Silke Birgitta Gahleitner, Martin Baierl et al. (Hrsg.): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern
Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 28.10.2014
Silke Birgitta Gahleitner, Martin Baierl, Thomas Hensel, Martin Kühn, Marc Schmid (Hrsg.): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik ; mit 6 Tabellen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2014. 296 Seiten. ISBN 978-3-525-40240-5. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 38,90 sFr.
Thema
In den vergangenen Jahren hat die sogenannte Traumapädagogik durch eine Vielzahl von Aktivitäten und Publikationen die Aufmerksamkeit dafür geschärft, welche Bedürfnisse Kinder und Jugendliche, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, in pädagogischen Beziehungen haben und wie die pädagogische Praxis aufbauend auf den Erkenntnissen der Psychotraumatologie diesen Bedürfnissen gerecht werden kann. Immer mehr setzt sich das Verständnis durch, dass es sich bei schwierigen Kindern, die pädagogische Settings „sprengen“, häufig um (komplex) traumatisierte Kinder handelt und dass sich ihr auffälliges und störendes Verhalten als Folge ihrer Traumatisierung begreifen lässt. Deswegen ist vor allem bei Praktikerinnen und Praktikern, die in Einrichtungen der Jugendhilfe tätig sind, aber auch in anderen pädagogischen Feldern das Interesse an diesem Themenbereich hoch. Der vorliegende Band versammelt 19 Beiträge, die aus verschiedenen Blickwinkeln einen Ein- und Überblick in die aktuelle traumapädagogische Diskussion bieten.
Aufbau und Inhalt
Die Beiträge sind sechs Themenblöcken zugeordnet.
Der erste Block widmet sich den Grundlagen des Traumaparadigmas. Martin Kühn skizziert in seinem Beitrag „Traumapädagogik – von einer Graswurzelbewegung zur Fachdisziplin“ die Entwicklung der Traumapädagogik und analysiert in einem Problemaufriss die Herausforderungen, die traumatisierte Kinder und Jugendliche für pädagogisches Arbeiten darstellen. Thomas Hensel fasst zentrale Erkenntnisse der Psychotraumatologie des Kindes- und Jugendalters zusammen.
Der zweite Themenblock folgt dem Konzept der „pädagogische Triade“ der Traumapädagogik, dass klientenbezogene, mitarbeiterbezogene und institutionelle Merkmale und Aspekte berücksichtigt und integriert werden müssen, damit eine pädagogische Einrichtung zu einem „sicheren Ort“ für betroffene Mädchen und Jungen werden kann. Detlev Wiesinger, Wolfgang Huck, Marc Schmid und Ulrike Reddemann beschreiben Qualitäts-, Struktur- und Prozessmerkmale von Einrichtungen der stationären Jugendhilfe aus traumapädagogischer Perspektive. Sie gehen u.a. darauf ein, welche Strukturen eine Institution benötigt, um die psychische Belastung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach krisenhaften Situationen – die im pädagogischen Alltag mit traumatisierten Klientinnen und Klienten häufig vorkommen – zu reduzieren. Martin Baierl, Cornelia Götz-Kühne, Thomas Hensel, Birgit Lang und Jochen Strauss befassen sich mit den traumaspezifischen Qualifikationen und Kompetenzen von Pädagoginnen und Pädagogen, die mit traumatisierten Kindern arbeiten. Im dritten Beitrag stellt Baierl „traumaspezifische Bedarfe von Kindern und Jugendlichen“ dar. Dabei geht es zum einen darum, wie den betreuten Kindern ein Gefühl von Sicherheit vermittelt werden kann, und zum anderen, welche Fähigkeiten und Ressourcen bei ihnen zu fördern sind.
Die folgenden drei Blöcke beschäftigen sich mit spezifischen Arbeitsfeldern und Zielgruppen der Traumapädagogik.
- Am umfassendsten ist der erste Abschnitt zum Bereich „Pädagogik und Soziale Arbeit“. Gerald Möhrlein und Eva-Maria Hoffart lenken in ihrem Beitrag die Aufmerksamkeit auf die oft vernachlässigte Bedeutung, die die Schule für traumatisierte Kinder und Jugendliche hat, und beschreiben die Schwierigkeiten, die aus der Traumatisierung resultieren, aber auch die Chancen, die darin liegen, Kindern heilsame Erfahrungen zu ermöglichen. Dass Schule ein Ort ist, der häufig (Re-)Traumatisierungen verursacht, wird leider nicht näher thematisiert. Im Beitrag „Traumasensibilität in der Kinder- und Jugendhilfe“ erörtern Stefan Blülle und Silke Birgitta Gahleitner die Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe in Zusammenhang mit der Unterstützung komplex traumatisierter Kinder und Jugendlicher. Sie gehen dabei besonders auf die Frage der Beurteilung des Kindeswohls und auf Kriterien für traumasensibel gestaltete Fremdunterbringungen ein. Marc Schmid, Tania Pérez, Martin Schröder und Yvonne Gassmann vertiefen letzteren Aspekt in ihrem Beitrag und setzen sich aus traumapädagogischer Perspektive mit der Unterstützung von Pflegefamilien auseinander. Martin Baierl beschreibt, wie Maßnahmen der Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung gelingen können, in denen als besonders schwierig geltende Heranwachsende in Projekten im In- oder Ausland betreut werden, und betont die Herausforderungen, die sich aus dem speziellen Naheverhältnis zwischen Betreuungspersonen und Betreuten ergeben. Wilma Weiß stellt ein Konzept der Traumasensiblen Familienhilfe vor, deren wesentlicher Grundsatz in einer Elternarbeit besteht, „die die Lebensgeschichte der Eltern als Bestandteil des Problems und als Bestandteil der Hilfe begreift“ (Weiß 2014, 142). Dabei geht sie im besonderen auf das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von traumatischen Erfahrungen ein. Auch Baierl greift in einem weiteren Beitrag die Besonderheiten der Elternarbeit in diesem Bereich auf.
- Das zweite Arbeitsfeld umfasst den therapeutischen und medizinischen Bereich. Andreas Krüger befasst sich mit der Versorgung traumatisierter Kinder und Jugendlicher in organmedizinischen und in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen. Marc Schmid, Katharina Purtscher-Penz und Kerstin Stellermann-Strehlow gehen der Frage nach, wie traumapädagogische Konzepte, die ursprünglich für stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt wurden, in die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie integriert werden können. Célia Steinlin-Danielsson und Marc Schmid machen auf die oft wenig beachtete Tatsache aufmerksam, dass delinquente Menschen häufig traumatische Erfahrungen in ihrer Biographie aufweisen, was einen traumasensiblen Zugang auch in der forensischen Psychiatrie erforderlich macht. Silvia Höfer beschreibt die Herausforderungen, die sich in der ambulanten Psychotherapie mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zeigen, und die Kooperation zwischen Traumatherapie und Traumapädagogik.
- Der dritte auf konkrete pädagogische Praxisfelder abzielende Abschnitt behandelt in zwei Beiträgen „Menschen mit speziellen Bedarfen“. Martin Kühn und Julia Bialek thematisieren die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung, die Traumatisierungen erfahren haben. Martin Baierl weist auf die Notwendigkeit und die Herausforderung, traumapädagogische Grundsätze in der Arbeit mit Heranwachsenden mit Migrationserfahrung zu berücksichtigen, hin.
Der abschließende sechste Buchteil rückt die praxisfeldübergreifende „traumapädagogische Praxis und Forschung“ ins Zentrum. Im Beitrag „Traumapädagogische Diagnostik und Intervention“ gehen Silke Birgitta Gahleitner, Ingeborg Andreae de Hair, Dorothea Weinberg und Wilma Weiß der Frage nach, wie „trauma- und beziehungssensibles“ (2014, 251) diagnostisches Fallverstehen erfolgen und für die Planung traumapädagogischer Interventionen genutzt werden kann. Auf die Notwendigkeit traumapädagogischer Forschung und Qualitätssicherung schließlich verweisen Silke Birgitta Gahleitner und Marc Schmid. Sie zeigen die Möglichkeiten und Grenzen in diesem Bereich auf und führen Best-Practice-Beispiele traumapädagogischer Forschungsprojekte auf.
Diskussion
Dem Herausgeber-Team ist es gelungen, mit dieser Publikation in kompakter Form die Vielfalt der Traumapädagogik abzubilden. Die Beiträge stellen dar, in welchen Praxisbereichen traumasensibles Verstehen bereits besser etabliert ist (z.B. in der Kinder- und Jugendhilfe), und zeigen auf, wo in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit traumapädagogischen Prinzipien noch aussteht. An manchen Stellen wären vertiefende Ausführungen oder Fallbeispiele wünschenswert, wenngleich sie den kompakten und prägnanten Charakter dieses Handbuchs schmälern würden.
Kritisch zu hinterfragen ist eine Tendenz, die bei Vertreterinnen und Vertretern der Traumapädagogik häufig auszumachen ist und auch in diesem Buch mitunter auffällt: Die geforderten besseren Rahmenbedingungen für die pädagogische Arbeit mit traumatisierten Heranwachsenden (höhere Qualifikation des Personals, niedrigere Betreuungsschlüssel, Bemühen um ein Verstehen der Gründe und Motivationen, die auffälligem Verhalten zugrunde liegen etc.) sind für Klientinnen und Klienten mit anderen, nicht-traumatischen Belastungen und für „normale“ Kinder und Jugendliche grundsätzlich ebenso zu beanspruchen.
Schließlich sei eine persönliche Anmerkung zu dem in der Traumapädagogik häufig zitierten, in Österreich aber unüblichen Begriff der „Bedarfe“ von Kindern und Jugendlichen gestattet: Bedarfe zu erheben und zu erfüllen mag Aufgabe pädagogischer und politischer Institutionen sein – um den Klientinnen und Klienten gerecht zu werden, wäre es vielleicht passender zu sagen: Kinder und Jugendliche haben Bedürfnisse, die wir zu berücksichtigen haben.
Fazit
Der vorliegende Sammelband versammelt Beiträge renommierter Vertreterinnen und Vertreter der Traumapädagogik und ermöglicht es an diesem Thema Interessierten, einen fundierten Überblick über aktuelle Fragen der Traumapädagogik und über die vielfältigen Praxisbereiche, in denen die Traumapädagogik zur Anwendung kommt bzw. mehr Berücksichtigung finden sollte, zu gewinnen.
Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 28.10.2014 zu:
Silke Birgitta Gahleitner, Martin Baierl, Thomas Hensel, Martin Kühn, Marc Schmid (Hrsg.): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik ; mit 6 Tabellen. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2014.
ISBN 978-3-525-40240-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17336.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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