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Ursula Unterkofler, Elke Oestreicher (Hrsg.): Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern

Rezensiert von Prof. (em) Dr. Herbert Effinger, 19.03.2015

Cover Ursula Unterkofler, Elke Oestreicher (Hrsg.): Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern ISBN 978-3-86388-049-1

Ursula Unterkofler, Elke Oestreicher (Hrsg.): Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern. Wissensentwicklung und -verwendung als Herausforderung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 305 Seiten. ISBN 978-3-86388-049-1. D: 38,00 EUR, A: 47,30 EUR, CH: 59,20 sFr.

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Thema

Die Autor_innen thematisieren aus theoretischer, empirischer und hochschuldidaktischer Perspektive Fragen, wie das Verhältnis von wissenschaftlichen Wissen und Erfahrungswissen in der Theorie, der Praxis und in der Lehre produktiv aufeinander bezogen werden kann.

Herausgeber und Autoren

Die Herausgeberinnen und Autoren sind zumeist Sozial(arbeits)- und Erziehungswissenschaftler_innen und lehren und forschen an verschiedenen Hochschulen in Deutschland, der Schweiz, Luxemburg und Österreich.

Entstehungshintergrund

Die Herausgeberinnen gehen davon aus, dass bisher „kaum professionsbezogene Forschungen existieren, welche die wechselseitige Perspektive von Wissen und Handeln, von Theorie und Praxis thematisieren.“ Diese Forschungslücke möchten die AutorInnen mit dem Sammelband aus interdisziplinärer Perspektive ein wenig schließen helfen.

Aufbau und Inhalt

Die HerausgeberInnen beginnen mit einer knappen Einleitung und Übersicht. Die folgenden 14 Beiträge gliedern sich in 6 Unterkapitel.

Unter der Überschrift „Theoretische Perspektiven auf professionelles Wissen und Handeln“ machen zwei soziologische Beiträge von Thomas Kurtz und Rainer Schützengel den Anfang. Thomas Kurtz untersucht aus systemtheoretischer Perspektive die Rolle von Professionen in modernen Gesellschaften und beschreibt hier sehr widersprüchliche Tendenzen von einerseits zunehmender und andererseits abnehmender Bedeutung von Wissen und Nicht-Wissen und der Professionen, die auf solches Wissen angewiesen sind. Rainer Schützengel thematisiert anschließend die unterschiedlichen Logiken von Profession und Disziplin und begründet deren notwendige Unterscheidung.

Unter der Überschrift „Repräsentationen wissenschaftlichen Wissens in professionellen Praxisfeldern“ gehen nun drei Beiträge der Frage nach, wie wissenschaftliches Wissen in der dualen Berufsausbildung, der offenen Jugendarbeit und anderen sozialen Hilfen abgebildet bzw. verwendet wird. Johannes Wahl fragt nach der Bedeutung lebenslangen Lernens von pädagogischen Mitarbeitern in der dualen Berufsausbildung und der Erwachsenenbildung und vergleicht diese Gruppen miteinander. Die Basis bildet eine empirische Studie welche zeigt, dass sich beide Gruppen auf dieses Konzept zu ihrer eigenen Identitätsbildung und ihrer gesellschaftlichen Legitimation beziehen. Sie machen das jedoch in recht unterschiedlicher aber sich nicht ausschließender Weise.

Ursula Unterkofler beschreibt auf Basis einer empirischen Studie wie unterschiedlich in der offenen Jugendarbeit Professionelle auf Wissenschaftliches Wissen zurückgreifen. Sie beschreibt dabei zwei empirisch rekonstruierte „ideologies“, welche in unterschiedlicher Weise Praxisprozesse strukturieren. Zum einen handelt es sich um einen Typen von „Jugendarbeit als Modell der Gesellschaft“ und zum anderen als „Familienersatz“. Sie zeigt dann, wie vor dem Hintergrund solch normativen Ausrichtungen wissenschaftliches Wissen und Theorien zur Legitimation und Ausrichtung der individuellen Präferenzen genutzt werden.

Auf Basis empirischer Daten aus unterschiedlichen Studien geht René Salomon der Frage nach, welche Bedeutung Theorie, Wissenschaft und Praxis im Bereich der sozialen Hilfen für die professionelle Rolle haben. Dabei stellt der Autor heraus, dass unterschiedliche Bezüge auf wissenschaftliche Theorie einerseits und praktische Erfahrungen andererseits auch ganz unterschiedliche Konstruktionen beruflich-professioneller Identitäten hervorrufen. Insbesondere betont er, „dass die Relevanz von Praxiswissen und wissenschaftlichen Wissen in professionellen Feldern, sowie ihr Verhältnis zueinander nur dann zu verstehen ist, wenn die Interaktionsordnungen sozialer Situationen und die in ihnen vollzogenen Praktiken (Hervorhebung durch Salomon) betrachtet werden.“ (108).

Im Kapitel „Austausch und Entwicklung von Wissen als Herausforderung für Wissenschaft und Praxis“ beschreibt Elke Oestreicher nun auf Basis einer empirischen Studie das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis als „PaarProblem“ und zeichnet dabei ein eher unglückliches „Ehepaar“, dass zwar zusammenbleiben möchte und weiß, dass die Partner wechselseitig aufeinander angewiesen sind aber auch nicht so recht wissen, wie sie aus diesem problematischen Paar eine glückliche Ehe machen können. (113ff.) Hier skizziert sie zwei unterschiedliche Partnermodelle. Zum einen ein „distanziertes Partnerschaftsmodell“ und zum anderen ein „enges Partnerschaftsmodell“. Sie schließt mit der scheinbar paradoxen These, dass sowohl die „Kluft“ zwischen den beiden Wissenstypen als auch deren „Fusion“ zusammengehören und eine solches Bündnis Voraussetzung für das Gelingen dieser „Ehe“ sei.

Der Beitrag von Peter Sommerfeld greift diese Ehe-Metapher mit einem Bild von Hund und Katze auf und beschreibt dann im folgenden Beitrag „Kooperation als Modus der Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis am Beispiel der Sozialen Arbeit“. Er zieht hier ein paar vorläufige Schlüsse aus einem noch nicht abgeschlossenen Forschungsprojekt. Wie alle anderen Beiträge auch arbeitet er zunächst die notwendigen Unterschiede von Wissenschaft und Praxis heraus. Er macht dies dadurch indem er die unterschiedlichen Systemrationalitäten herausarbeitet und entwickelt dann ein Modell „der kooperativen Willensbildung“ (142) zur professionellen Kompetenzentwicklung und Professionalität an dem die unterschiedlichsten Elemente in zirkulärer Weise beteiligt sind. Er schließt mit der These, dass Soziale Arbeit nur dann eine Profession sei, wenn es ihr gelingt „eine möglichst produktive Form der Kopplung der beiden Systeme Wissenschaft und Praxis zu etablieren und die unterschiedlichen Formen der Wissensproduktion in diesen unterschiedlichen Systemen zu integrieren.“ (153)

Ein anderes Modell aus der Erwachsenbildung stellt Daniela Rothe aus Wien vor. Am Beispiel so genannter „Research-Meets-Practice (RMP)“ Gruppen zeigt sie, wie in transdisziplinärer Ausrichtung an der Grenze zwischen Wissenschaft und Praxis auf spezifische Weise Wissen entwickelt wird. Voraussetzung für das Gelingen solcher Gruppen ist allerdings ein spezifische Heterogenität und ein ausgesprochenes Interesse zum Austausch beider Bereiche.

Unter der Überschrift „Relevanz und Relevierung wissenschaftlichen Wissens in der Professionellen-KlientInnen-Interaktion“ richten den Fokus nun zwei Beiträge auf die Bedeutung für das Verhältnis von Professionellen und ihren Adressaten. Am Beispiel von Beratung als „Prototyp professionellen Handels“ (177) rekonstruiert Bernd Dewe das Verhältnis wissenschaftlicher Informationen zu Praxisdeutungen und schildert wie entsprechende Konstruktionen wechselseitig zur Geltung kommen. Unter professioneller Beratung versteht er die Kompetenz, den zu Beratenden unter Berücksichtigung ihrer Autonomie eine Möglichkeit zur neuen Situationseinschätzungen zu kommen, um so Handlungsalternativen und Veränderungen zu ermöglichen. Die Differenz zwischen problematischer Situation und alternativen Entscheidungs- und Handlungsoptionen könne, so Dewe, unter Bezug auf Beck und Bonß, seitens der professionellen Berater nur durch „die Macht der Argumentation“. überbrückt werden, welche durch einen „Kampf um die Anerkennung von Argumenten“ gekennzeichnet ist. (194) Veränderungen auf Seiten der Klienten sind immer auf die Einsicht in die subjektive Relevanz einer solchen Änderung angewiesen.

Sebastin Muders entwickelt nun vor dem Hintergrund der Sterbehilfe eine Form ethischer Beratung. Er arbeitet dabei die Problematik ethischer Beratung und deren Möglichkeiten vor dem Hintergrund prinzipiell unterschiedlicher ethischer Grundlagen und ihrer teilweisen Unvereinbarkeit heraus. Auch er stellt dabei auf die Unabdingbarkeit der Autonomie des Beratenden heraus und schließt damit, dass sich die Kompetenz des Beraters, durch „das Vermögen des Beratenden (darstellt), das Richtige als Richtiges zu erkennen.“ (214)

Zwei Beiträge thematisieren nun Theorie-Praxisbezüge in der Hochschullehre. Christine Thon problematisiert am Beispiel einer empirischen Studie über die LehrerInnenausbildung, dass Lehrende und Studierende häufig von sehr unterschiedlichen Vorstellungen über dieses Theorie-Praxis-Verhältnis ausgehen. Sie identifiziert drei Typen: Praxisbezug als Veranschaulichung von Theorie, Praxis und Theorie als getrennte Welten und Theorie als Unterstützung bei der Umsetzung praktischer Aufgaben. Als Alternative und Integration dieser unterschiedlichen Zugänge betrachtet sie eine spezifische Form der Fallarbeit.

Im Beitrag von Adi Stämpfli, Regula Kunz und Eva Tov wird das Konzept „Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit“ präsentiert. Hier handelt es sich um ein Lehrmodell zur Relationierung von Theorie und Praxis, dass in der Schweiz praktiziert wird, bei dem man sich auch über ein virtuelles Netzwerk (www.schluesselsituationen.ch) beteiligen kann. Den Kern dieses Modells bilden „Communities of Practise“, also Wissenschaftler und Praktiker, die am Beispiel konkreter Fälle die Spezifik und Verallgemeinerbarkeit von Schlüsselsituationen herausarbeiten.

Den Band schließen nun unter der Überschrift „Lebensweltliche Deutungen als Herausforderung für die Vermittlung und Aneignung wissenschaftlichen Wissens“, zwei weitere Beiträge. Rudolf Schmitt analysiert in einer Metaphernanalyse unterschiedliche subjektive Deutungsmuster von Studierenden und schlägt eine stärkere Berücksichtigung dieser in der Hochschuldidaktik vor.

Jean-Marie Weber und Julia Strohmer stellen einige Forschungsergebnisse über „Subjektive Bezüge zum Wissen im Rahmen von LehrerInnenbildung und Unterrichtsgestaltung“ in Luxemburg aus psychoanalytischer Perspektive vor. Auch diese AutorInnen plädieren am Ende für mehr Analyse und Reflexion eigener Praxiserfahrungen.

Diskussion

Insgesamt handelt es sich bei dem vorliegenden Sammelband zumeist um anregende Beiträge, die sehr gut auf das Thema und die gemeinsame Fragestellung von der Wissensentwicklung und Verwendung in professionellen Feldern fokussiert sind. Theoretische Analysen, empirische Daten und konstruktive Modelle für die Lehre und Weiterentwicklung von Studium und Praxis machen aus diesem Band eine Runde Angelegenheit.

An manchen Stellen finden sich die für Sammelbände wohl nicht gänzlich vermeidbaren Doppelungen. So wird der für alle Beitragenden tragende Konsens, dass es sich bei Wissenschaft und Theorie einerseits und Profession bzw. Praxis um jeweils unterschiedliche Systeme mit eigenen und Rationalitäten handelt, immer wieder neu entwickelt und begründet. Die meisten analytischen Beiträge betonen denn auch mehr das Trennende als das Gemeinsame. Zwischen den AutorInnen bleibt die Frage ungeklärt, wie sich Profession und Disziplin als Systeme zueinander verhalten. Während es in Deutschland eher üblich ist, beide Systeme nebeneinander zu betrachten, gibt es in anderen Ländern und Kulturen ein Verständnis von Profession zu der neben der Praxis eben auch Forschung, Theoriebildung und Ausbildung gehören.

Als Hochschullehrer und Supervisor haben mich daher eher jene Beiträge bereichert, welche versuchen, mehr Gemeinsamkeiten bzw. Transformation beider Systeme in der Lehre oder Praxis durch konkrete Modelle und Verfahren zu thematisieren. Das gilt auch dann, wenn man hier Dewe (182) durchaus zustimmen muss, dass sich sozialwissenschaftliches Wissen anders als naturwissenschaftliches Wissen in Anwendungsbezüge transformiert bzw. auf verschiedenen Wegen praktisch wird. Damit kommt der Reflexivität auf allen Wissensebenen in den angewandten Sozialwissenschaften und Professionen ein besondererer Stellenwert zu. An dieser Stelle ist m.E. aber auch eine Schwachstelle der Beiträge zu vermerken. Es wird kaum die auch psychologisch und neurobiologisch zu beantwortende Frage gestellt, wie Menschen lernen, wie unterschiedlich diese Prozesse teilweise verlaufen und welche Rolle dabei Emotion und Kognition, bzw. Erlebnis, Betroffenheit und Erfahrung auf der einen Seite und subjektive Rationalität und Verarbeitung auf der anderen Seite spielen. Für die Wissensaneignung und Entwicklung von Professionalität spielen immer auch die biografischen Kontexte und aktuellen Beziehungen, als Ausdruck der Relationalität psychischer Systeme von sich wechselseitig anerkennenden Lehrenden und Lernenden – jenseits ihrer offiziellen Funktionen, eine bedeutsame Rolle. Nur dann, so meine ich, wenn auch diese Aspekte stärker berücksichtigt werden, lassen sich wirksamere und angemessenere Praxen der wechselseitigen Wissensdurchdringung in den Professionen erwarten. (vgl. Effinger/ Jensen 2013) So fällt leider auf, dass die Rolle von Supervision und Ausbildungssupervision (Praxisreflexion) hier keine Rolle spielen. Vielleicht wäre das ein spannendes Projekt für einen weiteren Band.

Fazit

Der Band versammelt wesentliche Stränge der sozialwissenschaftlichen Diskurse zu Professionalisierung und Professionalität in sozialen Berufen. Einzelne Beiträge geben recht interessante Anregungen für die Weiterentwicklung von Lehre und Praxis in professionellen Handlungsfeldern. Die Lektüre empfiehlt sich für alle, die in Forschung und Lehre, Praxisbegleitung und Praxisreflexion Verantwortung für die Professionalisierung und Professionalität sozialer Berufe tragen und sich nicht auf vereinseitigende Rollen und Funktionen als WissenschaftlerIn oder PraktikerIn reduzieren lassen wollen.

Literatur

  • Effinger, Herbert/ Jensen, Peter (2013): Durch Ver-Antwortung verbinden - Zur Bedeutung von Beziehung und Verantwortung in Zeiten kompetenzorientierter Lehre. In: Wendt, Wolf Rainer (Hg.): Zuwendung zum Menschen in der Sozialen Arbeit. Festschrift für Albert Mühlum. Lage: Jacobs Verlag, S. 71-87

Rezension von
Prof. (em) Dr. Herbert Effinger
Diplomsozialpädagoge (DBSH, Supervisor (DGSv), Case Management Ausbilder (DGCC), Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Dresden
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Zitiervorschlag
Herbert Effinger. Rezension vom 19.03.2015 zu: Ursula Unterkofler, Elke Oestreicher (Hrsg.): Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern. Wissensentwicklung und -verwendung als Herausforderung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. ISBN 978-3-86388-049-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17335.php, Datum des Zugriffs 22.03.2023.


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