Johanna Dumanski: Wortschatzentwicklung CI-versorgter Kinder [...]
Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 30.12.2014
Johanna Dumanski: Wortschatzentwicklung CI-versorgter Kinder gehörloser bzw. hochgradig hörgeschädigter Eltern in Laut- und Gebärdensprache. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2014. 377 Seiten. ISBN 978-3-8300-7878-4. D: 99,80 EUR, A: 102,60 EUR, CH: 135,00 sFr.
Thema
Bei der Beurteilung dieser Arbeit ist der bildungs- und forschungspolitische Hintergrund wichtig: Es gibt immer noch Kliniken, logopädische und pädagogisch-psychologische Einrichtungen, die den Eltern von hörbehinderten Kindern mit einem CI empfehlen, in der Kommunikation mit ihren Kindern keine Gebärdensprache zu verwenden. Dazu gehört(e) auch die Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik in München, aus der die vorliegende Arbeit stammt. Diese Empfehlungen (die manchmal sehr vehement ausfallen) hatten besonders schwerwiegende Auswirkungen auf Familien, in denen die Eltern selbst hochgradig schwerhörig oder gehörlos waren. Diesen Eltern wurde damit oft der Gebrauch der Familiensprache mit ihren Kindern erschwert oder verboten, sie wurden unter Umständen sogar mit dem Kindesentzug durch das Sozialamt bedroht, wenn sie auf einer gebärdensprachlichen Kommunikation mit ihren Kindern bestanden. Durch die neuesten Entwicklungen der Rechte behinderter Personen ist ein solcher Standpunkt menschen- und gleichstellungsrechtlich unhaltbar geworden.
Das vorliegende Buch ist daher als eine Reaktion der Forschung auf die neue Situation zu sehen. Vom Ergebnis her bietet die Untersuchung lediglich eine Bestätigung der internationalen Forschungserkenntnisse bezüglich bilingual (Gebärdensprache-Lautsprache) aufwachsender hörbehinderter Kinder, für den Bereich der bisher rein lautsprachlich orientierten „Hörgeschädigtenpädagogik“ stellt es jedoch einen Meilenstein in Richtung auf bilinguale Förderung und Bildung dar. Dieser Meilenstein gilt allerdings derzeit nur für Kinder selbst hörbehinderter Eltern. Von der Akzeptanz bilingualer Angebote für alle Kinder mit CI ist diese Richtung der Hörbehindertenpädagogik offenbar noch weit entfernt; aber immerhin wird jetzt empfohlen, die Familiensprache der in Frage stehenden Familien und damit eine bilinguale Förderung und Bildung zu akzeptieren.
Aufbau und Inhalt
Die Einleitung (Kapitel 1) schildert die Ausgangslage.
Kapitel 2 beschäftigt sich mit Lautsprache, insbesondere mit dem Wortschatz bzw. dessen Modell, dem „mentalen Lexikon“. Ausgehend von den „Voraussetzungen einer altersangemessenen lautsprachlichen Entwicklung“ geht die Autorin auf den Wortschatzerwerb genauer ein, daneben auch auf mögliche Störungen und schließlich auf die lautsprachliche Wortschatzentwicklung hörbehinderter, insbesondere CI-versorgter Kinder. Verglichen werden diese Angaben mit „Spezifika und möglichen Auffälligkeiten bei der (laut-)sprachlichen Entwicklung von (hörenden) Kindern hörgeschädigter Eltern“.
Kapitel 3 widmet sich mit zu Kapitel 2 analogem Aufbau der (Deutschen) Gebärdensprache, geht dann auf Mehrsprachigkeit (auch bimodale) ein und schließt mit einem Abschnitt zu „CI und Gebärdensprache“, in dem vor allem diskutiert wird, ob und falls ja ein Angebot einer Gebärdensprache für Kinder mit CI sinnvoll ist.
Kapitel 4 schildert das Forschungsdesign und die verwendeten Methoden. Das Ziel wird mit einigen Forschungsfragen umschrieben, die den Entwicklungsstand CI-versorgter Kinder „gehörloser“ (dies wird als Kurzbezeichnung für „gehörlose und hochgradig schwerhörige“ verwendet) Eltern im lautsprachlichen und gebärdensprachlichen Wortschatz und seine Einflussfaktoren, das Verhältnis von Lautsprache (LS) und Gebärdensprache (GS) im Sprachgebrauch der Kinder, sowie allfällige Veränderungen in der Sprachentwicklung, bezogen auf einen zweiten Testzeitpunkt, betreffen. Die Autorin unterscheidet drei Faktorenkomplexe, nämlich „Kind“ (biografische Daten, Alter bei CI-Anpassung und Versorgungsart am zweiten Ohr), „Sprache“ (Sprachverwendung in der Familie, in der Bildungseinrichtung; Expositionszeit bezüglich LS und GS) und „Lebensumfeld“ (Schulbildung der Eltern, Art der Bildungseinrichtung, Klassenstufe, logopädische Betreuung). Für beide Sprachen wurden standardisierte Sprachtests herangezogen, die im Abstand von ca. 10 Monaten zweimal durchgeführt wurden, weiters Elterninterviews. Die Autorin beschreibt die Auswahl der Testpersonen (32 Kinder zwischen 4 und 13 Jahren, von denen 10 als „Randgruppe“ definiert wurden, deren Ergebnisse nur informell ausgewertet wurden und in der vorliegenden Arbeit nicht gesondert angeführt sind). Der Wiederholungstest wurde mit 12 Kindern durchgeführt. Untersuchungsablauf, Definition der Einflussfaktoren und Auswertungsverfahren werden ausführlich geschildert.
Kapitel 5 geht auf die Testpersonen ein und gibt die Informationen zu den vorher festgelegten Faktorenkomplexen.
Kapitel 6 schildert die Ergebnisse des ersten Tests: Bei der Mehrzahl der Kinder entsprachen die Ergebnisse der LS-Tests dem jeweiligen „Höralter“ (Alter gerechnet ab dem Zeitpunkt der Versorgung mit CI), für die GS ergaben sich ebenfalls mindestens durchschnittliche Leistungen. Die Autorin folgert, dass die Kinder sich in beiden Sprachen angemessen ausdrücken „können (müssen)“, wobei die GS-Kommunikation mit der Entfernung von der Kernfamilie abnimmt. Anschließend werden die Ergebnisse in Abhängigkeit mit den in den drei Komplexen zusammengefassten Faktoren diskutiert. Als statistisch bedeutsam werden Lebensalter, die Versorgungsart auf dem zweiten Ohr, die Menge an LS- bzw. GS-Input und die Art der Bildungseinrichtung aufgeführt.
Kapitel 7 schildert die Ergebnisse des zweiten Testzeitpunkts. Da lediglich für drei Kinder ein vollständiger Vergleich des ersten und zweiten Tests möglich war, konnten „Unauffälligkeit“ der Wortschatzentwicklung bzw. „Steigerung“ nur relativ festgestellt werden. Die Kinder konnten LS wie GS sicher und situationsangemessen verwenden, wobei eher ein Trend zu vermehrtem LS-Gebrauch festzustellen war. Anschließend werden die Ergebnisse wieder zu den einzelnen angesetzten Faktoren in Beziehung gesetzt.
Kapitel 8 bietet „Schlussbetrachtungen und offene Fragestellungen“. Hier fasst die Autorin ihre Ergebnisse in zwei Abbildungen zusammen und formuliert neue mögliche Fragestellungen.
Abbildungs-, Tabellen- und Literaturverzeichnis schließen das Buch ab.
Diskussion
Die Sprachentwicklungsphasen sind nach der Literatur korrekt dargestellt, was aber das „mentale Lexikon“ betrifft, stellt die Autorin ein relativ altes Modell (Levelt) in missverständlicher Weise als Realität dar. Sie bleibt auch dem Denkbild der „Hörgeschädigtenpädagogik“ treu und trennt methodisch nicht zwischen „Sprachentwicklungsstörungen“, die bei hörenden Kindern (für die der akustische Kanal ohne Einschränkung zugänglich ist) auftreten und den entsprechenden Erscheinungen bei hörbehinderten Kindern, die aufgrund der bei diesen Kindern eingeschränkten oder fehlenden Zugänglichkeit des akustischen Kanals differenziert zu beurteilen sind; dies gilt auch für die Erörterungen bezüglich der Kinder mit CI, wo die offenbar mangelnde Zugänglichkeit des akustischen Kanals bei Kindern mit langsamer oder auffälliger Lautsprachentwicklung hinter der Annahme „rezeptiver Störungen“ versteckt wird. Damit wird die Zugänglichkeit als Faktor quasi eliminiert und die „Störung“ auf „Systemfehler“ im Kind projiziert. Bezüglich der Deutschen Gebärdensprache (DGS) wird das veraltete und methodisch fragwürdige Hamburger Modell zitiert, welches den DGS-Wortschatz in einen „etablierten“ und einen „produktiven“ Teil trennt und annimmt, dass der „etablierte“ Teil aus lediglich 2500-5000 Gebärden besteht. Dass viele schwer hörbehinderte und gehörlose Kinder in hörende Familien geboren werden, wird – ohne dass auf die Möglichkeit der (Früh-)Förderung verwiesen wird, als quasi naturgegebene Einschränkung für deren gebärdensprachliche Entwicklung gesehen. Für die Beurteilung, was denn nun eine gebärdensprachliches Wort sei, verweist die Autorin auf eine völlig unzulängliche Definition von Schnattinger und Horsch (S. 70), nach der auch viele erste Lautsprachworte nicht als solche zu beurteilen wären. Leider bieten auch manche GebärdensprachforscherInnen selbst missverständliche Darstellungen, auf die sich Dumanski stützt, etwa, wenn sie nach Hänel-Faulhaber schreibt, dass das gebärdensprachliche Lexikon auch Nichtgebärden (d.h. Nichtwörter), nämlich „gegenständlliche Gesten“ enthalte (S. 71); sprachwissenschaftlich gesehen, ein Widerspruch in sich. Insgesamt ist aber die konkrete Wortschatzentwicklung in der DGS korrekt dargestellt.
Bezüglich der Forschungsarbeit ist zu bemerken, dass die gebärdensprachbezogenen Tests im Vergleich zu denen bezüglich Lautsprache (Deutsch) – weil solche Fragestellungen bisher nicht im Fokus der Mehrheit der HörgeschädigtenpädagogInnen standen, notgedrungenerweise – recht eingeschränkt sind. Das Forschungsdesign selbst ist methodisch korrekt und benutzt verschiedene Methoden der Datengewinnung (vgl. den Überblick auf S. 135); freilich wären freie Kommunikationsbeobachtungen noch wünschenswert gewesen. Die Ergebnisse sind ausführlich und klar (auch mit Hilfe von Tabellen und Grafiken) dargestellt und werden abschnittsweise jeweils nochmals zusammengefasst; es werden auch die Testinstrumente kritisch gewürdigt. Diese Darstellungen bieten eine gute Basis für weitere Untersuchungen, welche die Autorin im Schlusskapitel z.T. auch selbst vorschlägt. Hervorhebenswert ist, dass Dumanski sich am Ende des Buchs explizit für die Wertschätzung von Laut- UND Gebärdensprachen, die Anerkennung der Individualität der Kinder und die Förderung auch der Gebärdensprache ausspricht. Letzteres ist eines der wesentlichsten Desiderate. Erst wenn auch diese Förderung gleich wie die Lautsprachförderung angeboten wir, können tatsächlich vergleichbare Forschungsergebnisse für beide Sprachen erwartet werden. Zur Zeit ist es eher erstaunlich, dass sich für die DGS ähnliche Ergebnisse wie für das Deutsche ergeben, obwohl sie derzeit kaum systematisch gefördert wird. Die von der Autorin angesprochene, gegenüber hörenden Kindern etwas verlangsamte Wortschatzentwicklung ist ein bedeutendes Argument für die Verbesserung und Intensivierung der auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Kinder orientierten Förderung.
Zum Schluss: im Literaturbereich wäre die Berücksichtigung von einschlägigen angloamerikanischen Arbeiten (vgl. etwa Marschark & Hauser, How deaf children learn: what parents and teachers need to know, 2011) wünschenswert. Die Autorin hätte auch auf das sozialpsychologische Umfeld des CI eingehen können; vgl. dazu etwa: Hyde, Punch & Komesaroff: Coming to a Decision About Cochlear Implantation: Parents Making Choices for their Deaf Children, In: Journal of Deaf Studies and Deaf Education 15 (2010), 162-178 (http://jdsde.oxfordjournals.org/content/15/2/162.full).
Fazit
Ein Buch mit einigen Schwächen im Einleitungsteil, dessen Forschungsteil aber – bezogen auf die gewählten Forschungsfragen – durchaus als Muster herangezogen werden kann. Darüber hinaus möglicherweise ein Zeichen dafür, dass die deutsche lautsprachorientierte „Hörgeschädigtenpädagogik“ das Potenzial bilingualer Bildung für hochgradig schwerhörige und gehörlose Kinder zu akzeptieren beginnt.
Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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Zitiervorschlag
Franz Dotter. Rezension vom 30.12.2014 zu:
Johanna Dumanski: Wortschatzentwicklung CI-versorgter Kinder gehörloser bzw. hochgradig hörgeschädigter Eltern in Laut- und Gebärdensprache. Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2014.
ISBN 978-3-8300-7878-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17348.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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