Jörg Harder: Leibliche Kinder in familienanalogen Settings der Jugendhilfe
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 27.10.2014

Jörg Harder: Leibliche Kinder in familienanalogen Settings der Jugendhilfe. Chancen, Risiken und Konzepte.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2014.
136 Seiten.
ISBN 978-3-8300-7880-7.
D: 68,80 EUR,
A: 70,80 EUR,
CH: 89,00 sFr.
Sozialpädagogik in Forschung und Praxis, Band 33.
Autor
Jörg Harder betreut zusammen mit seiner Frau zwei Kinder in einer familienanalogen Projektstelle. Zudem wachsen zwei eigene Kinder in diesem Setting mit auf.
Thema
Die einschlägige Fachliteratur zu familienersetzenden Unterbringungsformen hat die Pflegekinder im Focus. In diesen Familien leben aber auch häufig eigene Kinder. Sie erfuhren bisher keine Berücksichtigung. Sie sind aber von der Aufnahme der Pflegekinder mitbetroffen, bauen Beziehungen auf oder müssen sie wieder lösen. Sind die leiblichen Kinder in familienanalogen Settings besonderen Risiko- bzw. Schutzfaktoren ausgesetzt, brauchen sie spezielle Unterstützungsangebote?
Aufbau und Inhalt
Nach einleitenden Bemerkungen erläutert der Autor die relevanten Begriffe (Pflegefamilie, familienanaloge Einrichtungen, Entwicklungsphasen, Entwicklungsaufgaben, Schutz- und Risikofaktoren, Trauma) und kennzeichnet unterschiedliche Settings familienanaloger Wohnformen.
Empirische Studien, meist aus dem anglo-amerikanischen Raum (nur eine deutsche Untersuchung) kommen zu dem Ergebnis einer tendenziell eher positiven Einschätzung durch die leiblichen Kinder. Gefühle wie Stolz, Freude, Spaß, Verbundenheit und Fröhlichkeit, aber auch Neid, Aggression, Scham, Eifersucht, Hilflosigkeit, Unverständnis und Wut werden berichtet.
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit Grundlagen der Psychotraumatologie und stellt die besonderen Anforderungen an das Betreuersystem heraus.
In einem eigenen Kapitel werden relevante Entwicklungsprozesse in der Kindheit und der Adoleszenz beleuchtet (z.B. das Konzept der Entwicklungsaufgaben).
Umfangreich setzt sich der Autor mit Risiko- und Schutzfaktoren auseinander. Er beschreibt allgemein gültige Risiko- und Schutzfaktoren und arbeitet noch spezifische Faktoren heraus, die für leibliche Kinder in Pflegefamilien gelten. Risiken bergen eine frühzeitige Reifung der leiblichen Kinder, Rollendiffusion und unerwünschte Verhaltensweisen der betreuten Kinder, schützen können erworbene Kompetenzen in Bezug auf Empathie, emotionaler Intelligenz, Professionalität, Wohlbefinden und speziellen Coping-Strategien. Besonders kritische Ereignisse sind die Aufnahme und die Entlassung von Pflegekindern.
Aus den Überlegungen zu den Risiko- und Schutzfaktoren folgert Harder, dass eine spezifische Unterstützung für leibliche Kinder in „familienanalogen Wohnformen“ notwendig und sinnvoll ist. Kinder und Jugendliche äußern auch ihr diesbezügliches Bedürfnis. Deshalb entwirft er abschließend die Idee eines Internetforums zum Austausch zwischen leiblichen Kindern.
Diskussion
Leibliche Kinder in Pflegefamilien und ähnlichen Wohnformen werden in der relevanten Literatur wenig berücksichtigt. Ihre Sorgen und Nöte werden im Gegensatz zu den „Maßnahmekindern“ kaum wahrgenommen.
Jörg Harder hat in seiner Arbeit die relevanten Aspekte zusammengetragen und umfassend und verständlich aufbereitet. Es wird deutlich, auch diese Kinder brauchen Unterstützung. Die Idee eines Internet-Forums ist interessant und sicher zeitgemäß. Ich hätte mir gewünscht, dass auch noch andere Angebote diskutiert werden.
Fazit
Das Büchlein ist empfehlenswert sowohl im Rahmen der Ausbildung in Sozialer Arbeit als auch für die Praxis. Es hätte mehr Leser verdient als es bei diesem Preis vermutlich haben wird.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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