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Nicole Bögelein, André Ernst et al.: Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen

Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Riekenbrauk, 05.03.2015

Cover Nicole Bögelein, André Ernst et al.: Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen ISBN 978-3-8487-0865-9

Nicole Bögelein, André Ernst, Frank Neubacher: Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen. Evaluierung justizieller Haftvermeidungsprojekte in Nordrhein-Westfalen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 149 Seiten. ISBN 978-3-8487-0865-9. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR, CH: 55,90 sFr.

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Thema

Seit Langem steht das strafrechtliche Sanktionensystem im Fokus rechtspolitischer Debatten. Insbesondere wird kritisiert, dass neben der Freiheitsstrafe nur die Geldstrafe als weniger belastende Sanktion zur Verfügung steht, die jedoch in Fällen sogenannter Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden können. Dies bedeutet für zu bloßen Geldstrafen Verurteilte, dass sie dennoch im Gefängnis landen, wenn sie die Geldstrafe nicht bezahlen. So sieht es § 43 StGB vor. Die Folge davon ist, dass ca. 9% der zu einer Geldstrafe Verurteilten zumindest einen Teil ihrer Strafe in Form der Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt; das sind ungefähr 7% aller Strafgefangenen oder etwa 70% aller Neuzugänge mit Kurzstrafen in den Justizvollzugsanstalten. Die soziale Lage der Betroffenen zeichnet sich durch hohe Verschuldung aufgrund von Arbeitslosigkeit, fehlende familiäre Bindungen, geringere Sozialkompetenz, oft suchtbedingte psychische Störungen und überdurchschnittliche Wohnungslosigkeit aus. So wird zu Recht kritisiert, dass Verurteilte aus prekären wirtschaftlichen Verhältnissen ein ungleich höheres Risiko tragen, auch bei leichterer Kriminalität eine Freiheitsstrafe zu verbüßen, und damit wiederum Opfer sozialer Ungerechtigkeit werden.

Umso mehr gewinnt die Vermeidung einer Ersatzfreiheitsstrafe an Bedeutung. Das Angebot an die Verurteilten ist dabei, durch gemeinnützige, unentgeltliche – freie – Arbeit die Geldstrafe zu tilgen. Die Frage, inwieweit das (nicht) gelingt, ist Ausgangspunkt für die vorliegende Studie.

Autoren

Prof. Dr. jur. Frank Neubacher ist Leiter des Instituts für Kriminologie der Universität zu Köln. Die Mitautorin Dipl.-Soz. Nicole Bögelein und der Mitautor Dipl.-Soz. André Ernst sind wissenschaftliche Mitarbeiter im Institut für Kriminologie. Die Studie gehört zu den Kölner Schriften zur Kriminologie und Kriminalpolitik (Band 17).

Aufbau und Inhalt

Die Studie, die vom Justizministerium NRW in Auftrag gegeben wurde, bezieht sich auf eine zum 01. Januar 2011 erlassene Verordnung über die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch freie Arbeit und einen vom nordrhein-westfälischen Justizminister herausgegebenen Erlass zur „Landesweite(n) Umsetzung von Maßnahmen zur verbesserten Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafen durch freie Arbeit“. Evaluiert wurde die Implementierung der ministeriell verordneten Maßnahmen in den Landgerichtsbezirken Aachen, Bielefeld, Duisburg, Kleve, Köln, Paderborn.

Die Studie gliedert sich in insgesamt sechs Abschnitten.

  • Zunächst werden der Hintergrund der Untersuchung ( 1.),
  • der Stand der Forschung (2.) sowie
  • die Datengrundlage und Analyseergebnisse (Staatsanwaltliche Daten, Aktenanalyse, Interviews und Gruppendiskussionen) dargestellt.
  • Im 4. Abschnitt werden die Zusammenarbeit der beteiligten Organisationen in den z.T. unterschiedlichen Ablaufverfahren, die Kooperationsweisen, das jeweilige Selbstverständnis der Akteure und die Art der Fallübergabe analysiert.
  • Der 5. Abschnitt widmet sich den Verurteilten und den von diesen vorgetragenen Gründen für gescheiterte Haftvermeidung sowie den strukturellen Problemen, die ebenfalls zu einem Scheitern beitragen.
  • Im letzten Abschnitt werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst und Handlungsempfehlungen gemacht. Neben dem Literaturverzeichnis werden schließlich im Anhang die Erhebungsinstrumente, der Aktenanalysebogen, der Interviewleitfaden, der Fragebogen sowie der Leitfaden für Gruppendiskussionen präsentiert.

Diskussion

Wenn man bedenkt, in welchem Ausmaß Menschen in den Freiheitsentzug geraten, weil sie nicht die gegen sie verhängten Geldstrafen bezahlen können, und damit einem Teufelskreis von Stigmatisierung, sozialer Ausgrenzung und weiterer Destabilisierung ihrer Persönlichkeit verhaftet bleiben, dann erstaunt es, dass es doch recht wenig Studien dieser Art wie die hier vorgestellte gibt. Die Bedeutung des – nach wie vor unterschätzten - Themas muss zu weiterem Nachdenken über vielfältigere Möglichkeiten der Haftvermeidung beitragen. Solange der zuständige (Bundes-)gesetzgeber weiterhin keine Anstrengungen unternimmt, durch eine Politik der Entkriminalisierung und Entpönalisierung das Sanktionensystem zu reformieren, sind auf der Ebene der praktischen Umsetzung von Haftvermeidung mehr Information und Betreuung der betroffenen Verurteilten sowie effizientere Verfahrensabläufe verbunden mit verbesserter Kooperation von Rechtspflegern bei den Staatsanwaltschaften und den SozialarbeiterInnen in den ambulanten Sozialen Diensten der Justiz sowie den Freien Trägern unbedingt erforderlich. Die in der vorgestellten Studie erarbeiteten Verbesserungsvorschläge und Handlungsempfehlungen sind insgesamt überzeugend und ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Interessant an dem Ergebnis der Studie sind u.a. die unterschiedlichen Rollen und das damit verbundene Selbstverständnis der Akteure, die an der Entscheidung über die Verhinderung oder Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen beteiligt sind; auf der einen Seite, nämlich der Staatsanwaltschaft, sind es die Rechtspfleger, die eher ein distanziertes, von Misstrauen geprägtes Verhältnis zu den Verurteilten haben; auf der anderen Seite (der ambulanten Sozialen Dienste der Justiz sowie der freien Träger) sind es die Sozialarbeiter, die sich der sozialen und persönlichen Problematik dieser Klientel annehmen und ihr Verständnis entgegenbringen. Damit die erforderliche Kooperation zwischen den beiden Seiten besser gelingt, empfehlen die Verfasser der Studie gegenseitige Hospitationen und sogenannte Tandemlösungen. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Vorschlag wie auch die anderen Empfehlungen in die Tat umgesetzt werden.

Fazit

Allen, die sich im Studium oder in der Praxis mit dem Thema der Haftvermeidung und der Verhinderung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen beschäftigen, kann die Studie zur Lektüre nur empfohlen werden.

Rezension von
Prof. Dr. Klaus Riekenbrauk
Rechtsanwalt, emeritierter Hochschullehrer an der Hochschule Düsseldorf, Vorsitzender der Brücke Köln e.V.
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Es gibt 21 Rezensionen von Klaus Riekenbrauk.

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Zitiervorschlag
Klaus Riekenbrauk. Rezension vom 05.03.2015 zu: Nicole Bögelein, André Ernst, Frank Neubacher: Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen. Evaluierung justizieller Haftvermeidungsprojekte in Nordrhein-Westfalen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. ISBN 978-3-8487-0865-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17265.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.


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