Horst F. W. Stukenberg, Mouhamadou M. Sow (Hrsg.): Peter Anton von Arnim - ein biographisches Lesebuch
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 15.09.2014
Horst F. W. Stukenberg, Mouhamadou M. Sow (Hrsg.): Peter Anton von Arnim - ein biographisches Lesebuch. Erinnerungen an den Privatgelehrten, Islamwissenschaftler und Mensch. Roderer Verlag (Regensburg) 2014. 368 Seiten. ISBN 978-3-89783-791-1. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema und Aktualität
In diesem „biographischen Lesebuch“ gibt es etliche Beiträge (Briefe, Vorträge oder z.B. das Nachwort von Peter Anton von Arnim zu „Goethe und der Islam“, hrsg. von Katharina Mommsen), die von großer Aktualität und Relevanz sind, da sie ein gänzlich anderes Islambild – anders als gegenwärtig politisch-medial üblich – beinhalten, nämlich der Blick auf einen friedlichen, humanen und auf Versöhnung ausgerichteten Islam, wie ihn Goethe sah. Wer sonst, wenn nicht Goethe, könnte auf das Islambild im „Bürgerbewusstsein“ positiv einwirken? Wer etwas erfahren will über die Familiengeschichte des Adelsgeschlechtes „derer von Armin“, vor allem über die bekannten Dichter Bettina von Arnim (1785-1859; geb. Brentano) und Achim von Arnim (1781-1831) wird hier ebenfalls fündig. Außerdem schildern die – allerdings weit über 100 – Beiträge die beeindruckende, abwechslungsreiche, bewundernswerte, aber auch m. E. tragische und ambivalente Lebensgeschichte des Peter Anton von Arnim (1937- 2009).
Herausgeber und Entstehungshintergrund
In dem Quasi-Vorwort „Fünf Worte vorweg“ erfährt der Leser in Kürze, dass Mouhamadou Moustapha Sow 1971 im Senegal geboren ist, 1995 in Dakar im Senegal an der dortigen Universität als Student der Germanistik Peter Anton von Arnim (PAvA genannt) kennen gelernt hat und seitdem enge „ewige“ Freunde sind. „Heute ist er Stipendiat an der École Nationale d’ Administration von Straßburg, wo er für ein Jahr Diplomatie und International Relationship studiert“ (S. 6). Horst Stukenberg ist Erwachsenenbildner und promovierter Pädagoge und lebt und arbeitet freiberuflich in Bad Harzburg. Er lernte PAvA 1983 über das UNICEF- und Pfadfinder-Projekt „Wasser für den Sudan“ kennen und wurde später zu einem engen und vertrauten Freund der Familie von Arnim. Mit dem Buch wollen die Herausgeber „dazu beitragen, Peter Anton von Arnim noch einmal zu Wort kommen zu lassen und seiner zu gedenken“ (S. 7). Auf S. 157 erfährt man aus einem Brief von Horst Stukenberg an Abdoulaya (den Adoptivsohn von PAvA!), dass das Buch „PAvA zu Ehren“ herausgegeben werden und dem jüngeren Bruder Dr. Wolf Herman von Arnim zum 70. Geburtstag geschenkt werden soll.
Aufbau und Inhalt
Das „Lesebuch“ beinhaltet weit über 100 Einzelbeiträge in 5 Kapiteln zu „Die Familie von Arnim und Zernikow“ (Ort des Gutshofes und der Geburt von PAvA, S 8-66), „Zum Leben und Werden des Peter Anton von Arnim“ (S.67-115), „Moustapha über Peter Anton“ (S. 115-162), „Peter Anton von Arnim, Katharina Mommsen und der Islam“ (S. 163-248) und „Peter Anton und seine Islamforschung“ (S. 249-367) sowie eine Danksagung (S. 368) – eine Einleitung, Kapitelzusammenfassungen oder eine Art Ausblick oder Rückblick der Herausgeber mit Würdigung des Werkes, der Forschungen und des Menschen PAvA fehlen. Hier wird deutlich, dass das Buch keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, sondern eben ein „biographisches Lesebuch“ ist, dessen Inhalt eine relativ lose Ansammlung ganz unterschiedlicher Texte (Briefe, Presseartikel, Vortragmanuskripte, Aufsätze usw.) wiedergibt, die man auch anders systematisieren und überschreiben oder auch kommentieren könnte. Aber das war wohl nicht der Anspruch der Herausgeber, über deren Form der Kooperation und Absprachen über die Konzeptionalisierung des Lesebuchs man auch nichts erfährt.
Die einzelnen Beiträge im Lesebuch haben sehr unterschiedliche Längen. Die Bandbreite reicht von ein paar Zeilen bis zu mehrseitigen Briefen oder längeren forschungsorientierten „Anmerkungen“, Vortragsmanuskripten und wissenschaftlichen Abhandlungen (z.B. S. 323-339: „Was ist Antisemitismus und zu welchem Ende betreiben wir Antisemitismusforschung?“ oder „Juden und Judentum im Leben und Werk der Bettina von Arnim“, S. 340-350 oder der Vortrag „Bettina und der Berliner Magistrat“ von S. 285-302). Unterschiedlich sind auch die Inhalte, von rein privaten Familiengeschichten über persönlich gehaltene Briefe und Zeitungsmeldungen mit Interviews bis hin zu rein wissenschaftlich-akademischen Texten. Auch Mischformen von Wissenschaft und Familienforschung lassen sich finden, z.B. der Vortrag von PAvA zu „Der junge Achim von Arnim als Naturforscher und seine Beziehungen zu Alexander von Humboldt“ von 2002 (S. 27-39).
Erwähnenswert sind sicher die islamwissenschaftlichen Beiträge zu „Islam in Deutschland“ (Arbeitstitel 2007) oder „Die Pflanzenwelt im Koran“ sowie „Die Tierwelt im Koran“ (S. 264-277), weil sie ein vollkommen anderes Islam- und Koranbild liefern – leider fehlen hier wie auch sonst häufig die Quellenangaben. PAvA war ein „Privatgelehrter“, die äußerst seltene Gattung, wie ich es nennen will: Wissenschaftler ohne Studienabschluss. Studiert hat er Germanistik und Romanistik in Tübingen. Andere Typisierungen oder Zuschreibungen in den Texten lauten „Übersetzer“, „Schriftsteller“, „Islamwissenschaftler“, „Fotograph“ (während seiner 7 Jahre im Sudan), „Buchhändler“ (zwecks Broterwerb) und „Mensch“.
Interessant ist auch ein mehrseitiger Brief von PAvA an Katharina Mommsen zu „Goethes Farbenlehre“ aus dem Jahr 1991, wie überhaupt die Texte der jahrelangen Kommunikation zwischen diesen beiden beeindrucken. Nicht zuletzt entstand daraus die leicht modifizierte und gekürzte, aber auf den Islam fokussierte Wiederauflage des bekannten Werkes von Katharina Mommsen mit dem neuen Titel „Goethe und der Islam“ aus dem Jahr 2001 (ursprünglich „Goethe und die arabische Welt“ von 1988) und das Nachwort von PAvA zu „Goethe als Leitfigur eines deutschen Islam?“. In diesen Kontext passt auch der 10-seitige (!) Brief von PAvA von 1996, den die Herausgeber mit „War Goethe ein Muslim?“ überschrieben haben (S. 215-224). Katharina Mommsen hat dann auch ausführlich dem „unvergesslichen Freund zum Gedenken“ eine längere Würdigung verfasst (S. 188-192), in der vor allem die enge Freundschaft, der wissenschaftliche Gedankenaustausch über Goethe und den Islam/ Koran, die Relevanz einer „Fairness gegenüber dem Islam“ und „Goethe als Brückenbauer zwischen Orient und Okzident“ sowie PAvAs „phänomenale Sprachbegabung“ und Übersetzungskunst hervorgehoben werden. In dieser Würdigung von 2012 erfahren wir auch, dass die gemeinsame Schrift zu „Goethe und der Islam“ im Jahr 2008 in bosnischer Sprache und „jetzt auch ins Türkische, Russische und Chinesische übersetzt wird“ (S. 191).
Auf die weiteren Beiträge zu diesem Thema kann ich hier nicht eingehen. Ein Zitat aus „Faust II“ muss genügen, um die verschiedenen Texte von PAvA dazu wieder zu geben:
„Wer sich selbst und
andere kennt, wird auch hier erkennen:
Orient und
Okzident sind nicht mehr zu trennen“.
Ebenso gehe ich hier nicht auf eher persönlich gehaltenen Beiträge zum Thema „PAvA als Mensch“ ein, obwohl dies sicher ein Anliegen der Herausgeber war, auch und vor allem den „(Mit-)Menschen“, Menschenfreund, Humanisten und Förderer und den Afrikaliebhaber in Originaltexten zur Sprache kommen zu lassen und zu würdigen. Letzteres erfolgt beeindruckend in den Beiträgen (Briefen und Anmerkungen) vom Mit-Herausgeber Moustapha Sow (S. 115ff).
Diskussion und Fazit
Im Werbetext des Verlages steht – zu Recht: „Die Familie von Arnim ist aus der Weltliteratur nicht mehr fortzudenken. Peter Anton von Arnim … ist ebenfalls in der Welt der Literatur zu Hause, lebte als Fotograph und Menschenrechtler im Sudan. Seine Liebe zu Afrika führte ihn danach jahrelang in den Senegal, wo er unter einfachen Verhältnissen als Lehrer und Germanist wirkte“.
Das „biographische Lesebuch“ erinnert an einen vielseitig Begabten in Form von persönlichen Erinnerungen, über Begegnungen und in (Presse-)Artikeln, Redemanuskripten, Briefe von und an PAvA und beinhaltet Themen und Kontexte zu Goethe und dessen Verhältnis zum Islam, zu Goethes Farbenlehre, über die bekannten Vorfahren Bettina und Achim von Arnim und informiert vielfältig über die engen persönlichen und wissenschaftlichen Kontakte zur bekannten Germanistin Katharina Mommsen in Bezug auf die Goethe- und Islamforschung.
Wer an diesen Themen Interesse zeigt – ich wiederhole mich: vor allem an einem anderen Islambild bzw. das Bild Goethes vom Islam – der kann einzelne Beiträge im Buch mit Gewinn und Aha-Erlebnissen lesen. Allerdings fehlen bei etlichen Beiträgen die Quellenangaben wie auch kommentierende Angaben der Herausgeber zur Verortung und Einordnung der unterschiedlichen Artikel, so dass der Leser oftmals selbst aktiv werden muss, um seinen Wissensdurst zu löschen. So habe ich mir z.B. eine Art Zeittafel angefertigt, einen Stammbaum „derer von Arnim“ gebastelt sowie chronologisch-biographische Notizen zu PAvA gemacht. Das Internet bzw. Google war dabei hilfreich. Dies gehört aber m.E. zu den Aufgaben der Herausgeber, wenn das Buch über eine reine Text- und Lesesammlung hinausgehend auch andere, systematisierende und/ oder wissenschaftliche Ansprüche an die Wiedergabe einer Biographie eines bedeutenden Zeitgenossen erhebt. Ein würdigendes Resümee wäre sicher auch angemessen gewesen, aber ich vermute, die beiden Herausgeber sehen dies anders!?
Peter Anton von Armin, den seine Freunde nur PAvA nannten, war eine menschlich sehr sympathische, wissenschaftlich vielseitig kompetente wie auch widersprüchliche und tragische Persönlichkeit. Biographisch-persönliche Merkmale sind auch: „Eine eigene Familie gründete er nie“ (S. 110); einen Studienabschluss konnte er zum Leidwesen seiner adligen Verwandten nicht vorweisen; er war zwischenzeitlich „Mitglied im SDS“; „an Universitäten hat er … nie gelehrt“ (S. 111), bestenfalls als Lehrer und Studienberater. Darüber hinaus haben ihn schwere Erkrankungen, ein Schlaganfall, längere Krankenhausaufenthalte, mehrere OPs und dann ein Leben im Rollstuhl nie gänzlich verzweifeln lassen, obwohl er schon als junger Mensch Depressionen hatte und Sätze schrieb wie „Meine Droge ist das Fernsehen“; „ich fühlte mich schuldig an all dem Elend dieser Welt und beging einen Selbstmordversuch. Ich wurde nur in letzter Minute gerettet“ (S. 71) und „Warum bin ich am Leben, es sollte mich nicht geben!“ (vgl. die Reflexionen zum Thema „Ungeordnete, stichwortartige Assoziationen zu meinem Lebenslauf“ von 1997 (damals 60 Jahre alt) auf den Seiten 67-73). Mit Blick auf seine Krankheiten und Leiden, die ihn wieder zurück aus dem Senegal, wo er seinen Lebensabend im Freundeskreis verbringen wollte, ins Krankenhaus und in die Seniorenresidenz Gransee brachten, formuliert sein Bruder Wolf von Arnim rückblickend: „Er war zuletzt in einer verzweifelten ausweglosen Situation“ und „Der Tod war eine Erlösung“.
Da in dem Lesebuch eine von PAvA angefertigte sehr informative „Zeittafel – von 1785 … bis 1859“ über Bettina von Arnim vorliegt (S. 283-285) wäre es wohl auch in dessen Interesse gewesen, den Lesern zuliebe eine Zeittafel auch über ihn abzudrucken. Angaben über die Partner von Korrespondenzen fehlen ebenso wie ein Namensregister der vielen Kontaktpersonen von PAvA, die in den Texten vorkommen oder diese selbst verfasst haben. Meine Neugierde wurde in dieser Hinsicht nicht gestillt – und ich musste teilweise selbst aktiv-suchend Antworten auf meine Fragen finden.
Leider liefert das „biographische Lesebuch“ über die Zwischenjahre nach dem Studium (Beginn 1956 bis???) bis zur Auswanderung in den Sudan (1980-1987) wenig authentisch-biographische Informationen, so dass man sich schwer ein Gesamtbild über die Biographie und die Persönlichkeit machen kann. Wer das Lesebuch liest, in Auszügen oder umfassend, wird neugierig, stellt Fragen und will mehr über PAvA wissen. Hinweise und Analysen zu dieser Gesamtschau hätten die Herausgeber versuchen müssen, denn sie kannten PAvA besser und auch sehr intensiv – dies wäre ein notwendiger „Dienst am Leser“ gewesen.
Sein letzter Wunsch, seine letzten Jahre trotz schwerer Krankheit bei seinem Adoptivsohn im Senegal zu verbringen, war ihm auch nicht gegönnt. Nach sechs Wochen musste er krankheitsbedingt in die Seniorenwohnstätte am Gransee zurückkehren, wo er kurze Zeit später 2009 starb. Kurz zuvor starb seine Mutter Clara von Arnim und es wurde ihm der „Forschungspreis der Von-Arnim-Gesellschaf“ verliehen. Über diese Anlässe informieren die beiden letzten Beiträge (Zeitungsberichte) im Lesebuch.
Zuletzt sei würdigend erwähnt, da es von mir im „biographischen Lesebuch“ nicht gefunden wurde und in die weiße bzw. offen gelassene Phase seiner Biographie (ca 1960 – 1980) gehört, aber worüber des Internet (Google und amazon) informiert: PAvA war der Ko-Übersetzer des Buches „Soziologie nach Marx“ (1972) von Henri Lefebvre! Alle Achtung für einen Studienabbrecher!
Literatur
- Mommsen, Katharina und Peter Anton von Arnim (2001): Goethe und der Islam. Insel Taschenbuch – mit einem Nachwort „Goethe als Leitfigur eines deutschen Islam“ von Peter Anton von Arnim
- Von Arnim, Clara und Peter Anton von Arnim (2002): Erinnerungen einer märkischen Gutsfrau. Droemer Knaur Verlag
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
Mailformular
Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.
Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 15.09.2014 zu:
Horst F. W. Stukenberg, Mouhamadou M. Sow (Hrsg.): Peter Anton von Arnim - ein biographisches Lesebuch. Erinnerungen an den Privatgelehrten, Islamwissenschaftler und Mensch. Roderer Verlag
(Regensburg) 2014.
ISBN 978-3-89783-791-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17378.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.