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Christian Ernst (Hrsg.): Geschichte im Dialog?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.08.2014

Cover Christian Ernst (Hrsg.): Geschichte im Dialog? ISBN 978-3-89974-987-8

Christian Ernst (Hrsg.): Geschichte im Dialog? „DDR-Zeitzeugen“ in Geschichtskultur und Bildungspraxis. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2014. 314 Seiten. ISBN 978-3-89974-987-8. D: 24,80 EUR, A: 25,50 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Sind Zeitzeugen eigenständig Erzählende oder Galionsfiguren einer Geschichtserzählung?

Die (alte) Methode der Oral History will ja bewirken, dass Quellen der Geschichtsaufnahme und -vergewisserung „lebendig“ werden und Historiker und Geschichtenerzähler nicht nur auf schriftliche oder mündlich überlieferte Zeugnisse des geschichtlichen Gewordenseins der Menschen angewiesen sind. „Zeitzeugen“ erinnern sich und berichten über Situationen und Zeitläufte, die sie erlebt haben. In der Geschichts- und Politikwissenschaft haben Zeitzeugen vor allem in der Holocaust-Forschung Bedeutung erlangt. Die Erzählungen über erlebte Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten sollen ein „Nie wieder!“ an die lebende (vor allem junge) Generation weiter geben. Die sich in der Oral History als Public History entwickelte Geschichtsforschung will damit Authentizität, Glaubwürdigkeit und Wahrheit vermitteln und so das Bewusstsein der Menschen für ihr Geschichtssein stärken.

Es sind die soziokulturellen Dimensionen des Erinnerns, die den Anspruch erheben, dass wahres Erinnern nicht nur ein zufällig stattfindender Akt ist, sondern ein aktives, willentliches Sicherinnern im Jetzt-Bewusstsein, also als intellektuelle Fähigkeit des Denkens zu verstehen ist. Das betrifft sowohl die individuelle Erinnerung, wie auch das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft, eines Volkes oder der Menschheit (Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php). „Wenn man mit dem Gedächtnis tätig ist, sagt man in der Seele, dass man in der Vergangenheit etwas wahrgenommen oder gelernt hat„; diese aristotelische Vorstellung von mnêmê, Gedächtnis, ist heute, in der sich immer interdependenter, entgrenzender (und vergesslicher?) entwickelnden (Einen?) Welt geforderter denn je; denn „in modernen Gesellschaften (verlaufen) Lebensläufe nicht mehr linear, auf generationellen und traditionellen Konzepten fußend“. Sie sind vielmehr „hochriskant, von Brüchen gekennzeichnet, so dass eine fortwährende Vergewisserung der Vergangenheit erforderlich ist“ (Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer, Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12904.php). Weil erzählen sich als funktionale Kulturtechnik zeigt und sich in der Narratologie, der Erzählforschung artikuliert und etabliert hat, kommt es darauf an, dass es sich beim Erzählen nicht in erster Linie darum geht, „beliebige Sachverhalte (zu) benennen und damit auch mental (zu) repräsentieren und (zu) kommunizieren, sondern auch Probleme (zu) erklären, Emotionen (zu) evozieren, andere (zu) beeinflussen und somit eigene Interessen durch(zu)setzen“ (Werner Früh / Felix Frey, Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16883.php).

Entstehungshintergrund und Herausgeber

In der (schulischen und außerschulischen) Politischen Bildung wird Geschichtslernen als dialogisches Prinzip angewandt. Dabei wird bedeutsam, dass sich Bildungsprozesse als biografisches Lernen vermitteln (Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11821.php). In der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte haben Zeitzeugen-Erzählungen eine besondere Bedeutung; und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen gilt es, eine objektive Aufarbeitung der SED-Diktatur zu leisten und damit Geschichtsverklitterungen, -verklärungen und verfälschungen entgegen zu wirken; zum anderen den Anspruch zu erheben, durch „wissenschaftliche Analyse und praktische Anregungen für die Bildungsarbeit zu verbinden, um Anregungen für eine geschichtskulturell und pädagogisch reflektierte Arbeit mit Zeitzeugen zur DDR- und (deutsch-)deutschen Geschichte nach 1945 zu geben“.

Mit der Zielsetzung „Erinnerung als Auftrag“ will die Berliner „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ (www.bundesstiftung-aufarbeitung.de) mit Aufklärung und Information dazu beitragen, „den Wert unserer Demokratie heute und für zukünftige Generationen deutlich zu machen“. Mit dem 2011 an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen eingerichteten “Koordinierenden Zeitzeugenbüro“ (www.ddr-zeitzeuge.de) wurde eine Einrichtung geschaffen, um „Geschichte zum Anfassen“ weiter zu geben. Das Praxisforschungsprojekt „Zeitzeugen zur DDR-Geschichte in der außerschulischen Bildung“, das unter der Leitung des Literaturwissenschaftlers Christian Ernst vom Verein “Zeitpfeil“ (www.zeitpfeil.org), vom Bildungswerk der Humanistischen Union NRW (www.hu-bildungswerk.de), dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (www.zzf-pdm.de), dem Politischen Arbeitskreis Schulen e.V. (www.pas-bonn.de) und dem Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik der Universität Potsdam (www.uni-potsdam.de/db/geschichte/) 2011 und 2012 durchgeführt wurde, hat sich zur Aufgabe gestellt, durch Information, Aufklärung und Weiterbildungsveranstaltungen dazu beizutragen, „kritisches Denken, Toleranz, Dialogfähigkeit und gesellschaftliches Engagement insbesondere junger Menschen (zu) fördern und zum Abbau von Vorurteilen und mentaler Grenzen, gezielt auch zwischen Ost- und Westdeutschen beitragen“. Die Diskurse und Ergebnisse der Forschungsarbeit werden mit dem Band „Geschichte im Dialog?“ vorgelegt.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband wird in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird über „Wissenschaft und Geschichtskultur“ referiert und berichtet; im zweiten Teil wird „Geschichtskultur und Bildungspraxis“, untergliedert in die Bereiche „Zeitzeugen und Biographien in der politisch-historischen Bildung“, „DDR-Zeitzeugen in Museen und Gedenkstätten“ und „DDR-Zeitzeugen im Internet“, thematisiert und „Anregungen für die Bildungspraxis“ vermittelt. Im Anhang wird ein Bericht zur Tagung „Opfer, Täter, Jedermann?“ abgedruckt.

Der Historiker von der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin, Martin Sabrow, stellt mit seinem Beitrag „Die DDR zwischen Geschichte und Gedächtnis“ die Entwicklung in der zeitgeschichtlichen Forschung nach 1990 dar und setzt sich mit den Aspekten zur „Aufarbeitung“ der DDR-Geschichte auseinander. Er plädiert im Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher Aufarbeitung und Erschließung zur DDR-Forschung dafür, dass sich die Auseinandersetzung „nicht gegen die öffentliche Beanspruchung, sondern in ihr ( ) Zeitgeschichte als Wissenschaft sich heute behaupten“, und „ihren Platz in der deutschen und europäischen Geschichte … im Spannungsfeld von fachlicher Historisierung und öffentlicher Aktualisierung … suchen (muss)“.

Der Literaturwissenschaftler und Historiker Peter Paul Schwarz fragt in seinem Beitrag „Vom NS- zum DDR-Zeitzeugen?“ nach der Begriffsgeschichte vor und nach 1989/90. Dabei setzt er sich mit den vielfach benannten Parallelitäten und Besonderheiten bei der Verwendung von Zeitzeugenschaft in der Geschichtswissenschaft auseinander. Er verweist auf die Bedeutung in der medialen Entwicklung, zeigt Zusammenhänge im Zuge der NS-Vergangenheitsbewältigung und zur DDR-Geschichte auf und stellt fest: „DDR-Zeitzeugenschaft (unterliegt) Funktionalisierungen, Zuschreibungen und Erwartungen, ein bestimmtes Geschichtsbild zu vermitteln“.

Der Potsdamer Historiker Christoph Classen referiert über „Zeitzeugen und Medien“, indem er über die Entstehung und Problematik einer populären Figur der Erinnerungskultur nachdenkt. Der Einfluss und die Verfügbarkeit von medialen Quellen provoziert die Frage nach der gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung von Zeitzeugen-Berichten, der Verifizierung oder Falsifizierung von „konservierten“ Zeitzeugen-Erzählungen: „Der Zeitzeuge funktioniert nicht länger als Vermittler zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wir müssen diese schwierige Aufgabe dann wieder selbst übernehmen“.

Der Historiker von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Michael Schneider, fragt in seinem Beitrag „Konformismus und Widerstand in der DDR“ nach Formen des Alltagsverhaltens als Ausdruck von politischen Bekenntnissen? Er nimmt Haltungen, Verhaltensweisen und Handlungen in den Blick, wie sie sich im Alltag der DDR-Bevölkerung dargestellt haben. Er zeigt Formen der Zustimmung, also des Konsenses, als auch des Widerstandes, des Dissenses, auf, und registriert „einen fließenden Übergang von den individuellen und verdeckten Formen der Opposition über den öffentlichen politischen Protest bis zum massenhaften politischen Widerstand“. Bemerkenswert dabei ist, dass die Mehrheit der 1989 Protestierenden anfangs auf Reformprozesse hin zu einer „liberaleren“ DDR hofften und Auflösungsforderungen erst lauter wurden, als deutlich wurde, dass die DDR-Führung weder reformwillig noch -fähig war.

Der Historiker Raiko Hannemann setzt mit seinem Beitrag „DDR-Oppositionsforschung und Erinnerungsprozesse“ mit den Entwicklungen und Konflikten in der deutschen Nachkriegsgesellschaft auseinander. Er diskutiert Prämissen und Defizite, wie sie sich in der klassischen Oppositionsforschung darstellen und als Historisierung zeigen. Er stellt einen Mangel an „be-greifender“ Erinnerungsarbeit fest und setzt sich dafür ein, durch „konstruktiv-dynamische(s) Verbalisieren und (Be-)Greifen von Erinnerungen … sozialpsychologisch-narratologische( ) und modernisierungskritische( ) Perspektiven auf Handlungsmuster und -möglichkeiten in konkrete(n) historisch-gesellschaftliche(n) Konstellationen“ umzusetzen.

Die Hamburger Historikerin Dorothee Wierling beginnt den zweiten Teil mit dem Beitrag „Oral History und Zeitzeugen in der politischen Bildung“. Das Spannungsverhältnis verdeutlicht sie dadurch, dass sie auf die unterschiedlichen Methoden und Bildungsansprüche verweist und die Bedeutung und Funktion der Zeitzeugenschaft als Gegenfigur zum Interviewpartner beim Oral History platziert. Die unterschiedlichen Wirkungs- und Aussagefunktionen der methodischen Handhabung werden von der Autorin an einer Reihe von theoretischen Reflexionen und praktischen Beispielen verdeutlicht.

Sabine Moller von der Humboldt-Universität stellt mit ihrem Beitrag „Zeitzeugen und Geschichtsbewusstsein“ ihre (schulischen) Forschungsergebnisse über Möglichkeiten und Grenzen von Familienerinnerungen als historisches Quellenmaterial vor. Die „Förderung demokratischer Orientierung“ als ein Ziel der historisch-politischen Bildung wird sowohl im Unterricht, als auch z. B. bei Besuchen von Erinnerungsorten möglich. Die „kognitive Konfrontation“ als eine didaktisch-methodische Form der Lernauseinandersetzung bietet die Chance zu „Transferleistungen und ein damit verbundener überlegter bzw. reflektierter Umgang mit Zeitzeugenerzählungen“.

Die Erwachsenenbildnerin Heidi Behrens und der Sozialwissenschaftler und Geschäftsführer des Bildungswerks der Humanistischen Union NRW, Norbert Reichling, thematisieren „Zeitgenossen als Lernende und Experten“, indem sie über Erfahrungen zur biographischen Kommunikation über die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte berichten und den biographischen Ansatz in der Erwachsenenbildung diskutieren. Sie plädieren dafür, die Konzepte zur biographischen Kommunikation in Theorie und Praxis der politischen Bildung weiter zu entwickeln; das „birgt nicht nur Potentiale der Lernmotivation, sondern vermag auch eine angemessene Komplexität von Geschichtsbildern zu fördern“.

Die Erziehungswissenschaftlerin von der Justus-Liebig-Universität Gießen, Ingrid Miethe, titelt: „Dominanz und Hierarchien begegnen“ und setzt sich mit interkulturellen Dimensionen deutsch-deutscher Biographiearbeit auseinander. Sie zeigt an Beispielen und Begebenheiten von deutsch-deutschen Begegnungen und Dialogen selten hinterfragte und kritisch reflektiertes Dominanzverhalten und -einstellungen auf. Die sich in Ost-West-Biographien verdeutlichenden Hierarchien lassen sich nur überwinden, wenn es gelingt, „die ostdeutsche Geschichte ( ) nicht isoliert von der westdeutschen zu verstehen“. Die beinahe tautologisch wirkende Erkenntnis – „Es sind nicht nur die Ostdeutschen, die ggf. etwas ‚aufzuarbeiten‘ haben, sondern auch die Westseite muss sich und ihre Normalität hinterfragen“ – gründet in einem Bildungsauftrag und einer Lernherausforderung!

Heidi Behrens und Norbert Reichling führen mit dem politischen Bildner, Zeitzeugen und Bürgerrechtler Martin Klähn, einem Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung „Neues Forum“ und derzeitigen pädagogischen Leiter beim Schweriner Verein „Politische Memoriale“, ein Interview: „Die Bildungsarbeit war für mich die Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung mit anderen Mitteln“. Die biographischen, individuellen und gesellschaftspolitischen Aussagen Klähns vermitteln: „Ich bin ja sowieso der Meinung, dass die interkulturellen Aspekte in der Begegnung von Ost und West bisher vernachlässigt worden sind“.

Christian Ernst führt ein Gespräch mit dem ehemaligen SED-Mitglied, zeitweiligem FDJ-Sekretär und späteren Kritiker des DDR-Regimes, was dazu führte, dass Bernd Wittich 1988 aus der DDR ausgebürgert wurde. „Ich verstehe die Tätigkeit als politischer Bildner nicht nur als eine, in der man moderiert„; vielmehr geht es darum, politische Bildung als Werte- und Arbeitnehmerbildung zu verstehen und zu vermitteln. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR und des Ostblocks könnte auch dazu führen, sich gesellschaftliche Alternativen zur heutigen, kapitalistischen Welt zu denken.

Die Historikerin Irmgard Zürndorf thematisiert mit ihrem Beitrag „Personalisierung, Emotionalisierung und Multiperspektivität“ Themen, Formen und Funktionen von Zeitzeugen in Museen und Gedenkstätten zur DDR-Geschichte. „Mitlebende“ können vielfältige Funktionen bei den Auseinandersetzungen und der Präsentation von zeitgeschichtlichen Ereignissen einnehmen: Kuratoren, Gestalter, Pädagogen, Interviewpartner, Leihgeber und Besucher. Ihre Wirkungen und Möglichkeiten im Rahmen der Zeitzeugenforschung sind bisher beachtet. Die Autorin vermittelt einen Überblick über Aspekte zur thematischen Gliederung von Ausstellungen zur DDR-Geschichte und diskutiert Formen der Einbindung und Präsentation von Zeitzeugen und Ansichtsmaterialien. Mit der Forderung nach der „Präsentation des ganzen Menschen“ und seinen zeitgeschichtlichen und mentalen Gegebenheiten regt sie eine intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik an.

Die Historikerinnen der Gedenkstätte Bautzen, Silke Klewin und Cornelia Liebold, stellen mit ihrem Beitrag „Komplexes Gedenken“ Konzepte und Erfahrungen der Zeitzeugenarbeit an historischen Orten des DDR-Unrechts vor. Es sind die architektonischen, martialischen „steinernen Zeugen“ der mittlerweile unter Denkmalsschutz stehenden Gedenkstätten, die mit ihrer besonderen „Aura“ Authentizität und Anschaulichkeit vermitteln und eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellen können. Es sind die Chancen und Gefahren der Einbindung und Präsentation von Erlebtem und durch Zeitzeugen präsentiertem Erleben von Unrecht, Strafen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, die in der Zeitzeugenforschung bisher nicht ausreichend bedacht worden sind.

Die Berliner Ausstellungskuratorin Stefanie Wahl legt mit ihrem Beitrag „Auf jeden Fall mit Zeitzeugen“ einen Praxisbericht über Erwartungshaltungen an Zeitzeugen und ihre Präsenz in zeitgeschichtlichen Ausstellungen vor. „Wo immer Geschichte und mit ihr fremde oder dem eigenen Erleben ferne Sachverhalte vermittelt werden sollen, übernimmt der Zeitzeuge die Rolle des Türoffners oder eines Begleiters, der das Publikum in einer Face-to-Face-Begegnung durch die Wirren eines komplexen Sachverhalts führt“. Die Suche nach Zeitzeugen und die Kontaktaufnahme mit ihnen zum Zweck einer möglichen Mitarbeit bei Ausstellungen und medialen Präsentationen und Zurverfügungstellung von Informationen und Materialien sind bedeutsame Herausforderungen für Authentizität und Wahrhaftigkeit.

Die Historikerin und Referentin beim Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Elena Demke, informiert mit dem Beitrag „Zeitzeugnis, Selbstzeugnis, redaktionelles Material“ über Nutzungsmöglichkeiten von Informationen zu DDR-Erinnerungen im Internet und ihre Verwendung in der politisch-historischen Bildung. Sie stellt Beispiele von Online-Zeitzeugen-Berichten vor und gibt didaktisch-methodische Anregungen.

Die Informationswissenschaftlerin von der Fachhochschule Potsdam, Susanne Freund, fragt: „Das Internet als Archiv für Erinnerungen?“. Sie diskutiert die Herausforderungen der digitalen Archivierung und der Wissensrepräsentation von audiovisuellen Dokumenten. Weil Informationen und Anschauungsmaterialien im www mittlerweile relativ leicht zugänglich sind, ist es unverzichtbar, dass bei der Erstellung, Aufbereitung und Bereitstellung von authentischen Materialien ein professionelles Informationsmanagement vorhanden ist, das über das notwendige technische Know How verfügt, um die Dateien nicht manipulativ zu präsentieren, zu sichern und zu archivieren.

Die Politikwissenschaftlerin und Bildungsreferentin der Gedenkstätte Berliner Mauer, Katrin Passens, fordert auf: „Dialogische Kommunikationssituationen ermöglichen“, indem sie zur Rolle der Moderation in Zeitzeugengesprächen zur DDR-Geschichte spricht. Es sind die unterschiedlichen, didaktischen, mentalen und situationsbedingten Herausforderungen bei Zeitzeugengesprächen in der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung, die sich für die Moderation und Präsentation ergeben. Bei der Moderation kommt es auch darauf an, sich der Grenzen bewusst zu sein, die Zeitzeugenerzählungen und -material beinhalten.

Christian Ernst und der Leiter des Grenzlandmuseums Eichsfeld und der Bildungsstätte am Grenzlandmuseum Eichsfeld, Ben Thustek, berichten mit ihrem Beitrag „Perspektiven entdecken“ über Konzepte und Erfahrungen bei Interviews und Befragungen mit Zeitzeugen zur DDR-Geschichte. Sie stellen Formen und Methoden zum aktiven, selbständigen Lernen vor und verweisen auf Informationsmaterialien und Veröffentlichungen.

Der Psychologe und Psychoanalytiker , Leiter der Beratungsstelle „Gegenwind“ in Berlin, Stefan Trobisch-Lütge, stellt mit seinem Beitrag „Sensible Begegnungen“ die Zeitzeugenarbeit mit politisch Traumatisierten der DDR-Diktatur vor .und bringt die Tätigkeit in einen theoretischen und praktischen Zusammenhang. Es sind drei Kommunikationsregeln, die bei der Interaktion mit traumatisierten Zeitzeugen beachtet werden sollten: Einstellung auf wechselnde emotionale Qualitäten – Symmetrische Kommunikation auf Augenhöhe – Eigene Reflexion der therapeutischen Kompetenz.

Christian Ernst und die Kulturwissenschaftlerin Susanne Schäffner fassen mit ihrem Beitrag „Arbeit mit Zeitzeugen“ die wesentlichen Aspekte für die außerschulische Bildungspraxis zusammen. Dabei geht es um die Beachtung der Kompetenzen und Möglichkeiten, die vom pädagogischen Person ausgehen; zum anderen um die Berücksichtigung der biografischen und intellektuellen Wirklichkeiten der im Bildungs- und Informationsprozess beteiligten Zeitzeugen; und um die Voraussetzungen und Erwartungshaltungen der Teilnehmenden. Wie bei jedem gelingenden Bildungsbemühen kommt es darauf an, die Mitarbeit von Zeitzeugen didaktisch und methodisch in den Lernprozess einzubinden. „Die Arbeit mit Zeitzeugen ist … durch Spannungsfelder gekennzeichnet und stellt oft einen Balanceakt dar, wenn es darum geht, pädagogische Absichten und erlebnisorientierte Teilnehmererwartungen auszutarieren“.

Der im Anhang des Sammelbandes abgedruckte Tagungsbericht von Konstantin Baehrens über die interdisziplinäre Tagung „Opfer, Täter, Jedermann?“, die vom 14. bis 15. Februar 2013 im Potsdamer Haus der Natur, vermittelt einen Eindruck über den aktuellen Diskussions-, Informations- und Forschungsstand zur DDR-Zeitzeugenschaft im Prozess des Erinnerns, der Vermittlung von historischem Wissen und Erlebtem und dem Anspruch einer objektiven und gesicherten geschichtsrelevanten Aufbewahrung von Zeitzeugen-Erfahrungen.

Fazit

Im Spannungsfeld der grundsätzlichen Bedeutung und der objektiven und subjektiven Funktion, die Zeitzeugen in historisch-pädagogischen und gesellschaftspolitischen Bildungsprozessen einzunehmen vermögen, sowie den didaktischen, methodischen und mentalitätsorientierten Situationen bei Lernprozessen, können Zeitzeugen bedeutsam sein; doch nicht per se, sondern nur dann, wenn deren Zeugnisse und Erzählungen eingebunden sind in ein verantwortetes, vor- und nachbereitetes, aktives und aufgeschlossenes Lernen. Die Beteiligten und Berichterstatter beim Praxisforschungsprojekt „Zeitzeugen zur DDR-Geschichte in der außerschulischen Bildung“ bieten mit dem Sammelband eine Bestandsaufnahme zur Thematik an und vermitteln einen Überblick über die im Forschungsprojekt diskutierten und aufgehobenen Erfahrungen.

Die mittlerweile in den Medien und Bildungsveranstaltungen der Erwachsenenbildung präsente Mitarbeit von Zeitzeugen zur DDR- und deutsch-deutschen Geschichte bedarf der wissenschaftlichen Beachtung, damit es gelingt, authentische und objektive Berichterstattungen zu gewährleisten und jeder Geschichtsverklitterung, Verharmlosung oder nostalgischen Interpretation des DDR-Unrechtsregimes entgegen treten zu können. Das Buch sollte in den Einrichtungen der Erwachsenenbildung zur Verfügung stehen! Für die schulische, historisch-pädagogische Bildungsarbeit bieten die fachlichen und interdisziplinären Berichte eine Reihe von Anregungen und Möglichkeiten der didaktischen und methodischen Übertragung.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245