautet das Argument. Um Culture Matters geht es abschließend, deren Problematik im Hinblick auf kulturelle Integration wiederum Giesen allgemein am Begriff der Fremdheit, der Assimilation und Säkularisierung sowie dem Multikulturalismus durchdekliniert. Der Autor teilt mit Rückgriff auf die Autonomiethese „eine Skepsis im Hinblick auf die institutionelle Manipulation von Kultur und Religion. Tiefe Überzeugungen werden durch Zwang und Geld nicht erreicht. Allein pragmatisch begrenzte Übereinkünfte auf der institutionellen Ebene versprechen Erfolg“, was er als den dritten Weg zwischen „Alarmismus der ‚Selbstabschaffungsthese’ und dem Quietismus der ‚Panikmacherthese’“ sieht.
Diskussion
Dass Kultur (auch) der Bereich des Unbestimmten, Ungefähren ist und sich kulturelle Muster wandeln und überschneiden oder durchmischen, ist so neu nicht und verdient auf der Ebene von Gegenwartsanalysen ob dieser Dynamik immer wieder Beachtung und ist der Beschreibung wert, die theoretisch plausible Erklärungen abverlangt. An Bezugnahmen auf Theorie sind die Beiträge nicht arm. Vertiefendes Querlesen wird angeregt – etwa im Hinblick auf Durkheim (der in einigen Beiträgen Referenzpunkt ist), wo er in seiner Kritik am Dogmatismus auf die Frage, warum sich die Wirklichkeit ändere, antwortet: „Wenn die Welt sich auf etwas hinbewegt, so, weil ihr etwas fehlt: Sie ist noch nicht vollkommen Wirklichkeit.“ Und ein Denken, argumentiert er weiter, das auf „Unveränderlichkeit“ fixiert sei, würde zwar „intellektuelle Sicherheit“ geben, sei jedoch nur „Notbehelf“, um sich auf „etwas Festes“ stützen zu können, „vorgezeichnete Verhaltensmaßregeln zu besitzen, die Zögern oder Zweifeln nicht zulassen, um sich einzureden, daß es keine alternativen Handlungsmöglichkeiten gebe, mithin auch nicht geklärt werden müsse, welche die bessere sei.“ Gerade das Ungefähre, wie es in den Beiträgen in seinen Ambivalenzen bis Widersprüchlichkeiten ausgelotet wird, bietet sich an und provoziert analytisch angeleitetes Weiterdenken darüber, ob und in welcher Erscheinungsform hier (doch) Initiationsmomente für jenes Durkheimsche „Zögern und Zweifeln“ und Nachdenken über jene „alternativen Handlungsmöglichkeiten“ zu lokalisieren sind.
Etliche Beiträge kreisen – und nicht nur im Subtext – um das Phänomen, „daß auf Grund einer bestimmt gearteten Einstellung bestimmter Menschen in einer einem durchschnittlich gemeinten Sinn nach angebbaren Art gehandelt wird, und sonst gar nichts“, wie bei Max Weber nachzulesen ist. Und an gleicher Stelle heißt es, dass eine „völlig und restlos auf gegenseitiger sinnentsprechender Einstellung ruhende soziale Beziehung (…) in der Realität nur ein Grenzfall“ ist und dass alle „Arten von Übergängen (…) hier wie sonst in der Realität die Regel“ sind. Weit vorher argumentierte Adam Smith in „Theorie der ethischen Gefühle“ und da über das „Pflichtgefühl“ vergleichbar: „Die Mehrzahl der allgemeinen Regeln, die von den Tugenden gelten (…), sind in vielen Beziehungen unbestimmt und ungenau, sie lassen viele Ausnahmen zu und erfordern so viele Modifikationen, daß es uns kaum möglich ist, unser Verhalten ganz und gar durch die Rücksicht auf sie zu bestimmen und einzurichten.“ (Nur bei der Tugend der Gerechtigkeit wollte Smith keine Konzessionen machen: „Die Regeln der Gerechtigkeit sind im höchsten Grade genau und lassen keine anderen Ausnahmen oder Modifikationen zu“. – Sein Zeitgenosse Kant bestand so auf „Wahrhaftigkeit“.)
Das wirft die Frage nach ‚gesellschaftlicher Bedingtheit’ auf, danach, wodurch Einstellungen ‚geartet’ werden und Interaktionen strukturiert, wodurch der Rahmen der ‚Modifikationen’ abgesteckt wird. Um diese ‚subjekttheoretische’ Frage kreist häufig auch die Literatur: „Communication is – awful hard between people an’ – somehow between you and me“. Und warum der Mensch wie in diesem Beispiel Geld scheffelt und kauft und kauft, beantwortet Tennessee Williams in „Cat on a Hot Tin Roof“ wie folgt: „in the back of his mind (…) he has crazy hope that one of his purchases will be life everlasting! – Wich it never can be.“ So etwa auch beschäftigt das in den Übergängen nistende Ungefähre in der Spannbreite von Kritik bis utopischer Pfadsuche Kunst und Wissenschaft und steigt aus dem Korsett von Affirmation und Legitimation, bewegt sich in und versuchsweise aus der Welt, die „nicht vollkommen Wirklichkeit“ (Durkheim) ist.
Wie ein vertiefende Beschäftigung mit solchen grundsätzlichen Fragen eben auch darüber, wozu Wissenschaft und vor allem: wozu Soziologie, wird durch die Beiträge vor allem eine weitergehende Reflexion über Moral angeregt, einen der wichtigen Gegenstandbereiche des Bandes, wie im Untertitel ausgewiesen. Mit Wuketits und seiner Frage, „Wie viel Moral verträgt der Mensch?“ und seiner Antwort, dass Moral, dass normative Orientierungen und Wertvorstellungen weitestgehend nicht zu unserer „biosozialen Grundausstattung“ gehören und durch Herrschaftsinteressen affiziert und verzerrt sind, „dass jeder von uns nur einige relativ wenige (Werte) braucht, um ein zumindest halbwegs zufriedenes Leben führen zu können“, ist man darauf verwiesen, ob und wie sich im Ungefähren da, wo es als Moralverletzung erscheint, nicht Widerstand gegen moralische Direktiven auftut, die dank ihrer Fremdbestimmung jenes Lavieren im doppelmoralischen Bereich verursachen, dadurch den „durchschnittlich gemeinten Sinn“ (Weber) bis vor oder hinter die Grenze des moralisch Geächteten oder des Justitiablen strapazieren.
Implizit angesprochen – und in den Beiträgen exemplarisch aufscheinend – sind Fragen um die Historizität moralischer Haltungen, um Definition, jeweiligem Stellenwert und Dynamik von Gut und Böse. Der Gegensatz von Gut und Böse bewege sich „ausschließlich auf moralischem, also auf einem der Menschheitsgeschichte angehörigen Gebiet, und hier sind die Wahrheiten letzter Instanz grade am dünnsten gesäet“, heißt es im Anti-Dühring von Engels. Theoretisch belangvoll ist es insofern, den analytischen Blick darauf zu richten, warum „der Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige Form der Durchsetzung der Individuen ist“, und dass jener scheint’s eherne Gegensatz (die Hegelsche „negative Einheit“) von allgemeinem und privatem Interesse „nur scheinbar ist, weil die eine Seite (…) von der andern (…) fortwährend erzeugt wird und keineswegs ihm gegenüber eine selbständige Macht mit einer selbständigen Geschichte ist, daß also dieser Gegensatz fortwährend praktisch vernichtet und erzeugt wird“, so Marx und Engels in der Deutschen Ideologie. Ob und wie im Ungefähren solche Vernichtung und Erzeugung in nuce virulent ist, wissenschaftliche Erinnerung und perspektivisches Nach- und Weiterdenken darüber wird mit dem Band angeregt.
Wenn das Ungefähre der Ort ist, an dem soziale Ordnung in der Realität mitsamt zugrunde liegenden Handlungsorientierungen elastisch gehandhabt werden, mag aus dieser Kenntnis auch der Blick darauf gerichtet werden, dass nur dort gestohlen oder gelogen werden kann, wo stehlen oder lügen möglich ist. „In einer Gesellschaft, wo die Motive zum Stehlen beseitigt sind (…), wie würde da der Moralprediger ausgelacht werden, der feierlich die ewige Wahrheit proklamieren wollte: Du sollst nicht stehlen!“, heißt es bei Marx und Engels im gleichen Werk. Unter diesem Blickwinkel relativiert sich die „Tyrannei des kategorischen Imperativs“, wie sie Binder für seine Überlegungen zu Moral und Ambivalenz fruchtbar machen will. Kants „strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit“ selbst gegenüber einer solchen Lüge, mit der das Leben eines Menschen zu schützen oder retten wäre, und sein Hinweis, dass das „Recht (…) nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden“ muss, bleibt trotz der seit Simmel gebetsmühlenartig vorgebrachten Kritik zum ggf. nur vermeintlichen Unrecht, wenn man (not)lügt, insofern diskussionswürdig und ist nicht ‚leichtfertig’ abzutun, als Kant ja bekanntlich durchaus bewusst war und er es betont hat, dass wir wohl in einem „Zeitalter der Aufklärung“, nicht aber in einem „aufgeklärten Zeitalter“ lebten, das anzustreben ist, uns zwar auch dadurch, dass man sich die Pflicht zur „Wahrhaftigkeit“ zuwachsen lasse. Das ist etwas Anderes als ein (Not-)Lügen, das solche Zustände, die es abnötigen, erträglich hält und dadurch stabilisiert. Diesbezüglich darf man sich bei Engels in seiner Feuerbach-Kritik vergewissern bzw. seinem Hinweis folgen, wo er das, was bei Binder als ‚Tyrannei’ bezeichnet wird, als den „ohnmächtigen Kantschen ‚kategorischen Imperativ’“ bezeichnet – „ohnmächtig darum, weil er das Unmögliche fordert“, das, was im Hier und Heute ‚unmöglich’ scheint. – Auch mit Durkheim wäre gegenüber der Kant-Kritik von (u.a.) Binder einzuwenden, und zwar im Sinne theoretischer Schützenhilfe, wo sich Durkheim über ‚Denken und Wirklichkeit’ auslässt und bemerkt, der „Wert der Idee“ würde nicht von „deren Beziehung zu einer aktuell gegebenen Realität“ abhängen. Das Kriterium der Wahrheit müsse vor der Idee gesucht werden: „nicht die Beziehung zu etwas bereits Fertigem gilt es zu betrachten, sondern ihr Verhältnis zu etwas, das erst noch zu tun wäre.“
Ein Ungefähr in Bezug auf geteilte Einschätzungen komme nur zu Stande, heißt es in der Einleitung, „wenn wir darauf verzichten, genauer hinzusehen und wenn wir, stattdessen, eine grundsätzliche Unschärfe unserer Wahrnehmung hinnehmen. Der schließlich erreichte Konsens, das ruhige Voranschreiten der Alltagswelt, beruhen so immer auf einer freiwillig akzeptierten Intransparenz, auf Nichtwissen und Wahrnehmungsmängeln.“ Nur so könne sich „Gemeinschaftlichkeit“ bilden. (S. 8) Auch dieser Aspekt wird im Band erhellt. An Popitz ist man erinnert und seine bekannte These zur Präventivwirkung des Nichtwissens, die zentral besagt, dass ein Normensystem die Entdeckung aller Normbrüche nicht aushalten würde, was auf einer weniger spektakulären, eben nicht bagatellkriminellen, aber vom Moralkodex abweichenden Ebene auf die hier zur Frage stehende „Intransparenz“ zu wenden ist. Doch diesbezüglich kann man schon bei Sophokles fündig werden: „Nicht allem spüre nach. Gut ist’s, dass viel verborgen bleibt.“
Fazit
In der Tat bietet der Band einen bunten „Strauß von Themen“ und für den Leser ist es keineswegs nur ein „Abstecher ins Land des bloß Vagen oder Verschwommenen“ und jede „der Abhandlungen ist (…) verständlich formuliert und führt plausible soziologische Argumentationen vor“, wie Hahn in seinem Nachwort schreibt. (S. 259) Mehr noch: Die Autoren schließen an das Niveau einer älteren deutschen Soziologie an und auch einer kritischen, ‚gucken genau hin’ auf das, was als marginal erscheinen mag oder Quisquilien und doch so bedeutsam, will man Gesellschaft und das Handeln und Verhalten der Individuen als eben gesellschaftliches verstehen. Daher dürfte das Buch zum einen für soziologische Seminare eine Bereicherung und vor allem Diskussionsplattform sein, zum anderen das Interesse all jener finden, die Aufklärung über sich selbst und ihre psychosozialen Lebensumstände wünschen, vor allem über das, was man sich in den Routinen des Alltags nicht bewusst macht, was vielleicht irritiert, Unmut erzeugt, wo kognitive Dissonanzen reduziert werden müssen oder was flugs beiseite geschoben wird.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 05.09.2014 zu:
Bernhard Giesen, Werner Binder, Marco Gerster, Kim-Claude Meyer: Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral. Velbrück GmbH Bücher & Medien
(Weilerswist) 2014.
ISBN 978-3-942393-64-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17246.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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