Sabrina Isabell Bigos: Kinder und Jugendliche in heilpädagogischen Heimen
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 31.10.2014
Sabrina Isabell Bigos: Kinder und Jugendliche in heilpädagogischen Heimen. Biografische Erfahrungen und Spuren der Heimerziehung aus Adressatensicht. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 224 Seiten. ISBN 978-3-7799-2952-9. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.
Thema
Sollten Heilpädagogen nach dem Selbstverständnis ihrer Arbeit befragt werden, dann könnten sie antworten, dass ihre Aufgabe darin bestünde, „psycho- soziale Geburtshelfer“ (Mäeuten) zu sein. Und tatsächlich, jeder Mensch kommt nicht nur einmal (physisch) zur Welt, sondern erlebt noch mindestens zwei, vielleicht sogar noch drei weitere Geburten: Die psychische Geburt des „Ich selbst“ oder „Ich bin Ich“ im Übergang von Kleinkind- zum Vorschulalter; die soziale Geburt seiner Persönlichkeit, die ihn in letzter Konsequenz zum „Menschen der Menschheit“ macht und im Übergang zum reifen Erwachsenenalter, die spirituelle Geburt seiner Selbst, die ihn im Erfolgsfalle der Integrität seines Lebens versichert. Auch (stationäre) Heimerziehung von verhaltensauffälligen Kindern und vor allem Jugendlichen sollte nicht so sehr Teil des Problems, d.h., der erschwerten, verzögerten oder gar Fehlgeburt der erwachsenen Identität eines Jugendlichen, sondern eher Teil der Lösung, mit anderen Worten: der Herausbildung des Lebensplans, der Leitlinie eines (gelingenden) Lebens sein.
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende Studie, die Dissertationsschrift von Sabrina Isabell Bigos, befasst sich mit den Spuren, den eine mehrjährige Heimunterbringung und Heimerziehung im (weiteren) Leben von sieben Jugendlichen hinterlassen hat. Die Autorin konnte sich hinsichtlich ihres forschungsmethodologischen und methodischen Herangehens (narrative Interviews, vgl. Kapitel 3) auf einschlägige praktische Erfahrungen der Leitung einer heilpädagogischen Heimgruppe stützen. Im Ergebnis entstand eine aussagekräftige biografische Fallstudie mit Peter Sauerland („das heilpädagogische Heim ‚das war so ein wenig, wie Knast…‘“, vgl. Kapitel 4) sowie differenzierte, im Verlaufe der Fallstudie generierte und mit weiteren Interviews verknüpfte thematische Fokussierungen/ Faktoren einer (mehr oder weniger) erfolgreicher Heimerziehung, die die befragten Informanten bis ins Erwachsenenalter hinein beschäftigten. Zu diesen zählt die Autorin:
- Beziehungs- und Bindungserfahrungen in der Herkunftsfamilie, zu den Heimpädagogen sowie zu der Heimgruppe,
- Beziehungs- und Erfahrungsfeld Heimschule sowie externe Schule,
- die Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Ehemaligen am Prozess der stationären Erziehung.
- Strafsetzungen als „Machtmittel“,
- erfahrene Gewalt/Ironie/Sarkasmus- Sprache als Ersatzmittel,
- die Elternmitarbeit
- Selbstständigkeitsförderung,
- Erfahrungen im weiteren Verlauf nach ihrer Entlassung aus dem heilpädagogischen Kinder- und Jugendheim, insbesondere bezogen auf Partnerschaften und beruflich- existenzielle Lagen.
Sie schreibt: „Man könnte diese Faktoren als idealtypische Konstellationen für eine gelungene (oder nicht gelungene) Heimerziehung auffassen, in der die Ehemaligen für sich einen individuellen Erfolg für ihr weiteres Leben ziehen und Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und ein Selbstwertgefühl aufbauen können (S. 173).“
Als zentrales Arbeitsziel der heilpädagogischen Heimerziehung bezeichnet Sabrina Isabell Bigos im theoretischen Diskussionsteil der Studie (Kapitel 2) die „Bindungskorrektur“. Mit der Heimunterbringung würden das Bindungssystem der Kinder und Jugendlichen aktiviert und überkommene familiäre (auch traumatische) Verhaltensmuster und Gewalterfahrungen der Vergangenheit aktualisiert. Viel hänge nun davon ab, wie es den Heimpädagogen als Bezugspersonen gelänge, neue, „zeitliche ausreichende, sich wiederholende und beständige“ Bindungserfahrungen zu ermöglichen.
Diskussion
Wenn auch auf Sanktionen bei Regelverstößen und Grenzsetzungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung nicht verzichtet werden könne, so sollte doch auf Strafen als „Machtdemonstrationen“, die „keinerlei pädagogischen Sinn besitzen“ tunlichst verzichtet werden (S.161). Zu diesen Demonstrationen der Ohnmacht der Heimpädagogen gehört wohl auch der empathielose gewalttätige Sprachgebrauch (herabwürdigende ironisch- sarkastische Äußerungen), von denen die Informanten in ihren Erzählungen häufig berichteten. Der kritische Leser fragt sich an dieser Stelle, ob im Interesse einer lebensdienlichen Kommunikation nicht gänzlich auf Erziehung durch Sanktionen (auch Lob korrumpiert!) verzichtet werden sollte. Denn, Entwicklung findet immer dann statt, das zeigt vor allem auch die biografische Fallstudie von Peter Sauerland, wenn das „Dispositiv des Gefängnisses leckt“ (Michel Foucault) und Disziplinar- respektive Kontrolltechniken zugunsten eines Vertrauensvorschusses und wirklichen Interesses an der sozialen Entwicklungssituation des betreffenden Kindes oder Jugendlichen in den Hintergrund gerückt werden.
Zielgruppen
Studierende sozial- und erziehungswissenschaftlicher Studiengänge, Verantwortliche der Kinder- und Jugendhilfe, Praktiker der Heimerziehung sowie allgemein Interessierte am Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen.
Fazit
Den Leser erwartet eine überaus materialreiche, theoretisch anspruchsvolle, gut lesbare und in sich schlüssige Schrift zum subjektiven Erleben der Bedeutung der Zeit in einem (heilpädagogischen) Kinder- und Jugendheim der 1980er- 2000er Jahre, die konkretes Erziehungshandeln reflexiv begleitet und zum konstruktiven Weiterdenken einlädt.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 31.10.2014 zu:
Sabrina Isabell Bigos: Kinder und Jugendliche in heilpädagogischen Heimen. Biografische Erfahrungen und Spuren der Heimerziehung aus Adressatensicht. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
ISBN 978-3-7799-2952-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17359.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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