Corinna Petri: Durch Höhen und Tiefen
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 24.03.2015

Corinna Petri: Durch Höhen und Tiefen. Geschwisterbeziehungen im Kontext der Fremdunterbringung. Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (Siegen) 2014. 246 Seiten. ISBN 978-3-934963-33-7.
Autorin
Corinna Petri ist M.A. Bildung und Soziale Arbeit, Dipl. Sozialpädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Pflegekinderwesen am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) an der Universität Siegen.
Thema
Bei der Frage nach getrennter oder gemeinsamer Unterbringung von Geschwisterkindern in Einrichtungen oder Pflegefamilien stehen zwei Anschauungen unverbunden nebeneinander, Trennung der Geschwister oder gemeinsame Unterbringung.
In Kooperation mit dem SOS-Kinderdorfverein wurde ein Fallstudienprojekt durchgeführt. In der vorliegenden Arbeit wurde ein ausgewählter Geschwisterverband untersucht.
Ziel der Arbeit ist es, ein genaueres Verständnis zu erlangen, wie sich im Zusammenspiel spezifischer Lebensbedingungen der subjektive Stellenwert der Geschwisterbeziehung entfaltet und welche Bedeutung und Funktion die Geschwister für das individuelle Aufwachsen unter diesen erschwerten Bedingungen haben.
Aufbau und Inhalt
Als erstes wird der theoretische Rahmen der Arbeit aufgezeigt und ein Überblick über die Geschwisterforschung gegeben. Es werden kulturelle und gesellschaftliche Einflussfaktoren während des Sozialisationsprozesses dargestellt sowie gesellschaftliche Entwicklungslinien und Veränderungen, vor allem auch die Veränderung der Familien und deren Auswirkung auf die Geschwisterbeziehung. Anschließend geht die Autorin auf die identitätsstiftende Dimensionen von Geschwisterbeziehungen ein. Geschwister können eine Ressource im Sozialisationsprozess sein, Petri berücksichtigt dabei auch besondere familiäre Risikokonstellationen und Fremdunterbringung.
Anschließend werden die Forschungszugänge erläutert. Die theoretischen Zugänge zu den Lebensgeschichten bilden das Konzept der Belastungs-Ressourcen-Balance und der kritischen Lebensereignisse und Wendepunkte. Für die Erklärung der Funktion der Geschwisterbeziehung werden auch die Analyseebenen von Bronfenbrenner berücksichtigt und ein Modell eines Systems von Einflussfaktoren entwickelt.
In der empirischen Untersuchung, für die das Design, die Erhebungsmethoden und die Datenaufbereitung und -auswertung beschrieben werden, wird die Geschwistergruppe „Klein“ vorgestellt, bestehend aus fünf Geschwistern (Anja, Jörn, Jonas, Doreen und Phil). Die Daten beziehen sich auf Interviews von Anja, Jörn und Jonas (als junge Erwachsene) sowie der Kinderdorfmutter. Diese lebten zusammen mit der geistig behinderten Doreen für längere Zeit gemeinsam in einer Kinderdorffamilie; Phil wurde erst nach der Inobhutnahme und Fremdunterbringung der anderen Geschwister geboren und anderweitig untergebracht.
Basierend auf den Interview-Transkripten werden die Geschichte der Herkunftsfamilie bis zur Inobhutnahme der Kinder, der Übergang und die erste Zeit in der Kinderdorffamilie, die Kontakte zur Herkunftsfamilie und die Übergänge aus der Kinderdorffamilie in neue Lebensabschnitte nachgezeichnet. Anschließend werden für jedes der drei älteren Geschwister die jeweiligen Kernelemente herausgearbeitet, die subjektive Ich-Wir-Balance sowie die Bedeutung der jeweiligen dyadischen Geschwisterbeziehung. Anschließend erfolgt eine Einordnung der Ergebnisse; sie werden anhand aktueller Literatur und unter Einbeziehung der von Bronfenbrenner diskutiert.
Der Überhang von Belastungsfaktoren in der Zeit vor der Fremdunterbringung aktivierte kompensatorische Funktionen der Geschwisterbeziehung. Vor allem die ältere Schwester übernahm elterliche Aufgaben, die aber ihre eigene Entwicklung bremsten. In der Kinderdorffamilie wurden diese Rollen in Frage gestellt: Anja, die sich mehr als „Wir“ als als „Ich“ definierte, erlebte dies erst als schmerzlich, dann als befreiend. Die Geschwister, vor allem wiederum Anja, spielten eine wichtige Rolle als Ansprechpartner zu Fragen um die Herkunft. Während des Aufenthalts in der Kinderdorffamilie als auch nach dem Auszug war die Geschwisterbeziehung teilweise eine wichtige Ressource, es wurden aber deutliche Tiefen und Höhen durchlebt.
Anschließend erfolgt eine Einordnung der Ergebnisse; sie werden anhand aktueller Literatur und unter Einbeziehung der von Bronfenbrenner diskutiert.
Abschließend werden Folgerungen für Forschung und Praxis der sozialen Arbeit gezogen.
Diskussion
Corinna Petri informiert im ersten Teil stringent, dennoch umfassend über relevante Aspekte der Geschwistersozialisation. Das Design ist geeignet, einen umfassenden Einblick in die Entwicklung der vorgestellten Geschwistergruppe zu geben und Einflussfaktoren herauszuarbeiten.
Es wird deutlich, dass die Beziehung zu Geschwistern eine Ressource sein kann, deren Einfluss weit über die Zeit der Fremdunterbringung hinaus reicht, dass diese aber auch Risiken birgt; es werden – wie schon im Titel festgehalten – Höhen und Tiefen durchlebt. Das Fazit für die eingangs gestellte Frage der gemeinsamen oder getrennten Unterbringung wird mit einen Sowohl-als-auch beantwortet. Es ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob die Ressourcen oder die Risiken überwiegen.
Ganz außen vor bleibt in der vorliegenden Untersuchung der mögliche Einfluss der Väter, weder der leibliche Vater ist präsent noch ein „Vater“ in der Kinderdorffamilie.
Zielgruppen
Fachkräfte, die sich in Forschung oder Praxis mit Fremdunterbringung beschäftigen.
Fazit
Die Einblicke, die dieses Buch gibt, macht es für die Fachleute lesenswert.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Zitiervorschlag
Lothar Unzner. Rezension vom 24.03.2015 zu:
Corinna Petri: Durch Höhen und Tiefen. Geschwisterbeziehungen im Kontext der Fremdunterbringung. Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste
(Siegen) 2014.
ISBN 978-3-934963-33-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17320.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
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