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Banu Citlak, Angelika Engelbert et al. (Hrsg.): Lebenschancen vor Ort

Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 06.02.2015

Cover Banu Citlak, Angelika Engelbert et al. (Hrsg.): Lebenschancen vor Ort ISBN 978-3-86388-046-0

Banu Citlak, Angelika Engelbert, David H. Gehne, Ralf Himmelmann, Annett Schultz et al. (Hrsg.): Lebenschancen vor Ort. Familie und Familienpolitik im Kontext. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 310 Seiten. ISBN 978-3-86388-046-0. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 47,90 sFr.

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Thema

In diesem Sammelband geht es einerseits um das forschende Erfassen des Familienlebens und der Entwicklung von Familien, vor allem im räumlichen Kontext und zum anderen um die Identifizierung von Unterstützungsmöglichkeiten für Familien durch örtliche Familienpolitik.

Entstehungshintergrund

Anlässlich des 65. Geburtstages von Klaus Peter Strohmeier, Professor für Soziologie/Stadt und Region, Familie an der Ruhr Universität Bochum und wissenschaftlicher Direktor der Faktor Familie GmbH, haben 16 Wegbegleiter und Wegbegleiterinnen in einer speziellen „Festschrift“ sein umfangreiches wissenschaftliches Werk gewürdigt, indem sie mit ihren Beiträgen daran anknüpfen und es in den Schwerpunkten fortsetzen.

Aufbau

Nach einer Einleitung umfasst der Band vier Teile: im ersten geht es um Familienleben und die Familienentwicklung, im zweiten um Familie und soziale Ungleichheit, im dritten um Region, Stadt und Sozialraum als Kontextfaktoren für Familien und im letzten Teil um lokale Politik für Familien.

Inhalt

Die vier ersten Beiträge stehen in der Tradition soziologischer Forschung. Hans Joachim Schulze fragt danach, was die Entscheidung für ein zweites Kind beeinflusst und sieht sowohl in dem Wert, der der Elternschaft zugemessen wird als auch in der Kommunikation der Partner zur Frage, ob sie ein zweites Kind wollen, die entscheidenden Faktoren. Johannes Huinink bietet einen systematischen Aufriss zu den Aspekten des Zusammenhangs von räumlicher Mobilität und Familienentwicklung im Lebenslauf und plädiert darauf aufbauend für komplexe Analysen. Karsten Hank untersucht am Beispiel von Deutschland und Schweden die Beziehung zwischen Fertilität und öffentlichen Kinderbetreuungsangeboten und kommt zu dem Schluss, dass diese Angebote nur im Kontext der gesamten Familienpolitik die Fertilität positiv beeinflussen. Alois Herlth beschreibt die gegenwärtige Pluralisierung und den häufigen Wechsel der Lebensform und empfiehlt einer Familienpolitik, die dem Schrumpfen des familiären Sektors (Strohmeier) entgegen wirken will, die Brüchigkeit der Paarbeziehungen als Normalfall zu sehen und die familienstrukturelle Vielfalt zu akzeptieren und zu stützen.

Wie man soziale Ungleichheit erfassen kann und wer von ihr warum betroffen ist, darum geht es in den nächsten vier Beiträgen. Christoph Weischer begründet in seinem Beitrag, warum sich die Haushaltsperspektive neben der makrostrukturellen Ebene für eine Analyse sozialer Ungleichheit besonders eignet: auf der Haushaltsebene werden wichtige Entscheidungen über die Arbeitsteilung ( bezahlte und unbezahlte Arbeit ) aber auch über Mobilität, Gesundheit und Bildung getroffen. Hans-Georg Tegethoff interessiert der Beitrag des Hochschulsystems für die Tradierung ungleicher Bildungschancen. Eine Analyse von Abiturdurchschnittsnoten und der Studienabschlussnoten von Hochschulabsolventen mit und ohne Migrationshintergrund deutet darauf hin, dass sich die soziale Zusammensetzung der Studierenden mit Migrationshintergrund zu Beginn und am Ende des Studiums sehr unterscheidet. Um die Hintergründe für diesen Befund besser zu verstehen, sollte seiner Ansicht nach die Hochschulforschung von der Schulforschung lernen und ebenfalls Längsschnittanalysen vornehmen. Aladin El-Mafaalani stellt Ergebnisse einer biographischen Forschung bei Bildungsaufsteigern vor: Sie brauchen nicht nur erheblichen Fleiß und viel Talent, um an der Hochschule erfolgreich zu sein, vielmehr müssen sie auch emotionale Krisen bewältigen, wenn sie sich aus dem Herkunftsmilieu entfernen. Diese Belastung kann allerdings auch zu einem Motor von Kreativität werden. Um die gesellschaftliche Entwicklung und die Verwerfungen der „gesellschaftlichen Mitte“ zu einer „erschöpften Mitte“ geht es Rolf G. Heinze: Der Wegfall gerade traditioneller wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme führt zu Verunsicherung. Er setzt aber auf die Handlungsfähigkeit der Politik, die er für fähig hält, die individualisierte Selbstverantwortung wieder in kollektive Verantwortung zu überführen.

Der Einfluss räumlicher Faktoren auf die Lebenslage von Familien steht im Mittelpunkt dieses dritten Teiles. Annett Schulz fragt nach der Lebenssituation von Mehrkindfamilien in NRW und kommt zu dem Schluss: Mehrkindfamilien sind eine heterogene Familienform (Ehepaare, Patchworkfamilien, Lebensgemeinschaften, Alleinerziehende, verschieden nach Bildungsstand und Migrationshintergrund). Sozialräumlich polarisiert sie aber der Wohnort: es finden sich auf der einen Seite gering qualifizierte Migranten mit mehreren Kindern in den Armutsvierteln der großen Städte mit sozialen Problemlagen, auf der anderen Seite eher höher bis hoch qualifizierte Mehrkindfamilien ohne Migrationshintergrund und einer höheren Erwerbseinbindung der Mütter in den wohlhabenderen Stadtteilen. Dass eine Mehrebenenanalyse, wie sie das sozialökologische Sozialisationsmodell bietet, zu mehr als der Empfehlung von Sprachförderung führt, zeigt Banu Citlac auf: erst wenn Bildungsinstitutionen die Eltern früh einbinden und mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren, können signifikante Veränderungen in den Lebenslagen von Migrantenkindern bewirkt werden. Bernhard Butzin, Katrin Oemmelen und Raimund Pahs stellen ihr, von Peter Strohmeier inspiriertes Forschungskonzept für die Entwicklungszusammenarbeit in Namibia vor: Sie beschreiben das partizipationsorientierte, mikroanalytische TALK-Konzept, mit dem örtliche Eliten zu den Bedürfnissen und zu Unterstützungsleistungen der Bevölkerung befragt wurden und das auf Aktivierung und Verbesserung lokaler Angebote und die effektive Gestaltung regionaler und globaler Vernetzung zielt. Sie sehen dieses Konzept als weiterführenden Beitrag für die Diskussion in der Entwicklungszusammenarbeit an. Jörg Bogumil und Sascha Gerber würdigen direkt die Arbeiten von Strohmeier, indem sie diese in die Stadtsoziologie einordnen. Dadurch bieten sie einen umfangreichen, aufschlussreichen Einblick in sein forschendes Denken und dessen Handlungsorientierung.

Im letzten Teil geht es um die kommunale Politik. Wie örtliche Familienpolitik gemanagt werden sollte, entwickelt Holger Wunderlich. Als Instrumente der strategischen Kontextsteuerung nennt er: Familienberichterstattung, Leitbildentwicklung, Fortbildung und Modellprojekte. Angelika Engelbert greift die den meisten Familien fehlende Zeitsouveränität als Problem auf und sieht darin einen Mangel, der mit einer zeitsensiblen kommunalen Familienpolitik ein wenig behoben werden könnte. Sie argumentiert, dass die familiale „Co-Produktion“, die z.B. in der Erziehung, dem bürgerschaftlichen Engagement oder der Partizipation besteht, ohne eine Verbesserung der zeitlichen Bedingungen für Familien kaum noch erwartet werden kann. Auch politische Beteiligung durch Wahlen und Mandatsübernahme hat sozialräumliche Bedingungen: beides wird von Angehörigen der Mittelschicht dominiert, wie David H. Gehne belegt. Sollen die Demokratiepotentiale in der „Unterstadt“ gehoben werden, müssen die Bewohner und Bewohnerinnen hier gezielt angesprochen und direkt aktiviert werden. Kinder sollten in ihrem jeweiligen Umfeld Partizipation lernen können, für Erwachsene sollte es Partizipationschancen geben (z.B. Strohmeiers „Selbermachprojekte“ ) und Parteien sollten in diesen Stadtteilen gezielte Mitgliederwerbung betreiben. In einem engagierten und kritischen Rückblick skizziert Franz-Xaver Kaufmann die Entwicklung der Familienpolitik in Deutschland. Ihre Defizite sieht er vor allem im Mangel an familienunterstützende Dienstleistungen, ihre Potentiale darin, dass sie vor allem die vorhandenen Kinder von Anfang an fördern könnte.

Diskussion

Die 16 Beiträge unterscheiden sich in vieler Hinsicht: teils behandeln sie theoretische Probleme, teils legen sie empirische Befunde vor, mal beziehen sie sich auf NRW, mal auf Afrika, sie behandeln kleinteilige Probleme oder große Fragen. Immer geht es aber um die Verbesserung der Lebensbedingungen von Familien, vor allem der Familien, die benachteiligt sind. Allen, die Peter Strohmeier noch nicht kannten, vermittelt diese Lektüre einen vielfältigen, aber relativ klaren Eindruck von seinem Denken und seinen Forschungsarbeiten. Diese „Festschrift“, die keine sein soll, tut das, was Peter Strohmeier wohl am meisten am Herzen liegt: sie interessiert für und motiviert zu forschendem Handeln für Familien in ihren je unterschiedlichen sozialräumlichen Strukturen. Dabei geht es aber nicht um Forschung um der Forschung willen sondern um handlungsorientierte Problemlösungen. Die Beiträge zeigen, dass Forschungsarbeiten die richtigen Fragen stellen und die richtigen Analyseebenen finden müssen. Ohne die soziale Benachteiligung direkt in den Blick zu nehmen, kann sie auch nicht abgebaut werden und ohne die Betroffenen zu beteiligen können auch keine wirksamen Lösungen gefunden werden.

Fazit

Dieser Band bietet vielen etwas: Wissenschaftlich Arbeitenden und Interessierten aus Soziologie, Politikwissenschaft oder Ökonomie sei besonders der erste Teil empfohlen, Praktiker_innen, die sich für Sozialpolitik, Bildungspolitik oder Migrationspolitik interessieren, der zweite Teil. (Kommunal)politiker_innen, die soziale Ungleichheiten in der Kommune im Blick haben und daran etwas verändern wollen, sollten unbedingt die Beiträge der letzten beiden Teile lesen und in ihrer praktischen Arbeit umsetzen.

Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 47 Rezensionen von Barbara Stiegler.

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ISSN 2190-9245