Gary J. Friedman, Jack Himmelstein: Konflikte fordern uns heraus
Rezensiert von Dipl. Päd. Martin Zauner, 09.03.2015
Gary J. Friedman, Jack Himmelstein: Konflikte fordern uns heraus. Mediation als Brücke zur Verständigung. Wolfgang Metzner Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2013. 346 Seiten. ISBN 978-3-943951-08-0. D: 38,80 EUR, A: 39,90 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Konflikte? Kennen wir. Sie tun uns unrecht, sind motiviert von unlauteren Absichten uns gegenüber, provozieren uns absichtlich, sind vielleicht erniedrigend oder lähmend … natürlich uns gegenüber. Aber nicht mit uns! Konflikte fordern uns heraus (Buchtitel) und in ihrem Bann polarisieren wir in hier gut und dort nicht gut, hier richtig und dort falsch. Die gegnerischen Handlungen bemessen wir nach deren schädigenden Auswirkungen auf uns. Die eigenen Taten werden von uns nach ihren durchaus nachvollziehbaren, situationslogischen, gerechten, fairen Absichten und Motiven bewertet. Gary Friedman und Jack Himmelstein nennen diese Dynamik trefflich „die Konfliktfalle“. Selbstverständlich schneiden wir besser ab, wie nicht …? Und das ist auch normal, das ist im Grunde natürlich. Sinnvoll ist es aber nur bedingt, denn der Konfliktverlauf nimmt manchmal herzlich wenig Rücksicht darauf, dass wir die Guten sind. Und so schneiden wir im Endergebnis doch nicht ganz so gut ab, die Gegenpartei weiß das zu verhindern!
Das von den Autoren als „verstehensbasierte Mediation“ bezeichnete Verfahren möchte eine andere Dramaturgie. Vor dem Hintergrund, dass Menschen in Konflikten instinktiv bestimmten, archaisch betrachtet gegebenenfalls sinnvollen, situativ aber oft kontraproduktiven Reaktionsmustern folgen, sind die Autoren davon überzeugt, dass es auch anders geht. D.h. die Parteien können aus der Konfliktfalle entkommen. Das Mittel dazu ist das gegenseitige umfassende Verstehen der jeweiligen Handlungsmotive.
Autoren
Gary Friedman und Jack Himmelstein gelten als Urgesteine und Wegbereiter der Mediation. Beide sind im ursprünglichen Grundberuf Anwälte und sie haben, der eine an der West- der andere an der Ostküste der USA, als solche gearbeitet.
Friedman und Himmelstein sind sich in den 70er Jahren begegnet, beide befasst mit dem Gedanken an alternative Konfliktlösungsverfahren. Sie haben seither die Mediationsbewegung in den USA maßgeblich mit entwickelt und gestaltet, nicht zuletzt auch in ihren Tätigkeiten an namhaften Universitäten wie Harvard. Die Gründung ihres Instituts Center for Understanding in Conflict, in dem sie seit vielen Jahren Angehörige verschiedener Professionen in „verstehensbasierter Mediation“ ausbilden, erscheint dabei nur konsequent.
Darüber hinaus gelten beide auch als Wegbereiter der Mediation im deutschsprachigen Raum, in den sie gut vernetzt sind und wo sie seit langem immer wieder als Referenten, Trainer und Ausbilder auftreten.
Entstehungshintergrund
Der Entstehungshintergrund des Buches sind über 30 Jahre Erfahrung. In diesen erwuchs bei den Autoren die Überzeugung, dass der konflikttypische destruktive Teufelskreis durch das gegenseitige Verstehen der dem Gegnerverhalten grundliegenden Handlungsmotive nicht nur unterbrochen, sondern optimaler Weise sogar in einen konstruktiven „Engelskreis“ verwandelt werden kann.
Aufbau
Die Autoren stellen anhand von zehn ganz unterschiedlichen Mediationsfällen sehr lebendig und praxisnah Struktur, Strategie und Reflexionsprozesse ihrer „verstehensbasierten Mediation“ vor. Sie wechseln dabei simultan zwischen einer erzählenden Prozessebene mit wörtlich wiedergegebenen Gesprächsausschnitten und einer erklärenden und reflektierenden Metaebene hin und her. Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, wobei sich jeder an den für das Verfahren zentral formulierten Prinzipien
- gegenseitiges Verstehen
- Eigenverantwortung
- Zusammenarbeit
- Wahrnehmung tieferer Konfliktgründe (blockierte Bedürfnisse)
orientiert.
Inhalt
Im Folgenden können die Inhalte der jeweils binnendifferenzierten Abschnitte nur übergreifend skizziert werden.
Abschnitt 1: Die Entscheidung zur Mediation (S. 45 – 122)
Die üblichen Konfliktkonstellationen zwischen den Antagonisten Recht (ich / wir) und Unrecht (du / ihr) und die darauf fußenden genauso üblichen Konfliktstrategien, wie die Überzeugung des Gegners von seinem Unrecht oder die Übertragung einer Entscheidung an eine dritte Partei, werden der kooperativen Strategie des verstehensbasierten Ansatzes gegenüber gestellt. Eine Grundlage für diesen ist nach Auffassung der Autoren die freiwillige Entscheidung zur Teilnahme und zur Übernahme von Verantwortung für den Konflikt. Die Parteien und nicht deren Stellvertreter stehen im Zentrum des Verfahrens. Es mag dabei durchaus merkwürdig erscheinen, sich freiwillig mit einem Konfliktgegner zusammen zu setzen und sich ernsthaft zu fragen, warum und wie man sich gemeinsam mit dem Konflikt befassen will.
Im Folgenden wird zunächst auf dieses „Wie“ Bezug genommen. Schon die Verhandlung eines „Arbeitsbündnisses“ (Verfahrensvertrag) ist wesentlicher Teil der Mediation und gleichzeitig Voraussetzung für die schwerere Verhandlung des „Was“. Genannte Verhandlungen werden durch die Technik des „Loopings“ (aktiv zuhören) unterstützt, „… die während der gesamten Mediation den Dialog in den Mittelpunkt stellt und das Verstehen verstärkt (Loop – engl. für Schleife).“ (111).
Abschnitt 2: Das Verstehen vertiefen (S. 123 – 178)
Der Streit über die Frage wer recht und wer unrecht hat führt erfahrungsgemäß zu keiner wirklichen Konfliktlösung. Daher gilt es, diese Ebene der unvereinbaren Standpunkte auf deren Motive zu hinterfragen und selbige sowohl für die jeweilige Konfliktpartei als auch für die Gegenpartei verständlich zu machen. Auf dieser zweiten Ebene der (blockierten) Bedürfnisse und Interessen liegt der Schlüssel des Verstehens und der Lösung, da nur hier die bisherige absolute Wahrheit durch die Erkenntnis erweitert werden kann, dass aus einer anderen Perspektive heraus eine ebenso nachvollziehbare zweite Wahrheit existiert. Es geht nicht darum, diese zweite Wahrheit zur eigenen zu machen, das meint „verstehen“ nicht, aber es geht darum, die Bereitschaft und die Kompetenz zu entwickeln, aus den jeweiligen Wahrheiten heraus Interessen zu formulieren und (an-) zu erkennen.
Abschnitt 3: Herausforderungen bei der Zusammenarbeit (S. 179 – 270)
Die Tatsache, dass eine Mediation gegebenenfalls anstelle eines Rechtsstreits tritt, bedeutet nicht, dass das Recht aus der Wirklichkeit des Konflikts verschwindet – und das soll es auch gar nicht. Es geht in diesem Abschnitt zunächst sehr ausführlich um den Umgang mit dem Recht im Mediationsverfahren. Über diese Frage, d.h. über die Gewichtung des Rechts, beschließen die Parteien selbst und daher müssen sie umfassend informiert sein über 1. die Erfolgsaussichten aber auch die Risiken eines Gerichtsprozesses und 2. über die praktischen Auswirkungen eines solchen. Die „verstehensbasierte Mediation“ fokussiert zwei Wirklichkeiten, auf der einen Seite die Rechts- und auf der anderen Seite die persönliche oder auch die wirtschaftliche Wirklichkeit, die beide, aber getrennt voneinander, geklärt und gegenseitig abgewogen werden müssen.
Abschnitt 3 diskutiert noch zwei weitere Themen: Es geht zum einen um die durchaus umstrittenen Einzelgespräche mit den Konfliktparteien. Friedman und Himmelstein beziehen hier eindeutig Stellung gegen das sogenannte Caucusing und begründen das ausführlich z.B. mit der daraus potentiell entstehenden (Manipulations-) Macht der Mediatoren und mit deren Rolle generell. Zum anderen befassen sich die Autoren mit der, wie sie es nennen, positiven Neutralität (Allparteilichkeit), einer Grundhaltung und gleichzeitig Strategie, die die Parteien darin unterstützt, aus der Deckung zu kommen und über ihre Verletzungen, Ängste und letztlich über Bedürfnisse bzw. Interessen zu sprechen.
Abschnitt 4: Verstehen – Verständigung – Lösung (S.271 – 344)
Interessen sind Voraussetzungen für die Formulierung angemessener Lösungsoptionen. Optimaler Weise gelingt es in einem ersten Schritt, den Blick der Parteien zu verändern, und zwar so, dass sie bei der Lösungssuche nicht mehr einen begrenzten Kuchen sehen, der irgendwie verteilt werden muss, sondern die Möglichkeit, gemeinsam einen größeren und wertvolleren Kuchen backen zu können. In einem zweiten Schritt geht es dann um die „Evaluierung der Lösungsoptionen“ durch deren Begründung, Abgleich mit der Realität und Rückbezug auf die Interessen beider Parteien, es geht um deren Verhandlung und Konkretisierung.
Diskussion
Mediation ist auf der Ebene grundlegender Prämissen zunächst Mediation, bei genauerem Hinsehen differenziert sich das Feld. Gary Friedman und Jack Himmelstein laden die Leser ein, ihre Überzeugung und Strategie der „verstehensbasierten Mediation“ zu durchdenken. Sie tun das sehr differenziert. Und sie tun das sehr abwechslungsreich, woran die zehn Fallbeispiele, die quer durch das Buch der Erläuterung und Konkretisierung der jeweils behandelten Themen dienen, maßgeblichen Anteil haben. Geradezu lebendig wird das Ganze dadurch, dass große Gesprächsteile dieser Praxisbeispiele wörtlich wiedergegeben werden, wodurch der Eindruck entsteht, Meistern des Faches direkt und „live“ über die Schultern zu schauen.
Friedman und Himmelstein sind spürbar Überzeugungstäter, authentisch bis ins Mark. Sie folgen ihrem „Spirit of Mediation“ und das merkt der Leser, der Funke springt über. Sie sind davon überzeugt, dass ohne tiefgehendes Verstehen der eigenen und der gegnerischen Motive keine wirkliche Lösung des Konflikts möglich ist. Dabei hat dieses „Verstehen“ für sie grundsätzlich auch einen transformativen Eigenwert jenseits einer konkreten Konfliktbeilegung. Friedman und Himmelstein akzeptieren zwar, dass es nicht immer eine Lösung in ihrem Sinne gibt, aber sie sind bezogen auf dieses zentrale gegenseitige Verstehen tendenziell kompromisslos: verhandelt wird immer gemeinsam und gleichzeitig mit allen Parteien, auch wenn es unangenehm ist. Darin unterscheidet sich ihr Weg gegebenenfalls von anderen Strategien, die sich mit weniger Verstehen zufrieden geben und schneller in eine sogenannte Interessenarbeit einsteigen – das sicher mit der Gefahr, im Zweifel eher zu managen als zu lösen.
Einen besonderen Raum und Stellenwert im Buch bekommt das Recht. Die beiden Autoren anerkennen dessen potentiell ubiquitäre Existenz in Streitigkeiten und sie möchten aus diesem Grund mit ihm kooperieren. Es ist definitiv erhellend, wie es den Mediatoren in den Praxisbeispielen immer wieder gelingt, dieses Recht, also die häufig anwesenden Anwälte, für eine Kooperation in ihrem Sinn zu gewinnen.
Fazit
Das preisgekrönte Grundlagenbuch (CPR Book of the Year Award 2008) ist das Resultat von Erlebnissen, Überlegungen und Entwicklungen aus über 30 Jahren Mediationserfahrung. Es stellt umfassend, sehr angenehm und über weite Strecken spannend zu lesen, die „verstehensbasierte Mediation“ vor. Einen hohen Wert haben dabei die Praxisfälle, hier insbesondere auch die Gesprächsmitschriften, die zeigen, wie und mit welcher Routine Mediatoren Gespräche leiten könn(t)en. Das ist best practice! Und genau hier liegt nach Ansicht des Rezensenten der große Wert auch für erfahrene Praktiker: man kann sich gut im Spiegel des Gelesenen hinterfragen und dadurch lernen.
Da die Haltung der „verstehensbasierten Mediation“ andererseits gerade auch in Deutschland weit verbreitet ist, wofür Friedman und Himmelstein ja maßgeblich verantwortlich sind, kommt den erfahreneren Mediatorinnen und Mediatoren rein fachlich doch vieles bekannt vor – trotzdem lohnt sich die Lektüre definitiv auch für sie. Seinen ganz besonderen Wert entwickelt „Konflikte fordern uns heraus“ (Original: challenging conflict – mediation through understanding, 2008) aber sicher für Mediatorinnen und Mediatoren am Beginn ihrer Profession. Und daneben sei erwähnt, dass auch andere, professionsfernere interessierte Menschen einen hohen Nutzen haben werden.
Rezension von
Dipl. Päd. Martin Zauner
Dipl.Päd.(univ), Dipl.Sozialpäd.(FH), Mediator (BM), AkadOR an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg (Lehrgebiete: Gruppenarbeit, Teamführung /-entwicklung, Mediation, Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Schulsozialarbeit)
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Zitiervorschlag
Martin Zauner. Rezension vom 09.03.2015 zu:
Gary J. Friedman, Jack Himmelstein: Konflikte fordern uns heraus. Mediation als Brücke zur Verständigung. Wolfgang Metzner Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2013.
ISBN 978-3-943951-08-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17366.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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