Burkhard Müller: Professionell helfen
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 08.08.2014

Burkhard Müller: Professionell helfen. Was das ist und wie man das lernt : die Aktualität einer vergessenen Tradition sozialer Arbeit. Klaus Münstermann Verlag (Ibbenbüren) 2012. 192 Seiten. ISBN 978-3-943084-09-2. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR, CH: 27,50 sFr.
Thema
In seinem erst posthum erschienen neue praxis-Artikel, der auf dem hier betrachteten Buch basiert, erklärte der an der Frage der Professionalität Sozialer Arbeit interessierte Autor: „wie aber professionelle Qualität im Umgang mit Klienten und die Qualität des Organisierens der Bedingungen dafür ineinander verzahnt sind, scheint mir weiter klärungsbedürftig“ (Müller, 2013, 246). Dafür lohne sich der Blick auf eine weitgehend vergessene Tradition Sozialer Arbeit: „Von Theorietradition im Sinne einer ‚großen‘ oder ‚klassischen‘ Fragestellung der Sozialpädagogik spreche ich deshalb, weil Taft und Robinson m. E. die Ersten waren, welche den systematischen Versuch unternahmen, die Qualität der sozialpädagogischen Arbeitsbeziehungen zu Klienten und die Qualität der Herstellung geeigneter Organisationsstrukturen sozialpädagogischen Handelns als unmittelbare Wechselwirkung und deren kompetente Gestaltung als Kern sozialpädagogischer Professionalität begreifen.“ (S. 23-24)
Autor
Burkhard Müller, Jahrgang 1939, war nach dem Abschluss des Studiums der Evangelischen Theologie (zuletzt in Tübingen) zunächst im kirchlichen Dienst und in der Erwachsenenbildung tätig; 1971 promovierte er zum Dr. theol. in Zürich. Danach studiert er Sozialpädagogik in Tübingen, wo Hans Thiersch seit 1970 Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik war. An dessen Institut war 1974 – 1982 Wissenschaftlicher Assistent, 1982 wurde er dort in Erziehungs- und Sozialwissenschaften habilitiert und 1983 auf eine Professorenstelle am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim berufen, wo er bis zu seinem überraschenden Tod 2013 nach seiner Entpflichtung als Professor noch als Lehrbeauftragter tätig war. In gleicher Funktion war er bis zuletzt an der International Psychoanalytical University Berlin aktiv.
Entstehungshintergrund
Mit deren Gründungspräsident Jürgen Körner, früher Professor für Sozialpädagogik an der FU Berlin, verband ihn das Interesse an einer Psychoanalytischen Pädagogik. Das ist der eine Forschungsschwerpunkt Müllers, der sich im vorliegendem Buch Geltung verschafft; der zweite galt der Professionalisierung sozialpädagogischen Handelns. Sein Interesse an der Functional School des US-amerikanischen Casework, seinen Begründerinnen Jessie Taft und Virginia Robinson sowie deren psychologischem Inspirator Otto Rank (vgl. Heekerens & Ohling, 1985; Liebermann, 2014; Ohling & Heekerens, 2004) lässt sich bis in die späten neunziger Jahre zurückverfolgen (vgl. Müller, 1998).
Aufbau und Inhalt
Das Buch beinhaltet zwischen einem zweiseitigen Inhaltsverzeichnis und (nur) fünf Seiten Literatur fünf Textblöcke, von denen vier als Teile nummeriert sind und der erste faktisch die Einleitung darstellt, wenngleich nur die erste Partie dieses Eingangsblocks diese Bezeichnung trägt. Die vier nummerierten Teile beinhalten, nach Themen geordnet, jeweils zwei unterschiedlichen Textsorten. Da sind zum einen Übersetzungen (mitunter auszugsweise) von Schriften Tafts, Robinsons und anderer Vertreter(innen) der Functional School und zum anderen Aufsätze des Autors, die speziell für den jeweiligen Kontext des vorliegenden Buches verfasst wurden oder aber Überarbeitungen bereits publizierter Texte darstellen.
Der Einleitungsblock (23 Seiten) hat folgende vier Abschnitte:
- 0.0 Einleitung: Warum der „normative Kern“ Sozialer Arbeit unbestimmt bleibt
- 0.1 Über Selbsthilfe, Doppelmandat und Dienstleistung als Versuche, Hilfe zu präzisieren
- 0.2 Soziale Arbeit als Herstellung von Arbeitsbündnissen und als Daseinsvorsorge. Grenzen dieser Begriffe
- 0.3 Fallarbeit als Gestaltung eines Dazwischen: Helfende Beziehung und die Idee einer relationalen Professionalität
- 0.4 Zu Aufbau und Gliederung dieses Buches.
In den ersten drei Abschnitten, der vierte bietet eine knappe Inhaltsangabe, eröffnet uns der Autor einen Verstehenshorizont, der die damals und dort entstandenen Arbeiten der Functional School als für den der Diskurs der Sozialen Arbeit hier und heute bedeutsam erscheinen lassen.
Teil 1 Prozess und Funktion professionellen Handelns in der Bearbeitung sozialpädagogischer Fälle (32 Seiten) beinhaltet zwei Texte:
- 1.1 Jessie Taft (1937): Die Beziehung von Funktion und Prozess im Social Casework
- 1.2 Burkhard Müller: Beziehungsarbeit und Organisation. Ein Interpretationsversuch zur Theorie des sogenannten „Functional Social Work“.
Der Autor betrachtet den vorliegenden Grundsatztext der Functional School, dessen Grundintention getreu, unter der Perspektive, was er zur Professionalisierung der heutigen und hiesigen Sozialen Arbeit und deren Identitätsbildung, etwa als eine sich von Psychotherapie unterscheidende Profession, beizutragen hat.
Teil 2 Fremdplatzierung von Kindern als professionelle Tätigkeit (48 Seiten Seiten) enthält vier Beiträge der Functional School:
- 2.2 Jessie Taft (1939): Soziale Fallarbeit mit Kindern: Einleitung
- 2.3 Jessie Taft (1940): Pflegeheimbetreuung für Kinder
- 2.4 Marian R. Gennaria (1939): Dem Kleinkind helfen, sich an der Fremdplatzierung zu beteiligen (Auszug)
- 2.5 Julian Hanlon (1939): Die Fremdplatzierungs-Situation als bestimmender Faktor der kontinuierlichen Arbeit mit Pflegekindern (Auszug)
Denen voran steht Müllers einführender Kommentar:
- 2.1 Können und müssen schon kleine Pflegekinder am Prozess ihrer Unterbringung beteiligt werden?
Dort erklärt er Sinn und Bedeutung der nachfolgenden Texte, die ihren bleibenden Wert in zumindest Zweierlei haben. Taft exemplifiziert hier, was unter „Funktion“ i. S. der Functional School zu verstehen sei. In Müllers Worten: „Gemeint ist also weder der bloß formale (z. B. gesetzliche) Auftrag einer Einrichtung, noch die individuellen Aufgaben, die Sozialarbeiter darin erfüllen, sondern die professionell gestaltete Verbindung von beidem.“ (S. 71) Und zu den beiden anderen Aufsätzen merkt er an: „Wer immer noch befürchtet, der Rahmen setzende Vorrang der Funktion sozialer Einrichtungen vor der fachlichen Autonomie der einzelnen Sozialarbeiter laufe auf eine unangemessene Fremdbestimmung hinaus, sollte die praktischen Konsequenzen dieses Ansatzes in den folgenden beiden Fallstudien ansehen.“ (S. 71)
Teil 3 Sozialpädagogische Professionalität als Ausbildungsproblem: Der Beitrag Virginia Robinsons (41 Seiten) enthält Müllers
- 3.1 Einleitung zu den drei nachfolgenden Texten:
- 3.2 Virginia Robinson (1941): Die Bedeutung von Können (The Meaning of Skill) (Auszug)
- 3.3 Virginia Robinson (1936): Supervision für Soziale Fallarbeit (Auszug)
- 3.4 Fallgeschichten aus Teil zwei von „Supervision im Sozialen Casework: Der Lernprozess in der Supervison“
Im ersten dieser Texte definiert Robinson allgemein „Können … als die Fähigkeit, einen Prozess der Änderung in spezifischem Material so in Gang zu setzen und zu kontrollieren, dass die Änderung, die an dem Material geschieht, unter höchstmöglicher Berücksichtigung und Nutzung der Qualität und Fähigkeiten des Materials vor sich geht“ (S. 121). Im zweiten positioniert sie sich mit den Sätzen: „Professionelle Ausbildung für Soziales Casework erfordert eine dreifache Ausstattung: 1. Wissen, das die professionelle Schule in ihrem Studium bereitstellt, 2. Können, das in den Erfahrungen der Praktika gelernt wird und 3. den kontrollierten Gebrauch der Fähigkeit, sich selbst und die eigene Dienstleistung an Menschen in Notlagen zu vermitteln.“ (S. 125) Im Original ist die Rede von „the controlled use of the capacity to relate oneself and one´s service to people in need“. Angesprochen wird hier, den Selbst-Konzepten Ranks und George Herbert Meads folgend, die notwendige Entwicklung eines „Professionellen Selbst“.
Welch hohen Stellenwert ein solches „Professionelle Selbst“ damals unter Rank-Schüler(inne)n und Anhänger(inne)n der Functional School einnahm, veranschaulicht ein Satz aus dem 1934 vorgelegten Bericht über das Training in Psychiatrischer Sozialarbeit am New Yorker Institute for Child Guidance in den Jahren 1927 – 1933: „It is in this direction, then, that the essential art of training lies, and while we should not wish to minimize the value of accumulated knowledge and development of skills, it is only through our own wish to grow and mature that we can achieve the fundamental strength and perspective which may serve to stimulate in others the wish to develop a creative fulfilment in their own terms.“ (Swift, 1934, S. 11; Herv. H.-P. H.)
Im Schlussabschnitt
- 3.5 Professionelle Haltung und „Professionelles Selbst“ als Ausbildungsziele
geht der Autor der Frage nach, ob der für eine Professionalisierung und Professionalität Sozialer Arbeit unabdingbare professionelle Habitus (so seine Übersetzung des Robinsonschen „Professionellen Selbst“) unter den heutigen Hochschulbedingungen (in Deutschland, Österreich und der Schweiz) ausgebildet werden kann – und ob dies überhaupt wünschenswert sei oder wäre. Unter den von der Social School aufgeworfenen Fragen an und für die Soziale Arbeit von hier und heute scheint mir diese die aktuellste zu sein - und dringlichste.
In Teil 4 Professionalität und der Umgang mit Zeit (26 Seiten) findet sich zunächst der Artikel
- 4.1 Jessie Taft (1933): Das Element Zeit in der Therapie,
in dem die von Rank ins Spiel gebrachte Idee einer willentlichen und bewussten Begrenzung einer „Hilfe“ – Leistung zum einen benutzt wird, den Unterschied zwischen (Psycho-)Therapie und Sozialarbeit herauszuarbeiten, und zum anderen den „richtigen“ Umgang mit Zeit als Ausweis von Professionalität darzustellen.
Müller vertieft in
- 4.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von (psycho-)therapeutischer und sozialpädagogischer Arbeit in ihrem Gebrauch von Zeit
die aufgeworfenen Fragen, um danach in
- 4.3 Wo bleibt die politische Dimension der Sozialen Arbeit?
eine den Rahmen des 4. Buchteils sprengende, sachlich als ergänzende Schlussbemerkung zum Ansatz der Functional School aufzufassende (Grundsatz-)Frage zu erörtern.
Diskussion
Müllers Leistung ist eine doppelte und in beiden Fällen eine große. Zum einen hat er Texte zugänglich gemacht, die nur in wenigen deutschen Bibliotheken und auch dort nur vor Ort (etwa im Lesesaal) einsehbar sind und die ansonsten für europäische Leser(innen) nur über Antiquitariatseinkauf aus (hauptsächlich) den USA zu besorgen sind – gegen hohe Kosten (die größtenteils auf die Frachtkosten entfallen). Zum anderen hat er durch seine eigenen Beiträge in Form von Einführungen und begleitenden Aufsätzen diese Texte, ihren Sinn und ihre Bedeutung, erschlossen, sie also nicht nur unserem Auge zugänglich gemacht, sondern unserem Verständnis geöffnet. Darin besteht der große Vorteil dieses Buches gegenüber dem zeitgleich erschienen Buch von Karl Fallend (2012) „Caroline Newton, Jessie Taft, Virginia Robinson: Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse und Sozialarbeit“, das eine solche Verständnis(er)öffnung nach meiner Beurteilung gerade eben nicht bietet.
Zu zwei Punkten oder Aspekten des Buches habe ich kritische Anmerkungen zu machen. Der erste betrifft den Sprachgebrauch hinsichtlich der Disziplinen bzw. Professionen „Sozialpädagogik“, „Sozialarbeit“ (social work, case work) und „Soziale Arbeit“. Der Buchtitel spricht von „Sozialer Arbeit“, benutzt also dieses neudeutsche Wort, mit dessen Hilfe sowohl die unterschiedlichen Traditionslinien von Sozialpädagogik und Sozialarbeit miteinander verflochten als auch Brücken und Stege geschlagen werden sollen zwischen den Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit an Universitäten einer- und (Fach-)Hochschulen andererseits. Manchmal schlägt beim Autor im Sprachgebrauch der Vertreter der deutschen Universitäts-Sozialpädagogik allerdings so sehr durch, dass die Darstellung einseitig bis falsch wird.
Nehmen wir beispielhaft die oben referierte Passage, in der Müller seinen Rückblick auf die Functional School des US-amerikanischen Casework begründet: „Von Theorietradition im Sinne einer ‚großen‘ oder ‚klassischen‘ Fragestellung der Sozialpädagogik spreche ich deshalb, weil Taft und Robinson m. E. die Ersten waren, welche den systematischen Versuch unternahmen, die Qualität der sozialpädagogischen Arbeitsbeziehungen zu Klienten und die Qualität der Herstellung geeigneter Organisationsstrukturen sozialpädagogischen Handelns als unmittelbare Wechselwirkung und deren kompetente Gestaltung als Kern sozialpädagogischer Professionalität begreifen.“ (S. 23-24; Herv. H.-P. H.) Dass die o.g. Fragestellung auch eine der Sozialarbeit ist, ja erstmals als Fragestellung des (US-amerikanischen) Social Work aufgeworfen wurde, hätte man doch durch Verwendung des Begriffs „Soziale Arbeit“ deutlich machen können. Und es gibt auch sprachliche Möglichkeiten, dem Missverständnis zu wehren, das sich historisch nicht sattelfesten Leser(inne)n aufdrängen muss: Taft und Rank, die in der Ausbildung von Sozialarbeiter(innne)n tätig waren, hätten Sozialpädagog(inn)en ausgebildet. Das, was Sozialpädagogik von Sozialarbeit unterscheidet und seinen Eigenwert ausmacht, wird erst seit kurzer Zeit von nordeuropäischen und angelsächsischen Ländern, die nur eine Sozialarbeitstradition haben, als deutscher Exportartikel importiert.
Der zweite Kritikpunkt betrifft ebenfalls eine Sprachregelung: Der Autor spricht bei der Betrachtung der US-amerikanischen Sozialarbeit der Zwischenkriegszeit von „Psychoanalyse“ und „psychoanalytisch“, wo mit diesen Begriffen keineswegs Theorie und Praxis des Freud-konformen US-amerikanischen Mainstreams gemeint sind. In folgender Passage etwa: „Ich referiere das zum einen, weil ein solches Verständnis der ‚helfenden Beziehung‘ im Zuge der Ausbreitung einer angewandten Psychoanalyse schon ab den 1930er Jahren der dominierende Trend einer Professionalisierung Sozialer Arbeit in den USA war, mit dem sich Taft und Robinson kritisch auseinander setzen. Zum andern aber, weil mit dieser psychoanalytischen Orientierung immerhin ein Versuch vorlag, die von Salomon sogenannten Probleme des ‚Führens‘ … als professionell gestaltbare Hilfe zur Selbsthilfe zu begreifen.“ (S. 22; Herv. H.-P.- H.) Die „helfende Beziehung“ beruht auf keiner Freudschen Erfindung, sondern auf einer, die Rank zusammen mit seinem langjährigen Weg- und Denkgenossen Sándor Ferenczi (vgl. Heekerens, 2014), beide gemeinsam von der Freudschen Orthodoxie bis in die 1980er verdammt (vgl. Heekerens, 2014; Heekerens & Ohling, 2005; Ohling & Heekerens, 2004), gegen Sigmund Freud entwickelt hat: als „‚Beziehungsmodell‘ der Therapie im Gegensatz zum ‚Interpretationsmodell‘“ (Falzeder, 1998, S. 41).
Die erste Darstellung der „helfenden Beziehung“, die dem deutschsprachigen Publikum dargeboten wurde, war der erste Beitrag (Gordon Hamilton „Die helfende Beziehung„; Original 1948) in Hertha Kraus´ „Casework in USA“ von 1950. Dort heißt es: „Achtung vor anderen, Annahme der anderen, wie sie sind und wie sie auf höchster Ebene sein könnten, formt zwischen Helfer und Klienten eine Beziehung, die nicht nur das Medium für eine erziehliche Beratung, sondern auch für einen Behandlungsprozeß ist. Ohne diese einzigartige Beziehung ist es unwahrscheinlich, dass ein Wandel stattfindet.“ (S. 51-52) Wenn man Hamiltons Ausführungen mit Augen betrachtet, die zuvor Texte von Rank, Robinson und Taft sowie Carl Rogers´ „Consulting and Psychotherapy“ (1942 von der University Press in Cambridge, MA herausgebracht) gelesen haben, dann wird die Entwicklungslinie der „helfenden Beziehung“ offenbar: „The thinking of Otto Rank, as it has been modified by such individuals like Taft, Allen, Robinson, and other workers into ‚relationship therapy‘, is one important point of origin.“ (Rogers, 1942, S. 27-28)
Meine Kritik geht dahin: Müller nährt mit Ausführungen wie den oben referierten bei den Vielen, für die „Psychoanalyse“ und “Freud“ in der Sache dasselbe sind, ein Missverständnis, das sich in der Sozialen Kultur so zäh hält, dass ihm in Lehrbüchern der Sozialen Arbeit bis heute gewehrt werden muss: „Es lag auf der Hand, dass die Gesprächsführung als tragende Säule handlungsorientierter sozialer Einzelhilfe Anleihen bei Sozialpsychologie und Kommunikationswissenschaft nahm. Häufig und zu Unrecht hat man dabei Sigmund Freud genannt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und vor allem in den USA, war der von S. Freud abgefallene Schüler Otto Rank und seine Psychologie des menschlichen Willens einflussreicher.“ (Galuske & Müller, 2012, S. 596-597)
Dass der Autor auch die nach dem Bruch mit Freud von Rank entwickelten Ideen zu Theorie und Praxis der Psychotherapie der Psychoanalyse zuschlägt, beruht nun aber nicht auf geschichtlicher Unkenntnis. Vielmehr handelt Müller sehr bewusst. Wenn man beteiligt ist am Projekt einer Psychoanalytischen Sozialpädagogik und wenn man den Ansatz der Functional School, in dem Ranks Ideen „aufgehoben“ sind, für diese reklamieren will, muss man auch den Rank der späteren Jahre zur „Psychoanalyse“ rechnen. Das hat der Autor schon immer getan. Es ist kein Zufall, dass sein erster Beitrag zur Thematik den Titel „Otto Rank als Psychoanalytiker nach seinem Bruch mit Freud…“ (Müller, 1998) trägt. Es gibt ein Rationale für Müllers Anschauungsweise: Tatsächlich, und dies wird seit den 1980ern auch vom psychoanalytischen Mainstream zunehmend mehr anerkannt, gab und gibt es in den Neuerungen der Psychoanalyse Vieles, in dem mehr Rank drin war und ist als drauf stand und steht.
Aber Rank einfach kommentarlos unter „Psychoanalyse“ zu führen, heißt, ihn ein zweites Mal dem Vergessen – diesmal durch Nivellieren – anheim zu geben und kann nur zu Unverständnis der damaligen Situation führen. Denn damals, und das bekamen Ranks Anhänger oft schmerzlich zu spüren (vgl. Liebermann, 2014), wurde der Unterschied zwischen Rank und der „wahren“ Psychoanalyse in aller Schärfe markiert. Zur Illustration ein Beispiel aus der Geschichte der Sozialen Arbeit. Federn (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Federn">http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Federn), der sich sowohl mit der US-amerikanischen Sozialarbeit wie mit der Geschichte der Psychoanalyse so gut auskannte, wie wenige andere im Nachkriegseuropa, schreibt in seinen Betrachtung der Jahre nach dem 2. Weltkrieg u.a.: „Sie (die USA; H.-P. H.) brachten alle möglichen Einrichtungen mit und darunter auch Social Casework. Die Sozialarbeiterin, die das in Europa vertrat, war Frau Marguerite Pohek… Ausgestattet mit der Autorität der Vereinten Nationen, der sie angehörte, kam sie nach Deutschland und nach Österreich. Sie war eine Rankianerin von der Philadelphia School of Social Work und brachte eine Sozialarbeit mit, die alles andere als psychoanalytisch war.“ (Federn, 1990, S. 17)
Fazit
Das vorliegende Buch ist unverzichtbar für jede(n), die/der wirklich verstehen will, was es mit der Functional School auf sich hat. Wie weitgehend unverstanden die Functional School bis heute ist, erfährt jede(r), die/der Ausführungen zu ihr in Darstellungen (zur Geschichte) der Sozialen Arbeit liest. Wenn hier von „(Un-)Verständnis“ gesprochen wird, ist immer ein Doppeltes gemeint: (Nicht) Verstehen, was der Ansatz der Functional School dort und damals, also ab den 1930ern in den USA, bedeutete, und (nicht) verstehen, welche für die Identität von Disziplin und Profession Sozialer Arbeit hier und heute bedeutsamen Fragen und Antworten aufgeworfen und entwickelt wurden. Wo in der Ausbildung in Sozialer Arbeit deren Geschichte auf dem (Lehr-)Plan steht, kann man mit vorliegendem Buch oder dem einen oder anderen Teil daraus sinnfällig demonstrieren, dass es zentrale Anliegen der Sozialen Arbeit gibt, die ihre Geschichte durchziehen, und vor Jahrzehnten Fragen aufgeworfen wurden, an deren Beantwortung die Soziale Arbeit noch immer zu arbeiten hat.
Ergänzende Literaturnachweise
- Fallend, K. (2012). Caroline Newton, Jessie Taft, Virginia Robinson: Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse und Sozialarbeit. (Schriftenreihe zur Geschichte der Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung Bd. 3). Wien: Löcker-Verlag.
- Falzeder, E. (1998). Freud, Ferenczi, Rank und der Stammbaum der Psychoanalyse. In Janus, L. (Hrsg.), Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse. psychosozial, 21(3), 39-51.
- Federn, E. (1990). Geschichtliche Bemerkungen zum Thema Psychoanalyse und Sozialarbeit. In C. Büttner, U. Finger-Trescher & M. Scherpner (Hrsg.), Psychoanalyse und soziale Arbeit (S. 11-19). Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag.
- Galuske, M. & Müller, C.W.(2002). Handlungsformen in der Sozialen Arbeit. In W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch (4. Aufl., S. 587-610). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Heekerens, H.-P. (2014). Rezension vom 08.08.2014 zu Fallend, K. (2012). Caroline Newton, Jessie Taft, Virginia Robinson: Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse und Sozialarbeit. (Schriftenreihe zur Geschichte der Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung Bd. 3). Wien: Löcker-Verlag. (www.socialnet.de/rezensionen/16977.php)
- Heekerens, H.-P. (2014). Rezension vom 20.03.2014 zu Ferenczi, S. (2013). Das klinische Tagebuch. Gießen: Psychosozial-Verlag. Socialnet Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/16363.php).
- Heekerens, H.-P. & Ohling, M. (2005). Am Anfang war Otto Rank: 80 Jahre Experienzielle Therapie. Integrative Therapie, 31, 276-293 (kann als pdf-Datei vom Rezensenten angefordert werden).
- Liebermann, E. J. (2014). Otto Rank. Leben und Werk. Aus dem Amerikanischen von Anni Pott (Bibliothek der Psychoanalyse). Gießen: Psychosozial-Verlag (1. Aufl., 1997; engl. Original 1985).
- Müller, B. (1998). Otto Rank als Psychoanalytiker nach seinem Bruch mit Freud, die Anfänge der Objektbeziehungstheorie und D. W. Winnicott. In L. Janus (Hrsg.), Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse. psychosozial, 21(3), 143-156.
- Müller, B. (2013). Professionelle Handlungsungewissheit und professionelles Organisieren Sozialer Arbeit. neue praxis, 43, 246-262.
- Ohling, M. & Heekerens, H.-P. (2004). Otto Rank und die Soziale Arbeit. neue praxis, 34, 355-370 (kann als pdf-Datei vom Rezensenten angefordert werden).
- Swift, S. H. (1934). Training in psychiatric social work at the Institute for Child Guidance, 1927 – 1933. New York: The Commonwealth Fund.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
Website
Mailformular
Es gibt 176 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.
Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 14754
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 08.08.2014 zu:
Burkhard Müller: Professionell helfen. Was das ist und wie man das lernt : die Aktualität einer vergessenen Tradition sozialer Arbeit. Klaus Münstermann Verlag
(Ibbenbüren) 2012.
ISBN 978-3-943084-09-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17368.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.